Textatelier
BLOG vom: 02.07.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (9)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Ich überlegte mir, was ich an seiner Stelle getan hätte. Es war nicht nur der juristische Aspekt, der eine Rolle spielte. Möglicherweise wäre die Hilfestellung strafbar gewesen. Der Onkel hatte sich aber genau erkundigt und kannte das Gesetz: „Die Selbsttötung – also auch der Versuch und die Beihilfe oder Anstiftung dazu – ist dagegen als Ausdruck der Selbstbestimmung straffrei. Nach einer Formel liegt Selbsttötung vor, wenn der Lebensmüde die tödliche Handlung selbst beherrscht und damit eine eigene Entscheidung verwirklicht.“
 
Der Schreiber der „Lebensbeichte“ konnte davon ausgehen, dass er nicht behelligt werden würde. Also der juristische Aspekt war es nicht, eher der moralische. Darf man einen Lebensmüden darin unterstützen, sein Leben zu beenden? Ist das Leben nicht heilig? Hat nicht jeder Mensch das Recht dazu, mit ihm umzugehen, wie er möchte?
 
Die Kirche verneint dieses Recht natürlich. Aber der Schreiber hatte nichts mit Religion zu schaffen. Also blieb noch die ethische Frage. Wäre es eine moralische Pflicht gewesen, den Suizidwünschen zu widersprechen?
 
Vor dem Blatt 12, das ich gespannt in die Hand nahm, war wieder ein Hinweis auf ein Zitat aus Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“. Ich suchte ihn auf und fand die folgende unterstrichene Stelle:
 
„Jeder anständige Mensch unserer Zeit ist ein Feigling, oder ein Sklave und muss es sein. Das ist sein normaler Zustand. Davon bin ich tief überzeugt. So ist er beschaffen und dafür ist er beschaffen. Und nicht nur in der Gegenwart, nicht nur infolge irgendwelcher zufälligen Umstände, sondern überhaupt zu allen Zeit muss ein anständiger Mensch ein Feigling und Sklave sein.“
 
Ich fragte mich, was dieser Hinweis bedeutete. War der Schreiber der „Lebensbeichte“ ein anständiger Mensch? War er ein Feigling oder ein Sklave? Und wenn ja, war er zu feige, „nein“ zu dem Ansinnen des Onkels zu sagen oder zu feige, die Bitte abzulehnen? Ich las weiter in den Blättern.
 
„Man wollte den letzten Abend des Onkels im engsten Familienkreis begehen und verabschiedete mich sehr freundlich. Nachdenklich lief ich den Weg von der Wohnung zu meinem Zelt. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf: Was ging mich diese Familie an? Was mache ich hier eigentlich? Und wenn ich jetzt einfach abreiste? ‒ Nein, das ging jetzt nicht mehr. Ich bin schon zu sehr in die Sache verstrickt. Wenn mir so etwas passieren würde, wäre ich auch froh, wenn ich jemanden um Unterstützung bitten würde. Was erwartet man eigentlich von mir? Ich sollte nicht mehr als den Trank reichen, so wie man Sokrates den Schierlingsbecher gereicht hatte. Was war schon dabei? Ich wäre in einen Fall von Selbsttötung verstrickt. Hat nicht jeder Mensch das Recht, sein Leben zu beenden, wenn er das möchte? Davon war ich überzeugt und bin es auch heute noch. Ich konnte nicht wählen, ob ich auf die Welt kommen wollte oder nicht, aber ich kann wählen, ob ich sie früher wieder verlassen möchte. Diese Wahl nehmen Tausende jedes Jahr in Anspruch. Das haben sogar die Engländer begriffen, die den Paragraphen, nach dem ein Selbsttötungsversuch strafbar war, abgeschafft haben.
 
Ich legte mich in mein Zelt und nahm mir die juristischen Blätter vor, die der Onkel mir ans Herz gelegt hatte, durchzulesen. Ein Begriff, von dem ich nicht angenommen hätte, dass er mir meinen Seelenfrieden bringen würde, beruhigte mich:
 
Die ‚Tatherrschaft über die Gefährdungshandlung’. Liege sie nicht bei mir, hätte ich nichts zu befürchten. Sie würde nicht bei mir liegen. Ob der Onkel das Gift in sich aufsaugt oder nicht, liegt einzig und allein in seinem Ermessen und seiner Entscheidung. Meine Aufgabe war es nur, ihm die Möglichkeit dazu zu verschaffen.
 
Vergleichbar, wie wenn ich ein Seil kaufen würde. Ob sich jemand damit aufhängt oder nicht, hätte ich zwar wissen können, aber das steht nicht in meiner Macht.
 
