BLOG vom: 23.09.2014
9 Gemeinden sollen den Aarauer Grössenwahn unterstützen
Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
Als sich die Schotten eben anschickten, über eine von rund 45 % des Volks gewünschte Unabhängigkeit abzustimmen, diese aber wegen der damit verbundenen Ungewissheiten mehrheitlich (45:55 Prozent) ablehnten, trafen sich am Abend des 17.09.2014 im Zentrum Bärenmatte in Suhr AG/CH Delegationen aus 10 Gemeinden, um sich mit einer allfällig verstärkten Zusammenarbeit (Interkommunale Zusammenarbeit = IKZ) oder gar Fusionen zur Stärkung der Stadt Aarau zu unterhalten, also über mehr Abhängigkeit. Das Fusionsgerede in dieser frühen Phase ging einigen Gemeindeoberhäuptern zu weit. Jedes Fachgebiet hat seine eigene Sprache; diesmal war viel planerische Hohlwörterei im Spiel – offenbar geht es nicht anders.
Der Suhrer Gemeindepräsident Beat Rüetschi sprach zur Begrüssung von einem „Startschuss für den funktionalen Raum“. Es gelte, die Bedeutung dieses Raums Aarau gegenüber anderen Regionen zu stärken ... im Hinblick auf eine höhere Lebensqualität, sagte er. Und die Stadtpräsidentin von Aarau, Jolanda Urech, bekannte, dass die Initiative im Hinblick auf eine Verstärkung der IKZ beziehungsweise Gemeindefusionen von der Stadt Aarau ausgegangen war, was man schon längst wusste. Man befinde sich in der Startphase, zu der Absichtserklärungen gehören. 10 Gemeinden hätten eine Grundsatzerklärung unterschrieben (Aarau, Biberstein, Densbüren, Erlinsbach AG, Küttigen, Muhen, Oberentfelden, Schönenwerd SO, Suhr und Unterentfelden; die Gemeinde Buchs verhält sich vorsichtiger und beschränkt sich auf einen Beobachterstatus). Die Vorbereitungen werden durch das „Kompetenzzentrum für Public Management (KPM)“ der Universität Bern vorangetrieben, das „gute Synergien schaffen“ (Urech) soll.
Als kompetenter Moderator bzw. „Imputreferent“ war an jenem Abend Dr. Reto Steiner vom KPM in Aktion, sekundiert von Claire Kaiser. Als Fusionsverkäufer zeigte er sich mit allen diplomatischen Wassern gewaschen, wies auf Vor- und Nachteile hin und gab sich „ergebnisoffen“ – die einzige Möglichkeit, nicht als Befehlsgeber wahrgenommen zu werden, wobei er eine Fusionitis-Tendenz nicht ganz verhehlen konnte, was auch Gemeindeammännern auffiel. Man erkennt die Liesel am Geläut.
Steiner tischte einige populärwissenschaftliche Fakten auf, so die Erkenntnis, dass sich der Schweizer zuerst mit seinem Land, dann mit seiner Gemeinde, und erst später mit dem Kanton und – ganz weit hinten – mit der Europäischen Union EU identifiziert. Er stieg mit einigen Harmlosigkeiten ins Thema ein: So erwähnte er eine IKZ selbst unter widerspenstigen Feuerwehren im Basellandschaftlichen, weil sonst das Versicherungsamt das neue Tanklöschfahrzeug nicht mitfinanziert hätte. Man verfahre also nicht nach einer Bombenwurfstrategie, folgerte er, die Zusammenschlüsse müssten von unten her erfolgen. Oft werden sie durch äussere Umstände erzwungen.
Doch wie die Globalisierung (Einheitswelt unter US-Befehl) – die Feststellung stammt von mir – läuft auch die Vereinheitlichung der Gemeinden wie ein unabwendbares Naturereignis weiter, angetrieben von wachstumseuphorischen städtischen Regionen und der Wissenschaft, die hier ihre Betätigungsfelder findet und Erfahrungen über die Lenkung der Bevölkerung sammelt. Reto Steiner sagte das nicht; er gab dafür Zahlen über das Gemeindefusionsgeschehen in der Schweiz bekannt: In den 26 Kantonen gibt es noch 2352 Gemeinden, die im Durchschnitt 1214 Einwohner haben (Biberstein liegt also leicht darüber). Die kleinste Gemeinde der Schweiz, Corippo mit dem denkmalgeschützten Dorfkern im Tessiner Bezirk Locarno hat eben noch 17 Einwohner, wobei die Gemeindeverwaltung gerade 1 Stunde pro Woche offen ist, was eigentlich verkraftbar sein müsste. Seit 1822 hat Corippo an der Selbständigkeit festgehalten; doch offenbar ist sie jetzt weich geworden – meines Erachtens jammerschade für den sich abzeichnenden Verlust einer Kuriosität.
