Textatelier
BLOG vom: 10.09.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (13)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Ich will jetzt wieder zu den Tatsachen zurückkommen und berichten, was auf dem Blatt mit der Nummer 16 zu lesen war.
 
Auch jetzt waren der „Lebensbeichte“ wieder auf 2 Seiten Hinweise auf die Abhandlung von Fjodor Michailowitsch Dostojewski beigefügt. Ich blätterte sie nach und las einige Sätze, die im Zusammenhang mit den „Aufzeichnungen“ logisch und nachvollziehbar waren. Sie passten irgendwie in das Geschehen, das der Autor seiner „Lebensbeichte“ schilderte und das sich an jenes über den letzten Tag anschloss.
 
Die folgenden Zeilen von Dostojewskij waren unterstrichen:
 
„Am nächsten Tag wachte ich mit Schrecken auf und sprang aufgeregt aus dem Bett… Aber ich glaubte, dass noch am selben Tag ein radikaler Umbruch in meinem Leben unbedingt eintreten werde. Vielleicht lag es an meiner Unerfahrenheit.“
 
Auf der anderen Seite war folgender Satz unterstrichen:
 
„Es dauerte nicht lange, bis ich ganz zu mir kam; mit einemmal, ohne mein Zutun, fiel mir sofort alles ein, als ob es nur gelauert hätte, um mich plötzlich wieder zu überfallen.“
 
Ich las die „Lebensbeichte“ weiter:
 
„Nach dieser Nacht im Hotelbett mit Elisabeth wachte ich auf und kam langsam zu mir. Noch mit geschlossenen Augen tastete ich das Bettzeug neben mir ab. Es war kalt. Das weckte meine Lebensgeister, ich öffnete meine Augen und bemerkte, dass ich allein war. Auf der Nachtkonsole lag ein Brief, den sie wohl noch in der Nacht, während ich schon eingeschlafen war, verfasst haben musste, denn er war auf dem Briefpapier des Hotels geschrieben. Schlagartig wurde mir alles wieder bewusst, was ich am Tag zuvor erlebt hatte und was mir widerfahren war. Ich nahm den Brief und las:
 
‚Mein Liebster! Wenn Du diese Zeilen liest, habe ich das Hotel schon lange verlassen. Sei nicht traurig! Ich weiss, Du hast dir eine Zukunft mit mir vorgestellt.
 
Aber ich muss Dich enttäuschen. Bitte beachte: nicht Du hast mich enttäuscht, ich tue es. Die Nacht mit Dir war wunderschön, Du warst so zärtlich, so stark. Nie habe ich einen Mann so gespürt wie Dich in der letzten Nacht. Und was Du am Tag für meine Eltern und mich und besonders für meinen Onkel getan hast, werden wir nie vergessen. Wir werden Dir immer dankbar sein und bestimmt noch sehr lange an Dich denken! Bitte, laufe mir nicht hinterher, komme nicht zum Haus! Wir dürfen Dich nicht mehr sehen! Auch ich nicht! Ich habe heute Nacht lange wach gelegen, und mir ist klar geworden, dass es für uns kein gemeinsames Leben geben kann. Du würdest mich immer an meinen Onkel und an den letzten Tag erinnern. Das alles würde immer zwischen uns stehen!
 
Ich muss dir nämlich etwas beichten. Unser Zusammentreffen auf der Kirmes war nicht rein zufällig, sondern vorher geplant. Mein Onkel hatte die Idee, als ich ihn ein paar Stunden vor unserem Kennenlernen am Telefon gesprochen habe. Du warst der Auserwählte, der ihm den tödlichen Trank reichen sollte. Deshalb bin ich auf Dich eingegangen. Deshalb habe ich Dich zu mir eingeladen.
 
Verstehe mich nicht falsch! Du bist mir sofort sympathisch gewesen. Und – ich kann mir denken, dass Du mich jetzt hasst, aber glaube mir, es stimmt wirklich: ich habe mich ein wenig in Dich verliebt. Ich habe nicht deshalb mit Dir geschlafen, um Dir für Deine Hilfe zu danken, sondern weil ich es aus ganzem Herzen wollte. Ich habe mich danach gesehnt, in Deinen Armen zu liegen! Und es war schöner, als ich es mir in meinen tiefsten Träumen, solche, die jedes junge Mädchen von der körperlichen Liebe träumt, vorgestellt habe. Du hast mich zur Frau gemacht! Das erste Mal war nichts, genau gesehen, warst Du mein erster richtiger Mann! Und den vergisst eine Frau nie wieder in ihrem Leben!
 
Bitte verstehe mich, wenn ich jetzt Adieu sage! Es geht wirklich nicht anders! Wir können kein Leben zu zweit aufbauen, gar Kinder haben. Mein Onkel würde immer wie ein Schatten da sein! Und eines Tages würde unsere Beziehung daran zerbrechen.
 
Du wirst darüber hinwegkommen. Du wirst mich und die letzten Tage nicht vergessen, aber die Erinnerung daran wird verblassen. Es werden andere Frauen kommen. Ich spüre es, Du wirst ein glückliches und erfülltes Leben führen!
 
In Liebe
Elisabeth.’
 
Soweit der Brief, der mich völlig verwirrte. Ich wusste nicht, wie mir geschah.
 
Der Schock trieb mir die Tränen in die Augen. Ich weinte bitterlich. Ich trauerte, aber bald darauf waren es Tränen der Wut, Tränen des Trotzes, Tränen des Verlusts, Tränen des Abschieds.
 
Ganz benommen stand ich auf, zog mich an und ging ins Restaurant, um zu frühstücken. Ich brauchte jetzt einen starken Kaffee und etwas im Magen.“
 
Damit schloss das Blatt 16 ab. Ich überlegte, was ich in einer solchen Situation getan hätte. Sie zur Rede zu stellen oder gar zu einer anderen Entscheidung zu drängen, die doch noch einen weiteren Kontakt in Aussicht hätte stellen können, wäre der erste Gedanke. Der andere wäre, die ganze Angelegenheit als eine Lebenserfahrung zu begreifen, die das Leben reifer macht. Ich war gespannt, wie der Verfasser der „Lebensbeichte“ damit umgegangen ist.
 
 
Fortsetzung folgt.
 
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