Textatelier
BLOG vom: 26.08.2014

Medienbilder: Welche Grenzen gelten für die Fotoreportage?

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH 
 
Die Pressefreiheit ist der Waffenschein des Revolverblatts.
Rupert Schützbach, bayrischer Schriftsteller
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Manchmal sind Bilder stärker als Worte.
Unsere Aufgabe ist, sicherzustellen,
dass die Bilder wahr sind, nicht, dagegen anzutexten.
Christian Sievers (Twitter)
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Einst, sagen wir einmal in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, war es vollkommen klar, dass kein Unfallbild mit einem schwer verletzten oder gar toten Opfer publiziert wurde. Bilder mit verwundeten oder verstorbenen Menschen zirkulierten auch nicht auf der Redaktion des „Aargauer Tagblatts“ (AT); niemand wollte das sehen. Unser Fotoreporter Heinz Fröhlich sondierte solche Aufnahmen bereits in seinem Fotolabor aus, stellte sie bei besonderen Bedarfsfällen der Polizei bzw. den Ermittlungsbehörden zur Verfügung.
 
Diese konsequente Zurückhaltung wurde redaktionsintern unter anderem damit begründet, dass um eine Rücksichtnahme gegenüber den Angehörigen ging; es war also ein unbestrittener Aspekt der publizistischen Ethik. Dieses Verhalten drängte sich auch auf, weil die kantonale Zeitung schwerpunktmässig ihr angestammtes, überblickbares Gebiet engmaschig abdeckte und gewissermassen einen lokalen Charakter hatte.
 
Doch wie ist es denn, wenn in einer regional verankerten Zeitung beispielsweise über einen Flugzeugabsturz oder -abschuss berichtet wird, der sich in einem fernen Kontinent ereignet hat? Kann dann die Bildzensur aufgehoben werden? Obschon in solchen Fällen immer auch Menschen unter den Betroffenen sein können, die im Einzugsgebiet eines Mediums lebten oder dort ihre Angehörigen haben, ist die Chance doch gering, dass jemand erkannt wird. Zudem könnte ein Gesicht etwa durch die Abdeckung der Augenpartie unkenntlich gemacht werden. Es bliebt also die grundsätzliche Frage, über die Frage von Unfällen hinaus: Soll man Verletzte und Tote, gerade auch solche als Folge von kriegerischen Handlungen, die heute wieder stark im Zunehmen begriffen sind, auf irgendeine Weise in den Medien abbilden?
 
Die Frage ist aktuell geblieben und ungelöst. Die dokumentarische Fotografie (concerned photography) als Idealfall stösst an ihre Grenzen. „Wahrheit in der Fotografie gibt es nicht" (so der Schweizer Fotograf Jules Spinatsch). PR-Bilder von Politiker-Treffen, Händeschütteln und kalkulierten Kriegsszenen beherrschen das Feld zunehmend (embedded photography). Es wird hinauf- und hinuntergespielt. Beim eingangs beschriebenen Verhalten der AT-Redaktion in Aarau wurde jeder Verkehrsunfall bildmässig auf einen Blechschaden, ein zerbeultes oder weitgehend zertrümmertes Automobil, reduziert. Diese antiseptische Berichterstattung bedeutete, dass einfach der Materialschaden zelebriert wurde, also der relativ harmloseste Teil des Unfalls. Durch die Ausklammerung der Opfer wurde das Bild der Tragweite des Geschehens nicht gerecht. Auch der Abschreckungseffekt von Rasereien, von einem unvorsichtigen Verhalten blieb auf ein Minimum beschränkt. Dasselbe gilt sinngemäss für kriegerische Handlungen aller Art, die sich auf Bombenblitze und ähnliche Feuerwerkereien, Rauchsäulen, Trümmer von Bauten, Fahrzeugen usf. reduzieren. Der Journalist könnte die Szenerie beschreiben, doch wirkt ein Bild stärker.
 
Man stelle sich die aufrüttelnde Wirkung vor, wenn man das unermessliche Elend nach der Bombardierung eines Schulhauses oder Spitals etwa in Palästina durch Israel in Wort und Bild vollumfänglich, das heisst soweit es auf diese Weise überhaupt zu erfassen ist, aufzeigen würde (auch jedes Bild erfüllt den Tatbestand der Manipulation: es ist ein Ausschnitt aus dem Blickwinkel des Fotografen). Und wenn eine Palästinenser-Rakete auf israelischem Territorium zu Todesopfern führt, müsste auch das mit den Folgen gezeigt werden. Einseitige Berichterstattungen zwischen Betonung und Weglassung sind Ausdrücke eines miesen journalistischen Stils. Wenigstens müsste das Bemühen um die nie zu 100 Prozent erreichbare Objektivität spürbar sein, wobei auch das Anhören oder Darstellen beider Seiten nicht genügt; die Geschehnisse sind in der Regel nuancenreicher.
 
