Textatelier
BLOG vom: 22.08.2014

„anno 1914“: Textilindustrie als Wecker für Schlafwandler

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
1914.
100 Jahre sind es her, seitdem der Irrsinn des Ersten Weltkriegs begonnen hat. Die Augenzeugen leben nicht mehr. Meine eigenen Eltern haben 1910 (Mutter) beziehungsweise 1911 (Vater) das Licht der Welt erblickt und inzwischen das Zeitliche längst gesegnet (Vater: 26.07.1986; Mutter: 01.09.1997). Sie wüssten auch nicht viel über die Kriegsjahre zu erzählen; denn in den ersten Lebensjahren vermag man es nicht zu erfassen, was sich rund um einen herum abspielt; mir selber erging es mit dem 2. Weltkrieg ebenso (ich wurde Mitte 1937 geboren). Wenn es gut geht, hat sich noch das eine oder andere Bild aus dem interfamiliären Geschehen erhalten, das heisst diese oder jene Kriegsfolge, die sich auf das persönliche Leben niederschlug – auf Nebenkriegsschauplätzen also.
 
Es bleibt einem nichts anderes übrig, als in den späteren, reiferen Jahren aus Dokumenten, geschichtlicher Literatur ein Geschehen rudimentär zu rekonstruieren, was aber selbst für ausgewachsene Historiker eine Knacknuss ist, wie anhand der divergierenden Darstellungen offensichtlich wird.
 
Der unerklärliche 1. Weltkrieg
Wie kam es denn zum Ersten Weltkrieg? Die standardisierte Annahme bezieht sich auf die Weltmachtträume des deutschen Kaiserreichs. Und als Auslöser-Ereignis gilt das Attentat von Sarajevo. Sarajevo war ab 1850 die Hauptstadt der Provinz Bosnien im Osmanischen Reich und avancierte 1878 zum Verwaltungszentrum des Kondominiums (gemeinschaftsherrschaftlicher Bereich) Österreich-Ungarn. Bei dem Attentat wurden am 28.06.1914 der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau Sophie Chotek von Chotkowa von Mitgliedern der Untergrundorganisation Mlada Bosna ermordet. Die Revolutionäre standen wahrscheinlich mit Serbien in Verbindung. Der gemeinsame Wunsch der Befreiung Bosnien-Herzegowinas von der österreichisch-ungarischen Herrschaft stand im Raum. Südslawien sollte zu einer Einheit und der serbischen Führung unterstellt werden.
 
37 Tage nach diesem Attentat standen die kaum fassbare Zahl von 65 Millionen Soldaten in Kriegsdiensten, von denen in den nachfolgenden 4 Kriegsjahren nach divergierenden Angaben zwischen 17 und 20 Millionen Menschen ihr Leben verloren, und hinzu kamen zirka 21 Millionen Verwundete. In der Einleitung zum Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (13. Auflage, 2014) schreibt Christopher Clark, 1960 geboren, Geschichtsprofessor am St. Catherine’s College in Cambridge (England): „Für Theoretiker der internationalen Beziehungen sind die Ereignisse von 1914 immer noch die politische Krise par excellence, so verworren, dass sie unzähligen Hypothesen Raum geben.“
 
Jeder kriegführende Staat hat nach Kriegsende durch eine umfangreiche Zusammentragung von Quellen und durch Auslassungen versucht, sich reinzuwaschen, die Kriegsschuld weit von sich zu weisen. Die apologetische Tendenz (Rechtfertigung der speziellen Weltanschauung aus nationaler Perspektive) vernebelt ein klares Übersichtsbild. Dasselbe ist selbstredend auch über die Memoiren der Staatsmänner, Befehlshaber und anderer Entscheidungsträger zu sagen.
 
