Textatelier
BLOG vom: 16.07.2014

Fussball-WM 14 (2): Weltmeister, Baldrian und „Blitzkrieg“

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Das hat es seit 24 Jahren nicht mehr gegeben: Deutschlands Nationalmannschaft wurde in Brasilien Fussball-Weltmeister. Der Sieg im Finale gegen Argentinien im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro war hart umkämpft und verdient. Erst in der Verlängerung erzielte Mario Götze das vielumjubelte Tor zum 1:0. Zum Glück kam es nicht zum Elfmeterschiessen.
 
Deutschland profitierte von der Talentförderung, die im Jahre 2000 begonnen hatte; dies haben die Engländer, Italiener und Spanier nicht so praktiziert und sind frühzeitig ausgeschieden. Etliche Jahre spielte die Nati einen frischen und attraktiven Fussball, aber kein Titel war bei Europa- und Weltmeisterschaften in Sicht. In Brasilien war es anders. Begeisternd waren die Spiele gegen Portugal (4:0) und gegen Brasilien (7:1). Im Endspiel wurden die Karten neu gemischt. Die deutsche Mannschaft hatte die Favoritenrolle eingebüsst. Die robusten Argentinier besassen eine effektive Abwehr und waren mit schnellen Gegenstössen, besonders von Lionel Messi, gefährlich. Die deutschen Spieler konnten nicht ihr gewohntes attraktives Spiel aufziehen. Die Schiedsrichterleistung von Rizzoli war durchwachsen. Erst in der 2. Halbzeit disziplinierte er die Argentinier mit gelben Karten.
 
In der Verlängerung wirkten die deutschen Akteure frischer und spielten etwas freier auf.
 
Den deutschen Nationalspielern und ihrem Trainer Joachim Löw (er wurde in Schönau im Schwarzwald geboren) kann man zur 4. WM (nach 1954, 1974, 1990) uneingeschränkt gratulieren. Eine halbe Million Fans feierte an den Strassen (hier fuhr der Mannschaftsbus vorbei) und auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor in Berlin die WM-Elf. Es war ein triumphaler Empfang für das ganze Team. Besonders erfreut war ich vom Auftritt der sympathischen Helene Fischer, die im T-Shirt ihren Song „Atemlos in der Nacht“ vortrug und dabei zwischen den Spielern tanzte.
 
Das WM-Endspiel bescherte der ARD einen neuen Zuschauerrekord. Fast 35 Millionen sahen sich in Deutschland das Spiel im Fernsehen an (Marktanteil fast 87 %).
 
Dank Baldrian nicht ausgeflippt
„Hast Du das Spiel überlebt?“ fragte ein älterer Mann eine Frau in der Nähe des Frischmarktes Hieber in Schopfheim D. Sie war noch quicklebendig, aber müde. Eine Nachbarin, die die meisten Spiele am Bildschirm verfolgt hatte, sagte: „Ich bin mehr in der Wohnung herumgelaufen als manche Spieler.“ Sie reagierte ihre Nervosität mit Bewegung ab.
 
Mein Stiefvater, der ein Fussballverrückter war, hatte eine ganz andere Bewegung erfunden. Bei Länderspielen scharrte er mit den Füssen so, als wolle er den Ball ins gegnerische Tor schiessen. Nach einiger Zeit war schon eine Kuhle im Teppichboden zu sehen.
 
Ein Nachbar, den ich nach dem Spiel am nächsten Morgen traf, wirkte etwas verschlafen und hatte eine heisere Stimme. Übrigens war bei diesem Nachbarn ein Schweizer aus der Solothurner Gegend (am Autokennzeichen erkennbar) zu Gast. An seinem Auto prangte eine deutsche Flagge. Nach dem Spielende hörten wir sogar eine Kuhglocke erschallen. War es der Schweizer? Dann folgte ein Autokorso durch Schopfheim.
 
Am 14.07.2014 wanderte ich zum Einkaufen in die Stadt. Da fiel mir ein Mann auf, der eine Tasche mit dem Aufdruck „Helvetia“ trug; ausserdem war die Schweizerfahne aufgedruckt. „Sind Sie Freund der Schweizer Nati?“, wollte ich wissen. Er antwortete, er habe die Tasche geschenkt bekommen. Er sagte dann noch, er schaue Fussballspiele im Fernsehen nicht an. Das rege ihn zu sehr auf. Aber gestern machte er eine Ausnahme und sah in die Glotze, wie er sich ausdrückte.
 
Ein Wanderfreund kann Fussballspiele nicht ansehen, weil er das nervlich nicht aushalten kann. Er geht dann immer in den Keller oder in ein anderes Zimmer und lässt sich von seiner Frau berichten, wenn ein Tor gefallen ist.
 
Dank meiner Baldrian-Hopfen-Pillen flippte ich nicht so aus wie in früheren Jahren. Meine Kommentare während des Spiels verursachten nur einen trockenen Hals. Meine Schwester Ursula von Aichach (Bayern) nahm vor dem Spiel 30 Tropfen einer Baldriantinktur.
 
Mit Beruhigungsmitteln dieser Art und ruhigeres Gebaren wurde sicherlich so mancher Herzinfarkt verhindert. Wie „Blick“ berichtete, starben während des dramatischen Elfmeterschiessens im Match Argentinien gegen die Niederlande 2 argentinische Fans an einem Herzinfarkt. Der Jüngere war erst 16 Jahre und der Ältere 45 Jahre alt bzw. jung.
 
