Textatelier
BLOG vom: 25.09.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (14)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Die „Lebensbeichte“ des Verfassers, so fiel mir auf, konnte man nicht mit dem üblichen Lebensverlauf junger Leute vergleichen. Die Bekanntschaften, die er beschrieben hat, hatten etwas mit dem Tod zu tun. Für junge Leute ist der Tod weit weg, der Gedanke daran wird, wenn nicht verdrängt, so doch für spätere Zeiten aufgehoben. Hier war es ungewöhnlich anders. Ich, als Leser dieser Autobiographie, interessierte mich dafür, wie der Schreiber damit umgegangen ist.
 
Ich nahm mir die nächste Seite vor. Sie begann mit einem Zitat aus einem Gedicht von Joseph von Eichendorff. Die Belesenheit des Verfassers erstaunte mich. Er suchte Parallelen zu seinem Leben in der Literatur, und vermeintlich fand er sie auch. Die Quelle, aus der er zitierte, hatte er dazu geschrieben. Das Buch ist in einer Reihe, die sich „Klassiker der Weltliteratur“ nannte, 1947 erschienen und vereinigt Gedichte und den Roman „Aus dem Leben eines Taugenichts“ des Dichters der Romantik. Das Gedicht hat den Titel: 
Trennung
„Du gehst nun fort, sprachst du, ich bleib alleine:
Ach! Dürft ich alles lassen, still und heiter
Mit dir so ziehn hinab und immer weiter ‒
Ich sah dich an, es spielten bleiche Scheine
so wunderbar um Locken dir und Glieder;
So ruhig, fremd warst du mir nie erschienen,
Es war, als sagten die versteinten Mienen,
was du verschweigst: Wir sehn uns niemals wieder!“ 
Da war ich nun, und wusste nicht mehr, was mich noch hier hielt. Ich hatte keinen Blick mehr für die Schönheit der Landschaft, für die blühenden Gärten und für die leisen, sich kräuselnden Wellen, die ans Ufer des Bodensees liefen. Ich dachte an die vergangene Nacht, Elisabeth ging mir nicht aus dem Kopf. Aber sie war, so ganz plötzlich, so ganz unerwartet, unerreichbar fern. Der Brief, den sie mir hinterliess, hatte so einen ruhigen, ernsten, festen und bestimmten Ton. Sie hatte noch Gefühle für mich, aber sie wollte sie vergessen, in die Schublade „Tod des Onkels“ ablegen. Es war der Abschluss eines Kapitels, schon ein paar Stunden nach den Geschehen der letzten Tage, ja der letzten Wochen, wenn ich das Kennenlernen mitrechnete, nur noch Vergangenheit.
 
Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern. Man kann sie verdrängen, ihr nachtrauern, sich zu ihr zurücksehnen, aber sie kommt niemals wieder. Bei mir war die Schublade ‚Elisabeth‘ noch geöffnet, ihr Bild lag noch oben auf.
 
Ich war entschlossen, sie nicht abrupt, sondern nur langsam, von Tag zu Tag, von Monat zu Monat langsam zu schliessen. Ich musste mich damit abfinden: „Wir sehn uns niemals wieder!“ So ist es auch geschehen. Es gab keinen Kontakt mehr mit ihr, sie hinterliess eine Lücke.
 
Ich packte meine Sachen und verliess das Hotel. Ich hatte noch Urlaubstage. Deshalb entschloss ich mich, durch den Schwarzwald nach Freiburg im Breisgau zu fahren. Ich hatte schon viel von der Stadt gehört, eine Studentenstadt. Ich wollte sie mir ansehen.
 
Es war eine schöne Fahrt durch die waldreiche Landschaft. In Freiburg fragte ich mich nach einem Campingplatz durch, der nicht weit von der Innenstadt entfernt war, nahm den Bus, und kaum 20 Minuten später baute ich schon mein Zelt auf dem Platz auf. Er war malerisch gelegen, unweit des Flusses, der durch Freiburg fliesst, der Dreisam. Ich spazierte an ihm entlang und kam bald in die Innenstadt. Der Dom überragte alles. Unterhalb des Doms gab es Lokale; ich hatte Hunger und genehmigte mir ein gutes Mittagessen. Danach machte ich einen Bummel durch die Stadt. Zwischen den Strässchen und den Bürgersteinen plätscherten in einer Vertiefung kleine Rinnsale. Das Schwabentor und das Martinstor umrahmten die Altstadt sehr malerisch.
 
Einer Schrifttafel am Martinstor entnahm ich, dass in Freiburg 1599 3 Frauen als Hexen verbrannt worden waren, und ich hatte den Einfall. Elisabeth könne eine Hexe sein, die mich in ihren Bann gezogen hatte. Ich hatte das getan, wofür ich von ihr und ihrem Onkel ausersehen worden war, und am Ende hatte sie mich verführt. „Soll sie doch im Feuer lodern!“, dachte ich, aber nur einen kurzen Augenblick, dann wurde mir das Absurde dieses Gedankens bewusst.
 
Gegen solche Grübeleien musste ich etwas tun, am besten etwas, was mich ein wenig herausforderte. So ging ich zur Münsterkirche, ein gotischer Dom mit einem hochaufragendenden Turm, den ich über eine enge Wendeltreppe bestieg. Der Turm wurde im Jahre 1330 fertiggestellt und ist 116 m hoch. Während ich mich immer weiter nach oben bewegte, musste ich daran denken, wie viele Menschen in den Jahrhunderten bereits auf diesen Turm gestiegen sind, der übrigens im 2. Weltkrieg nicht zerstört worden war. Der Blick vom Turm war überwältigend, ich sah den dicht bewachsenen Schwarzwald, der sich wie ein Wurm von Norden nach Süden hinzog und in westlicher Richtung den Kaiserstuhl, ein kleines Gebirge, an dem riesige Flächen für den Anbau von Wein durch Menschenhand entstanden waren.
 
Das war alles viel eindrucksvoller als die Industrielandschaft, in der ich gross geworden war und in der ich jetzt lebte und arbeitete.
 
Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick, nicht für ein Mädchen, sondern für eine Stadt und ihre Umgebung. Hier, so dachte ich, könnte ich mich wohlfühlen.
 
Damit endete diese Seite. Ich, der Leser, kenne diese Stadt und konnte den Verfasser der „Lebensbeichte“ gut verstehen. Ich war gespannt, wie sein Leben weiter verlaufen würde.
 
Fortsetzung folgt.
 
Hinweis auf die bisherigen Kapitel der „Lebensbeichte“
 
 
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