Versucht man gedanklich etwas Ordnung ins Geschehen zu bringen, kommt man kaum an der Einsicht vorbei, dass in den kriegsauslösenden Nationen und insbesondere natürlich bei deren Entscheidungsträgern einfach so etwas wie eine Kriegsreife vorhanden war, wobei auch nach Clarks Feststellungen „Nationalismus, Rüstung, Bündnisse und Hochfinanz (...) allesamt Teil der Geschichte“ waren. Das verhindert eine klare Antwort auf die Kriegsschuldfrage, die nicht an einem einzigen Ort oder in einem einzelnen Ereignis lokalisiert ist. Der Kriegsausbruch war die Folge eines mehrschichtigen Geschehens und Urteilens in den Entscheidungszentren in Wien, Berlin, St. Petersburg, Paris, London und Belgrad, wobei auch weitergehende Beziehungen nach Rom, Konstantinopel und Sofia mitspielten. Das internationale System, das durch mehrere Erschütterungen in Trab versetzt wurde, liess den Weltkonflikt wie eine vorprogrammierte, organische Weiterentwicklung bestehender, komplexer Zusammenhänge erscheinen. Es wäre nicht verboten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der zahllosen kritischen Brennpunkte, Grossmacht- und Energieinteressen und dem Zerfall des globalen Finanzsystems, verbunden mit einer astronomischen Schuldenwirtschaft, daraus zu lernen. Ein frommer Wunsch.
 
Anno 1914 ff. in der Schweiz
Der zunehmend im Dunkel der Geschichte versinkende Erste Weltkrieg tobte 1914‒1918 in Europa, Afrika, Ostasien und auf den Weltmeeren – insgesamt beteiligten sich 40 Staaten an diesem Krieg, und es war schon ein grosses Glück für die Schweiz, dass sie nicht in die Schlachten einbezogen wurde, obschon sie rundum von unberechenbaren Kriegsmächten umgeben war. Es blieb bei der sogenannten Grenzbesetzung und bei inneren Folgeproblemen. Das waren schwierige, aber vergleichsweise doch glimpflich verlaufene Jahre.
 
Es ist ein grosses Verdienst des Schweizer Fernsehens SRF, das dem Gedenken an den Kriegsausbruch vor 100 Jahren mit einer aufwändig konzipierten und im Allgemeinen überraschend gut gelungenen Sendereihe„anno 1914 – die Fabrik“ viel Aufwand zukommen liess, auch wenn einige vollkommen sinnwidrige Konzessionen an den vermeintlichen Publikumsgeschmack gemacht wurden (Auftritt von Alt-Bundesrat Adolf Ogi, Bettszene des Juniorchefs mit einer Serviertochter usf.).
 
Mit den Mitteln des Dokumentarfilms und einzelnen, zurückblendenden Reportagen über den seinerzeitigen Lebensstil, von der unkomplizierten Sabine Dahinden präsentiert, wurden ab dem 04. und bis zum 22.08.2014 dem (teilweise einbezogenen) Publikum kulturhistorische Darstellungen verabreicht und damit vor dem Vergessen bewahrt. 5 Schauspieler spielten ihre fest zugeteilten Rollen mit Einfühlungsvermögen: Werner Biermeier als stattlicher, glaubwürdiger Patron, Anikó Donáth als noble Fabrikantengattin, Juri Elmer als geschniegelter Juniorchef, Lisa Bärenbold als Serviertochter und Sebastian Cepeda als Unruhe stiftender italienischer Gastarbeiter wirkten in der Villa, in der Fabrik, im Gasthaus und im Kosthaus mit. Der Zuschauer erlebte das als Zeitreise zum Ende der lebensfrohen Belle Époque mit ihrer Lockerheit, Fröhlichkeit und Zuversicht für die Zukunft, die durch den 1. Weltkrieg abrupt, unerwartet um die unbeschwerte Laune gebracht wurde. Die „Gute alte Zeit“ war plötzlich nicht mehr gut.
 
Im Zentrum der von Michael Weinmann munter moderierten TV-Dokumentation standen eine Arbeiter- und eine Fabrikantenfamilie im Zürcher Oberland (Weberei Grünthal in Bauma, Fabrikensemble Juckeren). Man erhielt als Fernseher Einblick in die Weberei Thaler, wie sie im Fernsehen genannt wurde, einerseits und in die Villa der Fabrikantenfamilie anderseits. Der Historiker Hans Peter Treichler, eine angenehme Erscheinung, gab Erläuterungen zum Leben vor 100 Jahren.
 
