BLOG vom: 02.09.2014
Biografien, Datenschutz: Wie viel von sich preisgeben?
Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
Das Herumschnüffeln in privaten Daten und Akten wurde in der nach US-Muster vorgegebenen, globalisierten, eingeschüchterten und zentral steuerbaren Einheitswelt zum beliebten Massensport von Regierungen und Verwaltungen, wobei die Zustände in der überblickbaren Schweiz noch vergleichsweise harmlos sind. Deshalb versuchen die Amerikaner, dieses reiche Land über unverschämte Geldforderungen und Drohgebärden in die Knie zu zwingen. Mit Erfolg. Die „Weltwoche“-Titel-Schlagzeile vom 17.07.2014: „Schweiz unterwirft sich. Ausländische Fahnder schnüffeln ungehindert in 2 Kantonen“ (angesprochen sind vor allem Zürich und Graubünden mit ihrem Verlust von Selbstbewusstsein).
Im Regelfall werden die Aussagen der Personen, die öffentlich schreiben und digital telefonieren, zu Sammelobjekten, deren Verknüpfung ein filigranes Bild des Absenders zeichnet. Ungewollt gibt jeder Autor durch die Art seiner Darstellungsweise eines Sachverhalts vieles über sich selber preis. Allerdings ist dieser Effekt auch ohne das Schreiben und Herumtelefonieren zu erreichen: Jedermann hinterlässt seine Spuren bei seinen alltäglichen Verrichtungen, etwa beim digitalen Geldverkehr (weshalb das Bargeld wahrscheinlich abgeschafft wird), beim Einkauf in Läden, die ihn und seine Einkaufsgewohnheiten über Kundenkarten-Verlockungen registrieren, beim Reisen – wir ziehen immer einen Rattenschwanz von Spuren hinter uns her. Die Überwachungsstaatlichkeit, an der sich auch Privatunternehmen beteiligen, knüpft ihre Netze immer enger. Der geförderte Terrorismus dient als guter Vorwand dafür.
Heikle Interpretationen
Aus Schriftstücken wie diesem Blog kann man bereits auf die Denkweise von mir als Autor schliessen: Er ist auf Freiheit und Unabhängigkeit bedacht, möchte den Staat in einer respektvollen Distanz halten, ist ein kritischer Bürger, der nicht willenlos alles über sich ergehen lässt und sich in der Konsumwelt kritisch bewegt. Solche Bilder lassen sich mit zusätzlichen, detaillierten Informationen beliebig weiter verfeinern und durch Verknüpfungen vervollständigen.
Daraus ergibt sich die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, mit der Daten-Hinterlassung zurückhaltend zu sein, auch wenn diese fehlinterpretiert und missbräuchlich gegen meine eigenen Interessen verwendet werden können. Mit dem sich auftürmenden Datenwust, diesem unüberschaubaren Gewirr von Fakten, die korrekt, ironisiert, frei erfunden, erstunken und erlogen oder angedichtet beziehungsweise der Abwechslung halber auch wahr sein können, wächst die Gefahr von Falschbeurteilungen, Irrtümern, Zerrbildern. Computer haben ein Riesentalent im Heraussuchen von genau definierten Informationen aus Datengebirgen, die beliebig vermischt sein können, sind aber ihrerseits eine Gefahrenquelle, weil ihnen oft der Sinn hinter einem einzelnen Wort oder einer Wortgruppe entgeht. Wörter haben in der Regel viele Bedeutungen.
Einblicke via Literatur
Jedenfalls sind wir alle Datenlieferanten, und die Frage reduziert sich darauf, ob wir aktiv dazu beitragen oder bremsend einwirken. Schriftsteller, deren Wirken seit je auf die Öffentlichkeit ausgerichtet war, die also nicht für die Schublade produzieren wollen, haben schon immer ihr Inneres herausgekehrt, ob in direkter, verschlüsselter oder abgewandelter Form. Autobiografien, Erinnerungen, Tagebücher, Briefwechsel, Impressionen rund um Alltags- und Kernfragen sowie viele Romane sind verkappte Autobiografien; man schreibt meistens aus dem eigenen Erleben heraus. Sie sind nicht exakt, sondern Dichtung, verdichtet, komprimiert und damit Fragmente. Zu Max Frischs „Tagebuch 1966 1971“ kommentierte Hugo Lötscher: „Dieses indirekte Von-sich-selber-Reden erreicht seinen intellektuelle Höhepunkt mit den Fragebogen, die Frisch erfindet – Umfragen an sich selbst, wenn man will.“ In solchen Fällen kommt es auf die Fragstellung an. Dennoch ist die Anteilnahme am Schicksal von Menschen ist ein Werkzeug zur Selbsterkenntnis und zum Reifen.