Es blieb nur noch der moralische Aspekt. Ich könnte theoretisch den Onkel davon überzeugen, dass es auch Möglichkeiten gäbe, als Querschnittsgelähmter ein erfülltes Leben zu leben. Beispiele in der Geschichte der Erfinder und Künstler gibt es. Aber – die Tat ist seit langer Zeit geplant, die Beurteilung seiner Lage von ihm selbst ist unumstösslich. Ich würde nichts ausrichten; ich bin ein Fremder, nichts weiter.
 
Würde ich damit fertig werden, jemanden die Möglichkeit verschafft zu haben, sich aus dem Leben wegzustehlen? In diesem Moment war ich davon überzeugt. Ich würde die Hilfestellung als Teil meiner Lebenserfahrung verbuchen. Und ich werde nie vergessen, dass es immer einen Ausstieg aus dem Leben gibt, wenn es nicht mehr lebenswert erscheint.
 
Jetzt zu kneifen, würde meine Anständigkeit in Frage stellen. Ich war zwar ein Feigling, aber ich wollte die Aufgabe, die das Schicksal mir gestellt hatte, erfüllen.
 
Ich hatte mir am Tag vorher eine Flasche Wein gekauft und trank sie halb leer. Dann schlief ich ein. Ein Schlaf, ganz tief und fest.
 
Am nächsten Morgen wachte ich auf. Es regnete. Ich zog mich an und lief zu einer nahegelegenen Bäckerei und frühstückte. Es war ein armseliges Frühstück, ein Brötchen, eine Scheibe Brot, Marmelade, eine Scheibe Schinken und eine Tasse Kaffee. Ich dachte daran, dass ich am nächsten Morgen mit Elisabeth auf der Insel Mainau fürstlicher essen würde, nach einer Liebesnacht, die ich ersehnte.
 
Es hörte auf zu regnen, und ich machte einen Spaziergang in die Stadt. Ich geriet in die Niederburg, wie der älteste Stadtteil von Konstanz mit imposanten reich verzierten Patrizierhäusern und wunderschönen Fachwerkhäusern genannt wird. Konstanz war und ist keine arme Stadt. An der Stephanskirche ging ich vorbei. Im Süden steht das Schnetztor, ein Stadttor, unweit der Grenze zur Schweiz.
 
Überall gab es Rückblicke auf das Wirken der Christen. Hier in Konstanz hatte ein Konzil stattgefunden, hier wurde der Reformator Jan Hus verbrannt. Man war mit Andersgläubigen ebenso grausam umgegangen wie mit Mördern, ganz in der Nähe des Tores wurde im Mittelalter ein Mörder lebendig in einem Teil der Stadtmauer eingemauert.
 
Leben und Tod, das waren immer die 2 Angelpunkte, an denen alles hängt. Wie einfach es doch ist, Leben zu zeugen. Wie schwierig wird es jemandem gemacht, sein eigenes Leben zu beenden. Obwohl es täglich millionenfach passiert, bei Mensch, Tier und Pflanze. Nur die Herrschenden meinen, darüber bestimmen zu können, denn das menschliche Leben sei doch nicht mit den anderen Lebensformen zu vergleichen, die wahllos vernichtet werden können. So haben sie es in Gesetzen und Schriften festgelegt. Der Mensch als Krone der Schöpfung? Ich musste unwillkürlich lachen. Der Mensch ist ein armseliges Produkt aus der evolutionären Entwicklung, der gelernt hat, über sich selbst nachzudenken. Nichts weiter.
 
Ich ging in ein Restaurant und bestellte das Tagesmenu. Heute schmeckte es mir nicht. Ich trank ein Glas Wein. Dann ging ich zurück zum Campingplatz.
 
Dort baute ich mein kleines Zelt ab und packte meinen Rucksack. Dann meldete ich mich beim Pförtner ab. Ich würde nicht wieder hierhin zurückkommen.
 
Ich hatte noch Zeit und nahm mir ein Boot. Ich erinnerte mich an eine Szene, in der Jean Jacques Rousseau sich in träumerischer Verfassung ebenso wie ich jetzt in ein kleines Boot legt und sich treiben lässt, stundenlang. Er träumt sich aus der Welt hinaus. Dort entdeckt er die Seligkeit des modernen Menschen. Unbelastbarkeit, Unerreichbarkeit, Unverantwortlichkeit. Dann kehrt er wieder in die Realität zurück.
 
Ich lag in meinem auf den leichten Wellen schaukelndem Boot und schaute in den blauen Himmel. Eine Wolke, aus der man sich einen Menschen, in einem Bett liegend erträumen konnte, verblasste langsam und verschwand dann völlig. Als hätte es sie nie gegeben. Für einen Moment erkannte ich, wie egal mir das alles war. Es würde mich nicht übermässig belasten, da war ich mir sicher.
 
Meine Entscheidung stand fest. Ich würde den Wunsch des Onkels erfüllen. Ich war kein Feigling, ich war ein anständiger Mensch. Vielleicht auch ein Gehilfe des Teufels, den es nicht gibt.
 
Fortsetzung folgt.
 
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