Ein weltbekanntes Beispiel für die Macht des dokumentarischen Bildes war in der letzten Phase des Vietnamkriegs das damals 9-jährige Mädchen Phan Thi Kim Phúc, das sich am 08.06.1972 bei einem Angriff mit Napalm-Brandbomben die brennenden Kleider vom Leibe gerissen und schwere Verbrennungen erlitten hatte und mit schmerzverzerrtem Gesicht nackt aus dem Dorf Trang Bang davonrannte. Es wurde vom Pressefotografen (Associated Press, AP) fotografisch festgehalten und sofort in ein Krankenhaus gebracht. Der aggressive Phosphor aus der Brandwaffe, der grauenvolle, schwer heilende Wunden hervorruft, frass sich in den kindlichen Körper hinein, nur dank vieler Hauttransplantationen konnte das junge Leben erhalten werden. In der Regel sind komplizierte Operationsfolgen in Kriegen wegen der grossen Zahl an Verwundeten kaum möglich.
 
Napalm wurde erstmals am 06.03.1944 von den US Army Air Forces über Berlin abgeworfen; weitere Einsätze erfolgten noch im gleichen Jahr über Bonneuil-Mators in Westfrankreich. Auch bei der Schlacht um Tinian (Japan) setzten die Amerikaner am 23.07.1944 die scheussliche Waffe ein, der Auftakt zu weiteren Napalm-Anwendungen durch eine Nation, die sich über das einengende Kriegsrecht (Kriegsvölkerrecht) standardmässig hinwegsetzt: Zivilisten dürfen nicht einbezogen werden. Im Ernstfall passiert das Gegenteil, um den Feind auf diese Weise intensiver zu demoralisieren.
 
Es gibt viele Vermutungen, das beschriebene Bild vom vietnamesischen Mädchen habe die Beendigung des sinnlosen, von den Amerikanern inszenierten, sinnlosen Vietnamkriegs, bei dem auch Riesenmengen chemischer Vernichtungsstoffe (Agent Orange) zum Einsatz kamen, die ebenfalls nicht zwischen Militär- und Zivilpersonen unterscheiden können, vorverlegt; zu beweisen war das nicht. Hunderttausende von Vietnamesen erkrankten an Krebs oder erlitten Missbildungen ... bis heute. Das Mädchen, inzwischen eine 51-jährige Frau, lebt heute in Kanada und wirkt als Unesco-Botschafterin für Kriegsopfer; sie betreibt eine eigene Stiftung, die Kim Phuc Foundation“, die sich um Kinder aus Kriegsgebieten kümmert.
 
Der Entscheid, dieses Bild, welches eine der entsetzlichen Seiten des Kriegs aufzeigt, an die Öffentlichkeit zu bringen, war schwierig; doch AP wagte den Schritt. Damit hatte sich dieses Schreckensszenario, das ein unschuldiges Mädchen betraf, welches in einem Tempel Schutz gesucht hatte, diesen beim Einstürzen verlassen musste und in eine Feuerwalze lief, immerhin die nötige aufrüttelnde Wirkung.
 
Dieses eindrückliche Geschehnis könnte als Beispiel dafür herangezogen werden, dass es heilsam sein kann, wenn all das Unmenschliche, das sich in verschiedenen Versionen auf dieser Welt abspielt, der Öffentlichkeit sozusagen im Klartext im Sinne von unbeschönigt und nicht verharmlosend dargestellt würde – immer bei Beachtung berufsethischer Prinzipien und frei von Manipulationen. Die Sensationsmedien werden da sofort zustimmen; denn hinter den Medien ist immer auch ein geschäftlicher Aspekt, der allerdings nicht das entscheidende Kriterium sein dürfte.
 
Gewissermassen als Gütesiegel und im Interesse der Rückverfolgbarkeit müssten alle Bilder vom Namen des Fotografen begleitet sein, wie das auch bei jedem Text der Fall sein müsste: Der Name des verantwortlichen Verfassers dürfte nicht fehlen. Ich halte mich daran, und das trifft selbstverständlich auch auf alle Autoren des Textatelier.com zu.
 
Der Fotograf hat sich an strenge Regeln zu halten. Er darf niemals Situationen auf Katastrophenplätzen verändern, etwa Gegenstände besser ins Bild rücken, damit die Aufnahme an Wirkung gewinnt. Er darf nur dokumentieren, muss aber im Intimbereich in der Lage sein, Zurückhaltung zu üben.
 
