BLOG vom: 28.09.2014
Im Zweifel Nein: Keine Einheitskasse, keine MwSt-Harmonie
Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
Nein und nochmals Nein sagten die Schweizer Stimmberechtigten nach lauen Abstimmungsdiskussionen: keine Einheitskasse (62% Nein), keine geringere Mehrwertsteuer fürs Gastgewerbe (72 % Nein).
Weltbewegend waren diese Abstimmungsgeschäfte, die am 28.09.2014 auf schweizerischer Ebene zu tätigen waren, nicht. Sie betrafen, genau genommen, 2 Volksinitiativen namens
-- „Schluss mit der Mehrwertsteuer-Diskriminierung des Gastgewerbes!“
und
-- „Für eine öffentliche Krankenkasse“.
Die Wurst im Restaurant
Somit handelte es sich um 2 auf Vereinheitlichung abzielende Vorstösse. Die schwer begründbare Mehrwertsteuer(MwSt)-Differenz bei gastgewerblichen Leistungen sollte beseitigt werden, was immer wieder an diesem Bratwurst-Beispiel dargelegt wurde: Kauft man diese beliebte Spezialität, die in grillierter Form jedes Fest begleitet und auch in der Alltagsküche einen Ehrenplatz einnimmt, an einem Imbissstand und nimmt man sie mit (Take-away), wird sie mit einem reduzierten MwSt-Satz von 2.5 % besteuert, dem gleichen Steuersatz, der für Läden gilt. Isst man die gleiche Wurst aber in einem Restaurant, wird sie zum Produkt einer gastgewerblichen Leistung empor stilisiert, und sie wird als solches mit 8 % besteuert, weil „der gastgewerbliche Service mehr als nur die Abgabe von Essen umfasst“, wie es im amtlichen Abstimmungsbüchlein heisst. Dem entgegnete BDP-Nationalrat Lorenz Hess mit einer delikaten Gegenüberstellung: „Es kann nicht sein, dass das MwSt-System das Mittagsmenu mit einer dreimal so hohen Steuer belegt wie Trüffel oder Kaviar aus dem Delikatessengeschäft.“ Man wird also gut daran tun, seinen Kaviar auf einer Parkbank zu verzehren.
Verständlicherweise fühlte sich das Gastgewerbe diskriminiert, und es wollte, auch zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit und zur Stärkung des Tourismusstandorts Schweiz, den gleich tiefen Steuersatz wie die Take-aways. Viele Stimmberechtigte befürchteten, die Minderkosten würden nicht an die Gäste weitergegeben. Durch die Steuersatzherabsetzung wären dem Bund etwa 700‒750 Mio. CHF pro Jahr entgangen, weil auch andere Esswaren und alkoholfreie Getränke betroffen gewesen wären. Deshalb lehnten Bundesrat und Parlamentsmehrheit die Initiative ab. Und das Volk folgte dieser Empfehlung, wohl nicht zuletzt wegen der etwas abenteuerlichen bundesrätlichen Drohung, bei einer Annahme der Initiative müssten alle Lebensmittel mit einer höheren MwSt belegt werden, ein Totschlagargument.
Komplexes Krankheitsgewerbe
Die SP-Initiative für eine Einheitskasse im Krankheitswesen, was die obligatorische Grundversicherung anbelangt (bei den Zusatzversicherungen würde sich so oder so nichts ändern), fand vor dem Souverän ebenfalls keine Gnade; schon 1994, 2003 und 2007 gab es entsprechende Vorstösse, die ins Leere liefen. Die Deutschschweiz lehnte diesmal wieder klar ab, die Westschweiz stimmte zu – der Graben mit der Rösti passt kulinarisch zu den Bratwürsten.
Der Entscheid wurde vor dem Hintergrund der ständig steigenden Krankheitskosten gefällt, die einen Krankenkassen-Prämienanstieg bewirken (für 2015 sind 4 % Prämienaufschlag zu erwarten – vom bestehenden hohen Niveau aus gerechnet). Dieser in manchen Familien ruinösen Erscheinung wollte ein Initiativkomitee entgegentreten. Es verlangte eine Einheitskrankenkasse statt der über 60 mit unterschiedlichem Geschick geführten privaten Krankenversicherungen, die viel Geld (über 200 Millionen CHF) für eine aufwändige Jagd nach neuen Kunden und politisches Lobbying veranstalten – bis hin zu nervenden (und somit gesundheitsschädigenden) Telefonanrufen. Die vielen Kassenwechsel von Leuten, die billigeren Angeboten zustreben, verursachen ebenfalls hohe administrative Kosten. Die Krankenkassen beanspruchen 5 % als Verwaltungskosten, sind also umsatzorientiert: höhere Umsätze = höhere Verwaltungskostenanteile.
