Textatelier
BLOG vom: 18.08.2014

„anno 1914“: Nostalgie am Drehort der Fernseh-Serie

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
 
Als geborene Zürcher Oberländerin hat mich das Fernseh-Projekt SRF 1 „anno 1914“ von Anfang an interessiert.
 
Meine Eltern und beide Grossmütter arbeiteten in Webereien in Wald ZH. Von Kindsbeinen an kenne ich die Wörter Zettel, Schiffli, Fabrik, Weberei, die Herren und dazugehörige Geschichten.
 
Also machte ich mich auf den Weg zum Drehort Juckeren, im Umfeld von Bauma im Kanton Zürich. Fahrzeit nur eine Stunde mit S-Bahn und Bus ab Zürich-Altstetten. Nach der letzten Strassenbiegung, bevor wir am Drehort der Fernsehserie eintrafen, wurde die Fabrik sichtbar. Auf ihrem Turm wehte die Schweizer Fahne. So wurde der Anblick auch im Fernsehen gezeigt. Also am rechten Ort angekommen.
 
16 Uhr. Die Türen wurden gerade geöffnet. Es regnete, es goss vom Himmel auf die vielen Regenschirme hinunter. Dicht gedrängt warteten Besucherinnen und Besucher auf Eintrittskarten für Führungen. Mehr oder weniger geduldig. Es wurden Karten für Führungen zu unterschiedlichen Zeiten verteilt. Gratis. Meine galt für 17 30 Uhr. Ich war alleine hierher gereist, schätzte es, ohne Rücksicht oder Rückfragen auf andere meinen Gwunder (Neugier) zu stillen.
 
Die Eingangstür zur Fabrik stand offen. Ich konnte eintreten. Seltsam und nicht sofort erklärbar, fühlte ich mich hier daheim. Warum das? Erst als Frauen, die vor mir hergingen und die abgewetzten Treppenstufen bemängelten, wusste ich, woran mich meine Gefühle erinnerten: An unsere eigene Schreinerei-Werkstatt in einer ehemaligen Spinnerei, die wir 36 Jahre lang mieten konnten. Dort gab es auch ausgetretene Treppenstufen und federnde Holzböden. Und das Gebäude selbst atmete auf ähnliche Weise. Erinnerungen, die ich gerne zuliess.
 
Auch andere Besucher fühlten sich in die Vergangenheit versetzt. Ich sprach mit Männern und Frauen und hörte von ihren Beziehungen zu solchen Fabriken. Altersmässig waren wir unter uns. Einige junge Frauen beobachtete ich dort, wo man Kleider aus der Belle Époque anprobieren durfte. Da huschten die Verkleideten dann in bodenlangen Röcken umher. In der Ecke, wo Rasuren und Frisuren wie vor 100 Jahren angeboten wurden, sah ich zu, wie der Bart eines jungen Mannes nach alter Manier eingeseift wurde.
 
Auf der Theke standen eine Wasserschüssel und der dazugehörige Wasserkrug aus Steingut. Ein Mann neben mir erkannte dieses Gespann und sagte zur Frau: „Ou ja! Das isch öis doch emal abegheit.“ Er erinnerte sich also an dieses Ensemble und dass es eines Tages heruntergefallen und zerbrochen war. Diese Gefässe benützten wir, als in den Wohnungen fliessendes Wasser nur für die Küche und für den Abort eingerichtet war. Mit dem Wasser von der Kommode konnte man am Morgen Gesicht und Nacken waschen, um richtig zu erwachen.
 
In einer Vitrine entdeckte ich den steifen Hemdkragen, der „Vatermörder“ genannt wird. Daneben das Korsett für Frauen. Als ich zu einem neben mir stehenden Besucher sagte, der Vatermörder trage einen passenden Namen, wusste er nicht, wovon ich sprach. Noch nie gehört, dass ein steifer Kragen diesen mörderischen Namen trug. Er überlegte eine Weile und folgerte, da hätte eine Frau keine Chance gehabt, den Mann an der Gurgel zu packen.
 