Jean Rudolf von Salis seinerseits, der seine letzten Jahre auf Schloss Brunegg im Aargau verbrachte und im 2. Weltkrieg als Radio-Weltchronist über die Schweiz hinaus berühmt war, hielt seine Erfahrungen im umfangreichen Buch „Notizen eines Müssiggängers“ fest – eine Schrift aus dem Nichtstun entstanden, wie er selber anmerkte, ein innerer Monolog. Er sprach zum Papier über Wichtiges und Nebensächliches, das uns zum Autor hinführt, wie jedes Schreiben, und wahrscheinlich auch zu uns. Jedes beschriftete Papier verbreitet sich beliebig wie ein dem Internet übergebenes Selfie; es soll in der Regel Wirkungen auf die Menschen entfalten – manchmal kommt es ungewollt dazu. Von Salis beobachtete und verfolgte eine Welt, die anders, nicht aber vernünftiger geworden ist. Das trifft über seinen Tod hinaus zu.
Ähnliches habe ich soeben auch im neuen Buch von Peter Sloterdijk, „Die schrecklichen Kinder der Zukunft“, gelesen: „Zunächst sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon verstanden haben, dass aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz.“
Das relativiert die Bedeutung des Aufzeichnens, des Erzählens. Es wird im Normalfall zur Unterhaltung, perlt ab wie das Wasser an einem Neopren-Anzug oder kann böswillig gegen den Schreiber verwendet werden. Und dennoch haben viele Menschen das Bedürfnis, ihr angesammeltes Wissen und ihre Schlussfolgerungen aus Ereignissen weiterzugeben, gezielt oder einfach als allgemein zugängliches Druckwerk oder als Internetdokument.
Menschliche Reife gehört dazu, wenn man sein Innerstes offenbart. Wenn Kinder – und ich ziehe da keine obere Altersbegrenzung – ihre Eskapaden als sittliche oder unsittliche Selfies (selbst geknipste Fotos von sich selber) und entsprechende Texte im Internet verankern, kann dies ihren Lebensverlauf auf Jahrzehnte hinaus negativ beeinträchtigen; aus einer momentanen, unüberlegten Unbeherrschtheit kann ein dauerhaft wirkender Schaden entstehen – Kindereien mit Folgen. Selbst gestandene Politiker sind davor nicht gefeit. Der Umgang mit privaten Daten und mit den Medien muss erlernt sein; gemeint ist in erster Linie der Umgang mit den Medieninhalten. Das Knipsen und das Senden von Bildchen sind ein Kinderspiel, befriedigen mitunter das narzisstische Bedürfnis – zu einem manchmal hohen Preis.
Nur unmündige Kinder und Idioten jeden Alters werfen kompromittierende Angaben und Bilder, die sie selber betreffen, direkt oder indirekt der Öffentlichkeit zum Frasse vor, Infohappen, deren einzige Auswirkung ist, dass sie dem Ansehen des Absenders, seiner Familie oder anderen nahestehenden Menschen schaden, indem man sich und allenfalls andere blossstellt. Daran können Berufskarrieren scheitern. Vermeidet man diese Selbstbeschmutzung, ist im Übrigen nichts dagegen einzuwenden, nach persönlichem Gutdünken ausgewählte Begebenheiten, Eindrücke und Bilder zu publizieren, was sogar sein Ansehen verbessern kann, wenn es mit Fachkunde und Seriosität getan wird. Wer in der Lage ist, einen gescheiten Text mit weiterführenden Erfahrungen zu schreiben und zu verbreiten, wird auf dankbare Leser stossen; wenn er sich selber einbringt, zur Subjektivität der Mitteilung steht, werden seine Gedanken an Glaubwürdigkeit gewinnen. Ohne solche Dienstleitungen wäre die Menschheit ärmer.
Das war nur ein Nebeneffekt, der im Rahmen der Thematik dieses Blogs aufgezeigt werden sollte. Die Hauptsache ist, wie sinngemäss erwähnt, das Bestreben, einen Beitrag zur Orientierungshilfe an Nutzern zu leisten, die sich inspirieren lassen und Fehlleistungen vermeiden wollen. Die Begegnung mit solchen Einblicken wird für den Leser dadurch zur kulturfördernden Tätigkeit, wenn es ihm gelingt, die ergiebigen Quellen zu erschliessen.
Das Schnüffelwesen
Eine vollkommen andere Dimension haben im Sektor des Datenschutzes jene rein privaten Angaben, die mir abgepresst oder durch Schnüffel- und Abhöraktionen regelrecht gestohlen wurden; selbst unter angeblich befreundeten Regierungen ist das üblich geworden, eine Misstrauenskundgebung der üblen Art. Die politische Korrektheit als das Vermeiden von beleidigenden oder kränkenden Handlungen scheint ausgedient zu haben. Die Datendiebstähle (Bankdaten sind besonders begehrt) sind Mittel zum Zweck, etwa um jemanden zur Steuerehrlichkeit zu zwingen, aber auch, um ihn bestehlen oder übertölpeln zu können; sie dienen der eigenen Bereicherung (Wirtschaftsspionage als Paradebeispiel) und der erpresserischen Unterjochung fremder Völker oder Institutionen. Es sind, wo sie auf höchster Ebene angewandt werden, gestohlene Waffenarsenale, mit denen die Weltherrschaft ausgebaut werden soll ... auf der Grundlage von Unterjochung, Unterdrückung und mit dem Ziel der Machtvergrösserung, die ihrerseits der Bereicherung der ungnädigen Herren in den Schaltzentralen dient.