Wie es scheint, werden die Grenzen des anscheinend Tolerierten immer weiter gesteckt, auch von den renommierten internationalen Zeitschriften. Leichen und menschliche Körperteile werden zwar in der Regel schon von den Rettungsequipen mit Tüchern oder Folien abgedeckt, aber oft sind Fotografen schneller zur Stelle. Im „Newsweek“, das die Geschehnisse des 11.09.2001 unter dem Titel „AMERICA UNDER ATTACK“ dokumentierte, ist eine aus dem Fenster gesprungene Person im freien Fall vor der Fassade des oben brennenden Wolkenkratzers zu sehen und eine komplett mit Blut überzogene Frau im Grossformat abgebildet, deren Gesicht nur durch den roten Lebenssaft leicht verändert wurde. Die Effekthascherei ritzte die Grenzen des Verantwortbaren.
 
In den neuen sogenannten Sozialmedien gelten die überlieferten publizistischen Regeln kaum noch. Es sind offene Medien, an deren Ausgestaltung sich jedermann beteiligen kann und bei denen es höchstens eine gewisse Selbstzensur gibt. Nach den bisherigen Erfahrungen mit den herkömmlichen Medien, die ihre Machtposition oft hemmungslos missbrauchen, sich einspannen lassen, manipulieren, etwa durch Totschweigen von Geschehnissen, die nicht ins Konzept passen, muss man geradezu dafür dankbar sein, dass zum Beispiel Facebook und Twitter wie auch das Internet im Allgemeinen Freiräume für Meinungsäusserungen in Wort und Bild geschaffen gaben, welche die Palette des menschlichen Denkens, Fühlens und Wirkens abdecken, ein riesiger Jahrmarkt, aus dem jeder Nutzer das heraussuchen kann, was für ihn von Interesse ist.
 
Bilder von Kriegen und deren Opfern sowie Verwüstungen sind in den Sozialmedien an der Tagesordnung. Damit hat sich innerhalb dieses Berichterstattungssektors ein Dammbruch ereignet, und so kommt es nicht von ungefähr, dass lügenbasierte Kriegstreibereien in den Beiträgen, insbesondere den Tweets scharf gegeisselt werden, ohne dass sich bis anhin ein Gewöhnungseffekt eingestellt hätte. Auch die Werbung schiesst sich mit dem Segen des Europaparlaments in Strassburg zunehmend auf Schockbilder auf Zigarettenschachteln ein, so etwa die Gesundheitsbehörden mit ihrer Antiraucherwerbung, wo Krankheitsbilder wie aus einem alten Doktorbuch, der Familienbibliothek entnommen, zur Pflicht werden.
 
Von den Medien wurde das Video über die Köpfung des unschuldigen US-Journalisten James Foley (40) weitestgehend vorenthalten, weil die radikale Terroristengruppe ISIS, jetzt auf IS verkürzt („Islamischer Staat“), dieses Dokument möglicherweise als Mittel der Propaganda einsetzte. Dass es sich um ein Fake (Fälschung) handelt ist nicht auszuschliessen. Die Beschreibung des unmenschlichen Vorgangs genügte, um die Informationsbedürfnisse der Öffentlichkeit zu befriedigen. Doch war das Video über Youtube bereits über die ganze Erde verbreitet. Sind alle auf ein Schauspiel hereingefallen?
 
Die Abbildung der Realität (und was dafür gehalten wird) ist allmählich ohne wesentliche Beschränkungen möglich, gehört bald einmal zur Tagesordnung. Dass die Macht der Bilder zu Geschäftszwecken und zur politischen Manipulation gebraucht und missbraucht wird, ist unumgänglich. Aber auch deren heilsame Anwendung liegt im Bereich des Möglichen. Das Bestreben, das mit dem öffentlichen Interesse gleichzusetzen ist, muss dahin gehen, Fälschungen und Manipulationen (inkl. die Verbreitung von Kriegspropagandamaterial) zu verhindern, Bildautoren in die Pflicht zu nehmen, das heisst sie müssen die Umstände, Standorte und den Zeitpunkt, unter denen eine Fotografie oder ein Video entstanden sind, ebenso wie Bildmanipulationen bekannt geben. Damit schaffen sie Vertrauen und erhöhen damit die Wirkungen eines Bilds, die unerwünschten wie die erwünschten. Die oberste Aufgabe des Fotografen aber besteht in der ehrlichen Dokumentation eines Geschehens. Der Betrachter soll dann seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
 
In Zweifelsfällen ziehe man ethische Grundsätze zu Rate.
 
 
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