Ergänzung familiärer Erinnerungen
Für mich hatte die SRF1-Serie, die in ihrer Bedeutung weit über einen Sommer-Füller hinausgeht, deshalb ihren besonderen Reiz, weil mein Vater, allerdings etwas später (ab Ende der 1920er-Jahre) in die Textilindustrie des Zürcher Oberlands, jener von Wald nämlich, involviert war. Ich selber kam erst nach der Dislokation meiner Eltern zur Firma Stoffel in Lichtensteig SG zur Welt, lebte also nie in Wald, habe aber in meinen Jugendjahren viele Erzählungen und Reflexionen über die dortigen Zustände und deren Textilindustrie, insbesondere jener auf der „Hueb“, vernommen. Zudem wohnte noch ein grosser Teil meiner Verwandtschaft mütterlicher- und väterlicherseits in Wald, so dass ich mehrere Male zu Besuch in jener Gegend weilte. Deren Kurortcharakter nahm ich weniger wahr als die Trostlosigkeit der gleichförmigen Textilfabriken-Fassaden (inkl. Spinnereien), insbesondere auch jene der Webereien mit ihren Wasserkanälen, der Kosthäuser (Miet- bzw. Wohnhäusern für Arbeiterfamilien) – schon dieser Begriff war für mich schwer erträglich. Imposant wirkten dagegen die Herrenhäuser der Fabrikanten, auch sie gehörten zu einem „Fabriklerdorf“. Wald („Manchester der Schweiz“) war mit etwa 16 Textilfabriken um 1900 das bedeutendste Textilzentrum; inzwischen sind es noch deren 2. Die einst dominante Firma Honegger stellte 1988 ihren Betrieb ein.
 
Mein Vater erblickte das Licht der Welt auf der erwähnten Hueb, einem Weiler oberhalb des Dorfs Wald, nahe bei der dortigen Weberei Honegger. Und es war bei den beschränkten Betätigungsmöglichkeiten im wörtlichen Sinne naheliegend, gleich dort um eine Anstellung, und Arbeit und Verdienst nachzusuchen. Nach beendigter Schulzeit trat er eine Stelle als Weber an (um 1928/29), wie einige seiner 6 Brüder auch.
 
Diese Baumwollweberei auf der Hueb, ein 3-stöckiger, schnörkelloser Zweckbau, spielte eine besonders wichtige Rolle, war sie doch laut den lokalgeschichtlichen Quellen das Gründerunternehmen der mächtigen Industriellendynastie Honegger. Aus den seinerzeitigen elterlichen Erzählungen ist mir dieser Familienname noch heute geläufig (vollständiger Unternehmensname: Otto & Joh. Honegger AG, Textilfabrikation, 8636 Wald ZH, OJH).
 
Im Wikipedia-Lexikon ist die Historie dieser Fabrik recht detailliert nachgezeichnet: „Die Anlage ist in mehreren Etappen entstanden und hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Bereits 1813 befand sich an dieser Stelle eine Wassersäge - ein 13 Fuss hohes Wasserrad mit eisernem Kolben und einem Schwungrad aus Holz. 1853 richtete Caspar Honegger (1820‒1892) hier eine Nagelschmitte ein. 4 Jahre später baute er dem bestehenden Bau ein neues Webereigebäude an und nahm die Textilproduktion auf. Die kleine Fabrik gedieh prächtig, und als sie 1860 niederbrannte, liess sich der Industriepionier nicht entmutigen und baute sie sogleich grösser als zuvor wieder auf. Dabei erhielt sie ihre heutige monolithische Form.“
 
Nach dem Brand trennten sich die brüderlichen Wege, und Caspars jüngerer Bruder Johannes Honegger (1832–1903) baute auf eine noch grössere Weberei unten im Walder Dorf, auf dem „Bleiche“ genannten Areal (1873). In der Bleiche-Geschichte (www.bleiche.ch) ist sein Aufstieg nachgezeichnet: „1885 war eines der erfolgreichsten Jahre im Leben des Johannes Honegger. Im Konkurs über den Fabrikanten Heinrich Hotz kaufte er die Etablissements Lindenhof, Tobel, Tiefenhof, Strickenberg und andere Liegenschaften in Wald. In der Spinnerei Lindenhof hatte sein Bruder Kaspar als Kind in der Fabrik gearbeitet, ein paar Jahrzehnte später war es seinem Bruder Johannes Honegger vergönnt, den Betrieb aufzukaufen. Dadurch und durch seine Expansion nach Italien stieg er zum eigentlichen Grossindustriellen auf. Im selben Jahr kaufte er 3 der 5 Schweizer Teilhaber einer Fabrik in Albino, in der Nähe von Bergamo (Lombardei, Italien), auf. Diese Firma, die um die Jahrhundertwende rund 35 000 Spindeln und 1000 Webstühle betrieb, wurde später ganz von Johannes Honegger übernommen und in Cotonificio Honegger & Co. umbenannt.“ 1888 war Johannes Honegger an die Spitze der Webereien in der Schweiz aufgerückt, besass er doch 771 Webstühle. 1903 starb er, und seine 4 Söhne führten die Firma unter dem Namen „Joh. Honegger’s Söhne“ weiter, auch den Betrieb in Albino, liessen einen weiteren Neubau erstellen.
 