Weitere Entdeckung: Stoffrollen von damals. Da schaute ich genau hin, wollte Antworten heimbringen. Die Frage nach Kleiderfarben von einst hatte mir meine Tochter Letizia schon vor langer Zeit gestellt. Fotos im Familienalbum der Grosseltern erzählten nur schwarz-weisse Geschichten. Die hier präsentierten Farben entsprachen meinen Erinnerungen. Sie traten dezent auf: Altrosa, türkis, hellbraun, beige. Im Gegensatz zu den kontrastreichen und schreierischen Farben von heute wirken sie immer noch vornehm und in meinen Augen natürlich. Ein paar Schritte weiter traf ich auf einen Tisch, auf dem fertig gestellte Küchentücher präsentiert wurden. Dahinter ein älterer, ruhiger Mann. Er wies daraufhin, dass diese Tücher auf den beiden Webmaschinen nebenan entstanden seien. Eine besondere Webetikette zeichnete sie aus. Ja! Ein solches Tuch möchte ich kaufen. Seine Antwort: „Ich darf es Ihnen schenken.“ Zusammen mit einer Postkarte überreichte er es mir. Diese Geste freute mich enorm, auch jetzt noch. Ein wertvolles Geschenk, das mich indirekt mit meinen Vorfahren und vor allem mit meiner Mutter verbindet.
 
Nebenan dann die beiden Webstühle in Betrieb. Beide Modelle haben wir bereits auf dem Bildschirm kennen gelernt. Hier schauten alle interessiert zu, nahmen den Takt angebenden Lärm in sich auf, beobachteten die Durchschüsse. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis sich die Augen auf das Schiffli, in dem der Faden spediert wird, konzentrieren konnten. Sie kamen kaum nach, es zu begleiten. Ich musste mich auch sonst gedulden. Wer einen guten Platz mit Sicht auf die Durchschüsse ergattern konnte, blieb lange stehen. Auf der andern Seite des Webstuhls konnten wir beobachten, wie der Stoff wuchs.
 
An beiden Webstühlen hing je ein Büschel Baumwollfäden, am einen Ort weisse, am andern farbige. Die weissen liessen mich an Haare einer Fee denken. Dünn und fein. Am Webstuhlgestell und am Boden häuften sich Flausen, die sich aus der verarbeiteten Baumwolle gelöst hatten. Ich bewunderte die Feinheit des Baumwollfadens.
 
Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick meine Mutter neben mir gehabt! Ich kenne ihre Arbeit nur vom Hörensagen. Nie konnte ich zuschauen, welche Aufgaben sie erfüllt hatte. Und wenn sie über ihre Arbeit in der Fabrik sprach, beklagte sie sich nicht. Sie erzählte nur, dass die Schichtarbeit einer Lotterie gleichkam. Wenn ihr eine ebenbürtig tüchtige Schichtablöserin zugeteilt wurde, verdiente sie gut. Entstanden Fehler, waren beide Frauen von Lohnabzügen betroffen, unabhängig davon, wer sie verursacht hatte.
 
Bevor ich die Fabrik auf dem Rückweg verliess, schaute ich nochmals in jenen Raum, in denen einzelne Szenen der Fernsehserie aufgenommen wurden. Ich wunderte mich über seine Grösse, die ich hier vorfand. Das Büro des Juniorchefs und seinen Gehilfen empfinde ich im Film als sehr eng. In Wahrheit ist es geräumig.
 
Dann besuchte ich das Festzelt. Es war kaum besetzt. Das langgezogene Buffet mit Getränken, Gebäcken und regionalen Spezialitäten wurde von verschiedenen Personen betreut. Ich gönnte mir einen Tee, ass eine Schnitte Zwetschgenkuchen, kaufte die prämierte Sonnentorte aus der Bäckerei Schiess, ebenso Baumerfladen aus der Konditorei Voland, beide in Bauma hergestellt. Diverse Käse und Würste gehörten ebenfalls zum Angebot. Und für Unterhaltung sorgte eine Filmsequenz.
 
Diese ruhige Atmosphäre entsprach mir sehr. Anschliessend konnte ich an der offerierten Führung teilnehmen. Eva Zangger, Kunsthistorikerin von der Kulturdetektive GmbH aus Wetzikon führte uns durch die Villa, das Waschhaus und das dazugehörige Gelände, auch zum Wasserschloss und den Kosthäusern. Sie bot uns viel Wissenswertes und betonte, dass es ungewöhnlich grosszügig sei, dass die Besitzerfamilie Jucker den Villenbesuch gestatte. Sie verstand es, dafür zu sorgen, dass wir uns in ihren Räumen respektvoll verhielten.
 