Die Befürworter einer Einheitskasse sahen in der Einheitskrankenkasse eine Möglichkeit zur Kosteneinsparung. Trotzdem werden die Gesamtkosten gleichwohl munter weitersteigen, höchstens leicht gebremst. Als Gründe werden das „Älterwerden der Bevölkerung“ (als ob das Alter eine Krankheit sei) und der Ausbau des medizinischen und medizintechnischen Angebots genannt. Selbstverständlich kann es nicht so weitergehen. Vor allem muss die überbordende Selbstbedienung im Krankheitsladen eingeschränkt werden, vorerst einmal die missbräuchliche.
Die Gegner der Einheitskrankenkasse (Bundesrat und Bundesversammlung sowie die Kantone Genf, Neuenburg, Waadt und Jura gehören dazu) befürchten eine weitergehende Verstaatlichung des Krankheitswesens (beschönigend Gesundheitswesen genannt) – einen gelenkten Wettbewerb haben wir zwar bereits – und eine Einschränkung der freien Arztwahl. Jedenfalls war die Verunsicherung in allen Belangen gross: Das Volk stand vor einem Geschäft mit vielen Unbekannten, viel Unvorhersehbarem: Wie würden sich die Kosten mit oder ohne Einheitskrankenkasse entwickeln, und welches wären die anderweitigen Folgen? Dieses System ist nicht mehr zu kurieren und dürfte somit für längere Zeit unsanft entschlafen sein.
Basel, Tessin, Graubünden, Schwyz, Genf, Aargau
Eine weitere Vereinheitlichung (hin zu einem Monopol) wurde verworfen: Der Fusionsprozess der beiden Basler Halbkantone – ein Signal gegen die allgemein grassierende Fusionitis.
Und eine Anbindung finanzieller Natur an die Expo 2015 in Mailand wollen die Tessiner nicht; es ging um 3.5 Mio. CHF. Das Volk befürchtete mehrheitlich, dass das Geld im bankrotten Italien versickern würde.
Demgegenüber nahm der Kanton Graubünden die Reform des interkommunalen Finanzausgleichs an. Die Gegner sprachen von einer „verkappten Fusionsvorlage“, was angesichts des ungeheuren Fusionsdrucks, unter dem die Gemeinden stehen, nicht von der Hand zu weisen ist.
Der ausgesprochen steuergünstige Kanton Schwyz wird die Steuern vorerst für die Reichen (Gutverdienende und Vermögende) erhöhen, um der Staatsverschuldung zu entgehen. Dies ist eine Folge des nationalen Finanzausgleichs, der die erfolgreich wirtschaftenden Kantone bestraft.
Die Genfer verzichten auf einen Strassentunnel unter dem See bzw. Hafenbecken.
Und im Aargau muss die Politikfinanzierung nicht offengelegt werden. Die entsprechende Volksinitiative wurde mit 56 % Nein-Stimmen verworfen. Nur die Kantone Genf und Tessin kennen Vorschriften über die Parteienfinanzierung und die Geldgeber für Wahl- und Abstimmungskämpfe. Eine Staatengruppe des Europarats (Groupe d'Etats contre la corruption; GRECO) redete der Schweiz diesbezüglich drein und übersah, dass das private Engagement keine Sache des Staats ist ... und dass dies das Ausland überhaupt nichts angeht und dies mit Korruption nichts zu tun hat. Solche Einmischungen sind die Folge der Globalisierung, ein Wildwuchs, der zurückgebunden werden muss.
*
Das Volk in der Schweiz hat gesprochen, und was immer das Volk sagt, ist richtig und gilt. Punkt. Die Entscheide zu den 2 nationalen Vorlagen können auf einfache Weise begründet werden: Ihre Auswirkungen waren kaum abzuschätzen, also diffus. Und immer wenn keine Klarheit gegeben ist, sagt das Schweizervolk Nein und bleibt beim Alten, ob es in allen Teilen befriedigend und bewährt gewesen sein mag oder auch nicht. Vorsicht ist die Mutter auch jener Porzellankisten, die auf dem politischen Parkett herumstehen.
Wir stärken uns nach geschlagener Abstimmungsschlacht mit Bratwürsten und Röstibergen.
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