Streikfolgen
Mein Vater begann seine Laufbahn in der Textilindustrie ausgerechnet in der schwierigsten Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, während der Wirtschaftskrise mit der Deflation nämlich, die natürlich auch die Zürcher Oberländer Webereien und Spinnereien hart in Mitleidenschaft zog. Als ausgesprochene Krisenjahre gelten vor allem 1928/1930; aber auch die Zeit bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs (und wohl auch nachher) kann dazu gerechnet werden. Viele Unternehmen wurden zahlungsunfähig, und die zunehmende Arbeitslosigkeit führte zu einem sozialen Elend. Nach der Belle Époque erlitten nun auch die „Goldenen zwanziger Jahre“ Schiffbruch. Am 24.10.1929 kam es zum berühmten Börsencrash mit den verheerenden Wirkungen (Wirtschaftskrise).
 
Die wirtschaftliche Not betraf dementsprechend alle Beteiligten, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Spar- und Rationalisierungsmassnahmen drängten sich auf. In der Praxis des Fabrikalltags kam es zu einem neuen System der Webstuhlbetreuung (selbstverständlich waren schon früher Neuerungen eingeführt worden). Neu angeschaffte „Rüti“-Webstühle, Vorläufer der Saurer-Webmaschinen, waren auf eine Produktions- bzw. Produktivitätserhöhung ausgerichtet, und die einzelne Weberin hatte mehr Maschinen als bisher zu überwachen (bis 4 und mehr statt bloss 1), wobei die Produktion von Kunstseide- und feinen Baumwollgeweben besonders anspruchsvoll war. Ein Arbeiter namens Brändli wurde zusammen mit seiner Frau entlassen, weil er den Direktor aufgefordert hatte, er „solle zuerst einmal erst selbst den Versuch machen, auf 6 Stühlen gleichzeitig zu weben“.
 
Dieses Vorkommnis weist daraufhin, dass auch die Anforderungen an die Arbeiterschaft anstiegen, was wahrscheinlich nicht durch einen höheren Lohn abgegolten wurde, zumal es der Firma Honegger bis 1936 (als sich Deutschland wieder erholt hatte) in jenen Jahren wirtschaftlich schlecht ging. Auch die Franken-Aufwertung hatte neben protektionistischen Massnahmen Folgen fürs Exportgeschäft – alle schauten nur noch für sich. Statt daraufhin zu wirken, dass die Schwierigkeiten in gemeinsamen Anstrengungen und wohl auch Verzichten gelöst werden konnten, riefen die Gewerkschaften in ihrer Profilierungsmanie im Herbst 1931/32 zu einem Streik auf, der die Lage der davon betroffenen Unternehmen zusätzlich erschwerte. Die Arbeitsniederlegung dauerte rund 4 Monate, war also einer der längsten Streiks in der Textilindustrie. Neben einem Zusatzschaden für das Honegger-Unternehmen führte er zu überhaupt keinen positiven Veränderungen. Ein nachträglich ausgearbeitetes ETH-Gutachten stellte sich auf die Seite der Fabrikanten, die offenbar nicht gegen die Anforderungen der schwierigen Zeit verstossen hatten, sondern einfach versuchten, über die Runden zu kommen.
 