Für den Einzelnen bedeutet das Gesagte, sich mit allen Aspekten des Datenschutzes aufmerksam und kritisch zu befassen und Auswüchsen entgegenzutreten, im Alltag und Funktion als Bürger innerhalb demokratischer oder demokratie-ähnlicher Verhältnisse. Man darf seinen Lebenslauf und die Erkenntnisse daraus, welche die Gesellschaft weiterbringen könnten, erzählen. Und umgekehrt darf man ebenso dafür sorgen, dass sie gegebenenfalls der Öffentlichkeit vorbehalten bleiben, wie etwa die 135 Tonbänder von alt Bundeskanzler Helmut Kohl mit Gesprächen über sein Leben, die total 630 Stunden dauern. Privatsachen dürfen Privatsachen bleiben, wenn es der Private (der Verfasser) so will, auch wenn er im Dienste der Allgemeinheit stand und besonders, wenn er unbescholten ist.
Man darf persönliche Fakten verbreiten und Bilder vervollkommnen, wenn sie nirgends Schaden anrichten. Aber man soll alles dafür tun, dass man sich nicht selber Schaden zufügt und Dieben und persönlichen Feinden alle Türen öffnet. Der Badener Stadtammann Geri Müller, der unter anderem Sympathien für die ghettoisierten Palästinenser hatte, wurde über eine Freundin, die jüdische Wurzeln hat, mit dem Missbrauch von Bildern aus seiner Privatsphäre von Juden auf hinterhältige Art in den Schmutz gezogen.
Man erkennt bald einmal, dass nicht alles den streng geschützten Privatraum verlassen darf, was aufhebenswert ist; inkriminierende Dokumente können sonst zum belastenden Bumerang werden, gerade auch Dokumente, die im Internet gelandet sind. Nicht jedes Leben des Triebwesens Mensch ist ein Weg zur Vollendung, wie es noch Johann Wolfgang von Goethe vermutete; oft gerät es auf Abwege, die manchmal durchaus einer Aufzeichnung wert sind und einen Beitrag zur Desillusion leisten können.
Die Menschheitsgeschichte setzt sich aus Trillionen von kleinen Ereignissen zusammen, und eine anspruchsvolle Aufgabe für Historiker und Biografen ist und wird es sein, darin die wesentlichen Linien zu erkennen. Je mehr aussagekräftige Details vorliegen, umso exakter können die Beurteilung und die Beschreibung ausfallen.
Die Geschichtsschreibung hat sich zur Hauptsache mit dem Geschehen auf höherer Ebene befasst; Einzelschicksale aus den Menschenmassen fanden kaum der Beachtung, weil es dafür fast keine Unterlagen gibt. Ulrich Bräker (1735‒1798), der arme Mann aus dem Toggenburg, der lesen und schreiben konnte, hat die Zustände in einer Bevölkerungsschicht festgehalten, aus der sonst keine Überlieferungen vorliegen und Kulturdokumente geschaffen.
Und so schreibe denn auch ich an einigen Themen aus meinem Lebenslauf weiter, trage Bruchstücke von zweifelhaftem Wert zusammen, bringe Schraffuren am Selbstbildnis an – im Facebook
oder auf meiner Webseite
können sie eingesehen werden. Falls sich jemand dafür interessieren sollte.
Ein erfülltes Leben ist auch ohne die Lektüre meiner eigenwilligen Ergüsse denkbar. Sie können genutzt oder übergangen werden. Richard Wagner (1813‒1883) begleitete seinen Wälzer „Mein Leben“ mit dem Hinweis, die Mitteilungen über sein Leben entspreche seinem und seiner Gattin Wunsch, diese „unserer Familie sowie bewährten treuen Freunden zu erhalten“, und er schloss nicht aus, dass von seiner Autobiografie „in ihrer schmucklosen Wahrhaftigkeit“ vielleicht einige Zeit nach seinem Tod die Rede sein könnte.
Das politisch umstrittene Universalgenie sollte sich nicht irren. Solche Erscheinungen sind selten, falls das Augenmerk eines breiten Publikums nicht durch ein begleitendes kulturelles Werk von Bestand (Kompositionen, Malereien Dramen, Lyrik, Romane usf.) dafür empfänglich gemacht wird. Allerdings können Autobiografien niemals höhere Anforderungen nach Objektivität erfüllen, weil alles aus auf der subjektiven Wahrnehmung heraus dargestellt wird. Selbst die bei Schnüffelaktionen erbeuteten Fragmente haben nichts mit Objektivität gemein. Der als Quelle dienende Mensch ist und bleibt Partei, ebenso wie derjenige, der den gesammelten Datenfriedhof neu büschelt. Ob solche fixe Randbedingungen das Schreiben einer Autobiografie so gefährlich machen? Sie kann zum Anlass dafür werden, dass auch noch der Rest seiner Freunde verloren geht, wenn man Robert Neumann Glauben schenken will. Und damit das wichtigste Leserpotenzial.
Das Schreiben läuft immer Gefahr, sich als Selbstzweck zu erweisen ... und damit auch das Datensammeln jedweder Art.
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