Reto Steiner, ein glänzender und überzeugender Vortragsredner, der das Publikum um den Finger zu wickeln versteht und auch kombinierbare Staub- und Wassersauger an den Kunden zu bringen verstünde, wies auf den ohnehin ablaufenden Bedeutungsverlust der Gemeinden hin, weil immer mehr Aufgaben auf Kantonsebene gehievt werden müssen; er sprach von Joint-Venture-Allianzen (Gemeinschaftsunternehmen, bei denen die Partner die Führungsverantwortung und das Finanzrisiko gemeinsam tragen). Auch weil die Bevölkerung gegenüber der Öffentlichkeit immer fordernder werde, lägen viele Gemeinden wegen Überforderung auf der Intensivstation. Er benützte bei dieser Gelegenheit eine Parabel aus dem Medizinsektor: Es komme nicht darauf an, ob der Arzt sage, man sei gesund oder krank, sondern darauf, wie man sich selber fühle. Und den Schweizer Gemeindefinanzen gehe es im internationalen Vergleich hervorragend. Dennoch seien Kooperationen auf kommunaler Ebene (Fusionen) für sie eine Chance, die wahrgenommen werden: Jede 6. Schweizer Gemeinde sei ein aktuelles Fusionsobjekt, womit er wieder beim Thema war. Fusionen könnten die Finanzlage und das Dienstleistungsangebot verbessern, die Standortattraktivität erhöhen; aber bei der politischen Integration und der Motivation könnten Schwierigkeiten auftreten; ein Stellenabbau sei nicht zu erwarten, was überraschte.
Weil die Kommunikation sehr wichtig sei, wie Steiner sagte, wurde soeben eine Webseite aufgeschaltet:
Hier wird das weitere Vorgehen so beschrieben: „Bis Sommer 2015 wird vertieft untersucht, wie die Region für Bevölkerung und Wirtschaft sowie im Wettbewerb mit den anderen Regionen gestärkt werden kann. Geprüft werden die beiden Optionen ,Verstärkte Zusammenarbeit’ und ,Fusion’. Dabei interessieren die Auswirkungen auf die Regionalentwicklung, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, die demokratischen Prozesse, das Identitätsgefühl und die Finanzen.“
Mit derartigem Hintergrundwissen ausstaffiert, gruppierten sich die 10 Gemeindedelegationen und beantworteten auf Flipcharts vorgegebene Fragen: „Welches sind die Stärken und Schwächen Ihrer Gemeinde? Welches sind die Chancen und Gefahren einer verstärkten IKZ oder einer Fusion? Unter welchen Umständen kommt eine verstärkte IKZ oder Fusion in Frage, unter welchen nicht?“ Das war scheint’s die „Warm-up-Phase“, wie es in der Globalisierungssprache heisst.
Ich wirkte bei der von Gemeindeammann Peter Frei geleiteten Bibersteiner Gruppe mit. Wir trugen die Stärken von Biberstein zusammen: schöne Wohnlage, gute Finanzkraft, eine sich aktiv am Gemeindegeschehen beteiligende Bevölkerung usf. Bei den Schwächen wurden einige Vermisstmeldungen zusammengestellt: zu wenig Einkaufsmöglichkeiten, kein Arzt, keine Bank, fehlendes Altersheim. Dabei würde natürlich eine Fusion solch angebliche Mängel nicht beseitigen, sondern, ganz im Gegenteil, durch die Zentralismus (Aarau im Zenith) noch verschärfen. Im Hinblick auf die bereits vollzogene Fusion von Rohr mit Aarau hat – um ein bekanntes Beispiel zu nennen – die Hypothekarbank („Hypi“) Lenzburg ihre Rohrer Filiale auf Ende November 2008 geschlossen.