Folgen für die Arbeiter
Auf der „Hueb“ war bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts die erste Fabrik entstanden, und sie erlebte einen guten Aufschwung, so dass das familiär aufgeteilte Unternehmen expandieren konnte, bis eben zu jenen verhängnisvollen Krisenjahren. Die Ereignisse gingen unter dem Begriff „Bleichestreik“ in die Wirtschaftsgeschichte des Zürcher Oberlands ein. Von den Anheizern des Widerstands (Streiks) gegen die Fabrikherren und ihren Kampfmassnahmen gab es für gewöhnliche Arbeiter kaum ein Entrinnen. Sie boten bei den Fabrikzugängen Streikposten auf.
 
Wie mir meine Cousine Rita Lorenzetti-Hess mitteilte, betätigte sich unsere fromme Grossmutter Pauline Hess-Konrad („s’Groseli“) als Streikposten am Bleiche-Fabriktor, womit sie sich mit den meisten ihrer Söhnen solidarisierte, ihnen meines Erachtens aber einen Bärendienst erwies. Das geschah somit bei jenem Unternehmen, bei dem sie und auch ihre Tochter Marili als Weberin angestellt waren – und zwar schon damals, als ihre Kinder noch klein waren. Die Familie wohnte jetzt in einem Kosthaus in der Bleiche unten, einem feuchten und ungesunden Ort.
 
Die Nachkommen wussten, wie Ritas Vater Max erzählte, an welches Fabrikfenster sie klopfen mussten, um ihre Mutter herbeizurufen, wenn wieder einmal ein Missgeschick passiert war, etwa wenn sich einer der Buben verletzt hatte. Zudem pflegte sie als fleissige Frau einen Garten und hielt Hühner. Und wenn einer ihrer Söhne ins Militär einrücken musste, soll sie ihm zum Frühstück ein Huhn gekocht haben. Soweit die Informationen von Rita Lorenzetti, die s’Groseli 7 Jahre lang persönlich kannte.
 
Bemerkenswert ist meines Erachtens der Umstand, dass sich Paulines ältester, eigenwilliger Sohn namens Ernst nicht am Streik beteiligte. Er war damals in der Bleiche Webermeister, also mehr als ein gewöhnlicher Arbeiter. Seine Brüder aber waren während des Streiks ohne Arbeit und Lohn, erhielten dann die Kündigung. Ernst war deshalb der Einzige, der sich noch Zigaretten leisten konnte, und seine Brüder bedrängten und kitzelten ihn solange, bis er die Parisiennes mit ihnen teilte.
 
Mit dem Streik und dem damit verbundenen Solidarisierungszwang wurden die Arbeiter gewissermassen zu ihrem Glück gezwungen. Die Gewerkschaften liessen sie aber allein auf weiter Flur, als sich die Folgen in Form von Kündigungen einstellten, während es den Fabriken wieder besser ging. In den Honegger-Betrieben wirkte sich die Einführung von Kunstfasern als Rohstoff günstig aus, zumal im 2. Weltkrieg keine Baumwolle mehr eingeführt werden konnte.
 
1939, zu Beginn des 2. Weltkriegs, kam es auf der Hueb auch zu einer anderen, weiteren Bewährungsprobe: Die Gegend wurde von einem katastrophalen Unwetter heimgesucht. Dabei öffnete sich am Hang des Bachtels mit dem Turm, gleich oberhalb der Fabrik, ein über 10 m tiefer, heute begehbarer Felsschrund, der Bachtelspalt. Der Huebbach schwoll zu einem reissenden Sturzbach an, riss Bäume und Felsbrocken mit, die sich an den Brücken bei der Fabrik derart stauten, dass der Bach durch die unteren Geschosse der Fabrik schoss und diese mannshoch mit Geröll und Geschiebe eindeckte. Weil zu allem Unglück zu jener Zeit die wehrfähigen Männer mobilisiert waren und an den Grenzen standen, wurde es zur Aufgabe der zurückgebliebenen Frauen, die Schäden des Unwetters zu beheben und die Fabrik wieder in Gang zu bringen. Später verlegte man den Bach mit grossem Aufwand in ein gemauertes Bachbett, wie in einer Fabrikchronik nachgelesen werden kann.
 