Bei Facebook vorn
Ganz interessant waren vor dem Endspiel Facebook-Einträge. 55 % der Fans unter den Usern unterstützten die deutsche Nationalmannschaft. 81 % der Niederländer hofften auf einen deutschen Finalsieg. Sie konnten das Elfmeterschiessen, das die Argentinier gewannen, nicht vergessen. 71 % der brasilianischen Nutzer waren für einen deutschen Sieg gegen den Erzrivalen Argentinien. Da konnte eigentlich nichts schief gehen.
 
Ein Fest der Völker
Papst Franziskus erklärte, dass so ein Turnier gut für die „Freundschaft zwischen den Völkern“ sei. „Möge der Sport stets die Kultur der Begegnung fördern“, schrieb er auf seinem Twitter-Account @Pontifex.
 
Fifa-Spitzenfunktionär Theo Zwanziger sagte im Deutschlandfunk, man solle jetzt nicht die Augen verschliessen und sagen, alles sei wunderbar. Er betonte weiter, man müsse Lehren aus der Kritik am Weltverband ziehen. Wichtig sei auch, dass man bei der Vergabe von Weltmeisterschaften etwas sensibler umgehe. Diese Äusserungen finde ich absolut richtig.
 
Wer bekommt den WM-Pokal?
Walter Hess twittere unter @TextatelierHess mit Anspielung auf das in den USA lagernde deutsche Gold, das die Amerikaner nicht herausrücken wollen: „WM 2014. Es stellt sich die Frage, ob D. den Goldpokal in den USA einlagern muss. Obama hat sich bisher dazu noch nicht geäussert.“
 
Der 6.175 kg schwere Pokal hat 5 kg 18-karätiges Gold aufzuweisen. Er wird in einem Tresor in Zürich eingelagert. Der Materialwert beträgt nach Schätzungen 160 000 Euro. Der WM-Sieger bekommt nur eine Kopie mit nach Hause. Früher erhielten die Sieger das Original zur Aufbewahrung. Nach einem Diebstahl (die Gauner schmolzen den Pokal ein) wird er jetzt sicher aufbewahrt und nur bei besonderen Anlässen aus dem Tresor geholt.
 
Bei der Siegerfeier nach dem Spiel herzten und küssten die Spieler den Pokal sehr inbrünstig. Auch die anwesenden Politiker und Repräsentanten durften das Heiligtum anfassen.
 
„Blitzkrieg“ der Deutschen
Es ist immer wieder erstaunlich, wie erfindungsreich Journalisten mit Wortschöpfungen bzw. wortakrobatischen Verrenkungen sind. Oft wird ein Vokabular aus Kriegszeiten gewählt. So berichteten englischsprachige Medien nach dem 7:1 Erfolg der Deutschen gegen Brasilien über einen „Blitzkrieg“.
 
In Brasilien war in „Estado de Sao Paulo“ von einer „historischen Demütigung“ und in „Folha de Sao Paulo“ von einem „historischen Debakel“ zu lesen. Die Sportzeitung „Lance!“ war der Meinung, dieses Spiel sei für Brasilien „die grösste Schande in der Geschichte.“
 
Die Redakteure der „Daily Mail“ in Grossbritannien kamen zur Ansicht, die brillanten Deutschen hätten die Gastgeber verprügelt.
 
„Le Parisien“ (Frankreich): „Der Traum eines ganzen Landes zerschellt an der deutschen Mauer. Das ist ein nationales Drama.“
 
„De Telegraaf“ (Niederlande): „Deutschland machte im Halbfinale Hackfleisch aus Brasilien.“
 
„Sport Express“ (Russland): „Die brasilianischen Spieler wirkten wie Clowns aus einem Wanderzirkus. Dante erlebte ein Inferno. Im Boxen hätte der Ringrichter den Kampf bald abgebrochen.“
 
Weltweites Lob gab es für Löws Elf. Die Presse kommentierte den Sieg der deutschen WM-Mannschaft überschwänglich. So schrieb „Der Tageszeiger“ (Schweiz): „Goldene Generation, goldene Zukunft. Mit Götze auf dem Gipfel. In Deutschland hat die Fussballwelt einen würdigen Weltmeister.“
 
„Die Presse“ (Österreich) schrieb sogar von einer „Götzendämmerung“ (Mario Götze schoss ja das entscheidende Tor).
 
„O Dia“ (Brasilien): „Der Vierfach-Weltmeister Deutschland hat den Schmerz der Brasilianer gelindert, die (dafür) ewig dankbar sein werden. Zum Schluss ein Trost. Argentinien wurde nicht Weltmeister.“
 
Die Sportzeitung „Lance“ (Brasilien) rapportierte: „Die Deutschen haben mit Fairplay die Herzen der Brasilianer erobert.“
 
Ein kleines Fazit
Es bleibt zu hoffen, dass solche Veranstaltungen zu einer besseren Völkerverständigung führen werden. Wichtig war in meinen Augen die freundliche und euphorische Art der Brasilianer. Das vorhergesagte Chaos blieb aus.
 
Zu kritisieren wären die horrenden Geldausgaben für Sicherheit, Stadionneubauten und die Kosten für Verbesserungen der Infrastruktur. Die Zwangsumsiedlungen waren eine negative Erscheinung, aber auch die strengen Regeln der Fifa. In 2 Jahren finden in Brasilien die Olympischen Spiele statt. Dann sind die Stadien nicht umsonst gebaut worden. Ob dann arme Leute wieder umgesiedelt werden?
 
2018 findet die Fussball-WM in Russland statt. Dort ist der nächste Gigantismus in Sicht. Die Russen wollen gewaltig klotzen. Die Kosten dürften nach Schätzung um die 35 Milliarden Euro betragen.
 
 
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