Einzelne Gemeindeoberhäupter durften die Attraktionen und Mängel ihrer Gemeinden vorstellen. Robert Wernli, Vizeammann aus Densbüren, lobte das familiäre Verhältnis in der Gemeinde, die sich weit über das Loch, in das die Kantonsstrasse abtaucht, hinaus erhebt.
Dieter Hauser aus Küttigen sprach von seiner selbstbewussten Gemeinde und gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass sich so viele Fragen mit einer Fusion befasst haben, was auch meinem persönlichen Empfinden entsprach. Er setzt vor allem auf die IKZ, die man brauche.
Die Aarauer Stadtpräsidentin Urech erlag dem Wachstumsdenken: Wenn die Stadt (durch Fusionen) wachsen könne, habe sie im kantonalen und nationalen Raum mehr Gewicht. Frau Urech warf auch beschwichtigende Begriffe wie „Heimat, Daheimsein, Verwurzeltsein“ in die Runde.
Der Suhrer Gemeindepräsident Rüetschi bezeichnete einige Fusionsrisiken: Unübersichtlichkeit, Verlust an Bürgernähe, Zunahme des bürokratischen Dschungels. Er strebt eine bessere Verteilung der Zentrumsfunktionen an.
Für Schönenwerd im Kanton Solothurn kommt eine Fusion mit Aarau ohnehin nicht in Frage, wie Gemeindepräsident Peter Hodel sagte, obschon man mit dieser Stadt jenseits der Kantonsgrenze eine engere Verbindung als mit Olten habe („Uf Aarau gömmer, uf Olte müemer“). Aus Muhen und Oberentfelden kamen entsprechend distanzierte Töne. Urs Heuri aus Oberentfelden wunderte sich, dass in dieser frühen Phase schon so sehr auf Fusionsdetails herumgeritten wurde.
Nicht befragt wurden Biberstein, Erlinsbach und Unterentfelden, was ich spasseshalber als symptomatisch empfand: Eine Mitsprache ist nicht in allen Fällen gewährleistet ...
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Kommentar
Mit diesem Blog habe ich aus meinem persönlichen Standpunkt als Globalisierungsgegner und Befürworter der befruchtenden Vielfalt in allen Belangen des Lebens wiedergegeben, wohlwissend, dass man aus anderen Standorten heraus zu anders gelagerten Ansichten gelangen kann. Die Arbeit entspricht also nicht unbedingt der Bibersteiner Haltung. Doch wenn ich die allgemeine Stimmung im Ortsbürgersaal der Suhrer Bärenmatte richtig interpretiere, war doch eine unverkennbare distanzierte Zurückhaltung dem universitären Fusionsgerede gegenüber zu verspüren. Selbst Reto Steiner musste ehrlicherweise zugeben, dass die Gemeinden rund um Aarau derart gut aufgestellt seien, dass sich eigentlich keine Gemeindezusammenschlüsse aufdrängen.
Meine persönliche Schlussfolgerung: Man stochert zwischen künstlich erzeugten und eloquent kommentierten Luftblasen herum, die hoffentlich lieber früher als später zerplatzen werden, auch aus Kostengründen und weil es in den Gemeinden angeblich genügend sinnvolle(re) Arbeiten gibt. Sonst muss man am Ende auch das Fusionieren auslagern, outsourcen (um in der Terminologie zu verharren).
Hinweis auf frühere Blogs über den Zukunftsraum Aarau
Hinweise auf weitere Blogs über die Globalisierung von Walter Hess
20.12. 2005: Der WTO-Minimal-Kompromiss: Bloss Brosamen für Arme
21.07.2005: Übel aus dem Osten, aus dem Westen nichts Neues
07.07.2005: Bomben in London City: Die Olympiade der Gewalt
07.07.2005: Wieder Terrorismus in dieser besten aller Welten
21.06.2005: SP und Gewerkschaften verschaukeln ihre Genossen
04.03.2005: Hunter S. Thompson und die fiktive Wirklichkeit
01.02.2005: WEF 2005: Schminke über Globalisierungspleiten
31.12.2004: Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff
Buchhinweis
Hess, Walter, und Rausser, Fernand: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“, Verlag Textatelier.com GmbH, CH-5023 Biberstein 2005. ISBN 3-9523015-0-7.
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