In Bauma (Nähe Rüti ZH) im Tösstal, etwa 14 km von Wald entfernt, wo die SRF1-Dokumentation im Wesentlichen spielte, dürften die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse vor und während der beiden grossen Kriege ähnlich wie auf der Hueb gewesen sein, wenn auch mit weniger spektakulären Folgen. Auch dort wiegelte die Gewerkschaft die Arbeiter auf, verteilte ein Flugblatt mit der Schlagzeile „Das Elend der Textilarbeiter“.
 
In allen Fällen wäre es falsch, generell einen durchgehenden Gegensatz zwischen Arbeitgebern und -nehmern zu konstruieren. Viele Patrons betreuten ihre Arbeiter wie eigene Familienmitglieder, halfen ihnen bei Notlagen etwa mit finanziellem Vorschuss aus. Betriebstreue wurde erwartet, auch angesichts der enormen technologischen Neuerungen, die sich Schlag auf Schlag folgten. Und der Thaler-Juniorchef bettelte bei seinem Vater, der wie ein Fels im Sturm stand, um die Anschaffung eines Autos, das mehr Beweglichkeit und Freiheit gewähren sollte. Der Vater bremste, der Sohn drängte vorwärts.
 
Nach der missglückten Streikaktion in den Honegger-/Bleiche-Betrieben war das Vertrauensverhältnis gestört. Mein Vater, der in diesen Strudel hineingezerrt worden war, verliess das Bleiche-Unternehmen Honeggers gezwungenermassen (die Streikenden seien „usegfloge“, sagte er mir), und er fand eine neue Stelle in der Weberei in Dietikon ZH, dann in Mels (im St. Galler Sarganserland), bevor er und Klara Fässler im Mai 1936 heirateten und in Lichtensteig im Toggenburg ihre erste Wohnung bezogen; bei Stoffel konnte er eine solide Stelle zuerst als Zettelaufleger für 90 Rappen pro Stunde antreten, worauf er zum Webermeister ernannt wurde. Meine sparsame Mutter sorgte als Damenschneiderin in Heimarbeit dafür, dass es uns recht gut ging.
 
Eine Krisenbranche
Industrielle Umwälzungen gehörten besonders in der Textilindustrie zur Tagesordnung; im Prinzip kriselte es innerhalb dieses Wirtschaftsbereichs im 20. Jahrhundert permanent, und früher oder später kam das Aus. Seit 1988 war das Bleicheareal verwaist, bis 2008 der Architekt Hannes Strebel die ausrangierte Weberei kaufte, um sie zu einem modernen Wohn- und Gewerbe-Ensemble auszubauen. Der Landschaftsarchitekt Jürg Altherr gestaltete die Umgebung.
 
Mein bruchstückhaftes Wissen über die Zustände in Wald ZH, wie ich sie vor allem aus Gesprächen zwischen Verwandten und Bekannten wahrgenommen hatte, liessen mir diesen an sich schönen Ort nie in einem günstigen, sympathischen Licht erscheinen; und meine Besuche dort beschränkten sich auf das Unvermeidbare, besonders als meine Eltern nach dem Ende des Berufslebens wieder in ihre alte Heimat Wald zurückgefunden und an der Bäckerstrasse bei der katholischen Kirche ihre letzte Wohnung bezogen hatten. Die Textilindustrie erschien mir nie besonders anziehend zu sein ...
 
Mir ist der Eindruck erhalten geblieben, wie grosse, länderübergreifende Kriege das Leben und damit das Einzelschicksal beeinflussen, selbst wenn die Auswirkungen nur indirekt sind. Und währenddem weltbewegende Geschehnisse ablaufen, ist es für den Einzelnen aus seiner randständigen Position heraus schwierig, einen Überblick über die tatsächlichen Geschehnisse zu bekommen und sie richtig zu werten. Sein Informationsstand schwankt zwangsläufig zwischen ungenügend und unbefriedigend. Am hoffentlich nicht allzu bitteren Ende weiss niemand, wie sich alles unter normalen Voraussetzungen entwickelt hätte. Es bleibt nur, aus jeder Situation, die man ohnehin nicht grundlegend verändern kann, gravierende Fehler zu vermeiden und das Beste zu machen. Im Ernstfall scheint das nicht immer zu gelingen.
 
 
Quellen
Clark, Christopher: „Die Schlafwandler“, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. (Originalausgabe von 2012: „The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914“, erschienen bei Allen Lane, London.
Honegger-Chroniken.
 
 
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