Als ich aus dem Haus trat, sah ich den Patron aus dem Film. Er stand vor der Villa, in lockerem Gespräch mit Gästen. Ich ging auf ihn zu, grüsste und fragte etwas aufmüpfig: Ja, sind Sie denn nicht mehr in Kandersteg? Am Tag zuvor sah ich ihn (im Film) mit seiner Frau ins Berner Oberland reisen. Das letzte Bild zeigte ihn, wie er sich bei der Ankunft im Hotel Victoria in den Korbsessel fallen liess. Angekommen. Ferien!
 
Er hatte den kleinen Spass verstanden, spielte die Rolle des Patrons einen Augenblick mit.
 
Die Heimreise hatte ich mit der Bahn via Fischenthal – Wald ZH – Rüti vorgesehen. Ich wäre gern wieder einmal an jenem Moor vorbeigekommen, das in meinen Vorstellungen den ungefähren Ort markiert, wo die Flüsse Töss und Jona ihren entgegengesetzten Lauf antreten.
 
Dieser Zug war bereits abgefahren. Der Bus, der uns zum Bahnhof Bauma führte, fuhr 6 Minuten zu spät vor. Ich konnte die Reise nicht wie vorgesehen fortsetzen. Es erstaunte, wie die vielen Busreisenden sofort verschwanden. Offensichtlich zu Hause angekommen. Nur zu zweit standen wir noch bei den Geleisen.
 
Die Kioskfrau verriegelte gerade ihren Laden und verschwand lautlos. Wie vom Boden verschluckt. Da standen wir zwei: Der Mann, der ebenfalls die Weberei besuchte, und ich, die gerne mit dem bereits abgefahrenen Zug nach Rüti gefahren wäre.
 
Mit dem Mann hatte ich schon im Bus gesprochen und erfahren, was ihn an der Weberei interessierte. Technische Belange. Alles andere schien ihm nicht bedeutsam. Um nicht eine Stunde hier allein herumzustehen, entschloss ich mich, ebenfalls über Winterthur zu reisen. Still standen wir da.
 
In dieser Zeit unterhielten uns stürmische Winde, führten ihre Kraft vor. Sie schüttelten den Wald, fuhren in die Bäume hinein, liessen die Blätter knistern.
 
Die Wartezeit wurde zur wertvollen Viertelstunde, die mir wieder einmal vorführte, was Stille bewirkt. Was wir wahrnehmen, wenn der Verkehrslärm ausgeschaltet ist.
 
Auf der Rückreise dann, folgte mein Blick der urtümlich wilden Hügellandschaft, die sich nach und nach veränderte. Sie wurde ebener, der Talboden langsam breiter, die Besiedlung stärker. Der mitreisende Mann aus dem Kanton Aargau war mit seinem Natel im Gespräch, schaute aber kurz auf, als ich auf die Dorfkirche von Zell hinwies, wo das berühmte Weihnachtsspiel Zeller Weihnacht erstmals aufgeführt wurde. Und etwas später liess er sich nochmals ablenken, als ich auf das Tibetische Kloster in Rikon hinwies.
 
Ungefähr 100 Höhenmeter nitzi (abwärts) trafen wir dann in Winterthur ein. Vorher aber bescherte uns der aufgelockerte, blaue Himmel noch ein Schauspiel. Auf seinem Hintergrund tummelten sich unzählig viele weisse Haie. Wolkengebilde besonderer Art.
 
Dieses Bild zeigte sich einige Minuten lang nur darum, weil in Winterthur Seen keine dominanten Hochhäuser in den Himmel ragen. Die Bauvorschriften werden hier offensichtlich verständnisvoll respektiert. Aus solchen Gründen resultierte die grandiose Aussicht.
 
Winterthur. Umsteigen. Wir wünschten uns einen guten Heimweg!
 
Die Hektik hatte mich wieder. Trotzdem fuhr ich sinnierend nach Zürich-Altstetten zurück und überdachte meinen Besuch, freute mich an der Rückführung in längst vergangene Zeiten, freute mich auch über die verschiedenen Gespräche und dass Arbeiter und Angestellte heute zu anständigeren Löhnen arbeiten und sich Ferien leisten können. Auch in Kandersteg.
 
 
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