BLOG vom: 19.10.2014
DOK-Film James Schwarzenbach: Fragmentarische Realität
Autor: Pirmin Meier über den SRF-DOK-Film „Gegen das Fremde – Der lange Schatten des James Schwarzenbach“
Ein Dokumentarfilm gibt, fast noch stärker als ein sich selber stimmiger Spielfilm, nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit.
„Man hat Arbeitskräfte gerufen, es kommen Menschen“, lautet der meistzitierte Satz von Max Frisch. Für die Lebenswirklichkeit des Jahrhundertautors waren Gastarbeiter aus Italien so wenig bedeutend wie für James Schwarzenbach, der sich in einer Dokumentarszene von einem Vertreter der Arbeitswelt vorwerfen lassen musste, dieselbe nicht konkret zu kennen. Ein Vorwurf, der eher stimmte als dass Schwarzenbach, wie stereotyp unterstellt wird, ein „Fremdenfeind“ gewesen sein soll.
In seiner Einmannzeitung „Der Republikaner“ (die er aus dem Erbe von Aargauer-Volksblatt-Redaktor Johann Baptist Rusch aufgekauft hatte) schrieb er noch 1963, dass ein Einwandererkind aus Jugoslawien sehr wohl ein guter Schweizer sein könne. Damit sprach er das Bekenntnis zur „Willensnation“ an. Bei Afrikanern war aber bei Schwarzenbach, der noch 1972 in Rhodesien dem weissen Rebellen-Premier Ian Smith die Aufwartung gemacht hatte, die Toleranzkapazität ausgeschöpft. Seine Einstellung gegenüber dem südlichen Afrika war, wie ich mich aus Gesprächen erinnere, von Begeisterung für die weissen Buren geprägt. Diese Haltung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz Standard. Man trifft sie auch beim christlichsozialen Autor Heinrich Federer, der, wie nach ihm Schwarzenbach, eine Zeitlang Redaktor der katholischen „Neuen Zürcher Nachrichten“ war. Die Textsorte der Kolumne und des betrachtenden Leitartikels beherrschten beide in Perfektion.
Unter den von Beat Bieri interviewten Personen beeindruckte mich vor anderen der Autor Peter Bichsel, eher weniger eine italienische Seconda, die man für so explizite Negativaussagen wohl eigens suchen musste. Bichsel war schon zu Schwarzenbachs Zeiten ein beeindruckender Kritiker. Er griff den wenig erfolgreichen Autor und Verleger nie persönlich an, sondern war an Hintergründen interessiert. Also kritisierte er die die Lesebücher, mit denen nicht nur die Ja-Stimmer von 1970 aufgewachsen waren. Beim Vergleich Schwarzenbach – Christoph Blocher beeindruckte bei Bichsel, dass es, bei allem Fragwürdigen des grossbürgerlichen Einzelgängers, Schwarzenbach persönlich nie um Macht gegangen sei, was bei Blocher anders gesehen wird. Beispielsweise war der Bruch zwischen SVP und BDP, abgesehen von gravierenden Meinungsverschiedenheiten, aus meiner Sicht das Resultat eines Machtkampfs. Blocher, im Gegensatz zu Schwarzenbach ein „richtiger“ Parteiführer, war wie dieser nie geneigt, eine Volkspartei mit heterogenen Flügeln in der Art der deutschen CDU zu führen, womit am ehesten das mutmassliche Schweizer Wählermaximum von etwa 33 % erreichbar bliebe. Darum wollte er vor seiner Abwahl nichts davon wissen, obwohl es früher mal bei einzelnen Parteikadern erwogen wurde, die Bündner Dissidentin Brigitta Gadient zur Bundeskanzlerin zu erheben. Damit hätte man den Gemässigten, die mit Amt und Karriere bei Laune zu halten sind, entgegenkommen können. Wäre Gadient kurz vor der Bundesratswahl Bundeskanzlerin geworden, ist nicht sicher, ob für Eveline Widmer-Schlumpf das Bundesratsamt noch annehmbar gewesen wäre. Das bleibt Spekulation.
Bei Schwarzenbach hätte der Film deutlicher machen müssen, dass er ein hochgebildeter Intellektueller war. Literaten haben nicht selten ein gestörtes Verhältnis zur Macht und eignen sich, ob links oder rechts, kaum als politische Führer. Das war Schwarzenbach nie, trotz widerwärtiger Verehrung für diverse Potentaten, besonders in „lateinischen“ Ländern. Ex-Sekretär Ueli Schlüer, der sich im persönlichen Umgang normalerweise durch Sachkenntnis statt Polemik auszeichnet, hat Schwarzenbach in dieser Hinsicht richtig charakterisiert.
Helmut Hubacher hat die damalige politische Situation in der Zeit Schwarzenbachs realistisch eingeschätzt, zumal was die enormen Spannungen bei den Gewerkschaftlern betraf. Dass diese sagten, Schwarzenbach „habe recht“, empfand er mit Grund als alarmierend. Der mit Max Frisch gleichaltrige Arbeiterschriftsteller Karl Kloter (1911–2002) aus Lengnau AG hatte im Gegensatz zu Frisch als Gewerkschafter in der Betriebskommission von Siemens-Albis täglich mit Gastarbeitern zu tun. Er schrieb sogar mit „Salvatrice“ (1969) einen Roman, gemäss Empfehlungen des Verlages und der Parteifreunde ein „Buch eines Arbeiters gegen die Schwarzenbach-Initiative“. Kloter war dagegen, dass Ausländer ausgeschafft werden. Trotzdem formulierte der bedeutendste Schweizer Arbeiterschriftsteller seit Jakob Bührer so, wie es Frisch nie gesagt hätte: „Sie kamen wie die Heuschrecken.“ Der Satz blieb stehen, weil kein Lektor den manchmal schwerfällig formulierenden Aargauer korrigierte.
Als Zeugnis, wie die Schweizer Arbeiterschaft damals dachte, steht Kloters Ausrutscher für die Realität, Frischs vorzüglich gewählter Satz für ein Gutmenschentum, für das der Starautor die Realprobe nicht ablegen musste. Aber Frisch konnte besser schreiben als Kloter, und es stand ihm zu, für die Schweiz einen Jahrhundertsatz zu formulieren. Tiefer als Frisch sah wohl Bichsel die Problematik. Für Kloter, welcher nach eigenem Bekenntnis der Schwarzenbachinitiative nur „um ein Haar“ nicht zustimmte, gilt, was für die Frau des ehemaligen italienischen Linksaktivisten Sergio Giovanelli im Fernsehinterview peinlich wurde: Arbeiter und Unterschichtmenschen mit noch starken Gefühlen haben Mühe, so zu stimmen, wie es Menschen auf dem Niveau von Max Frisch oder wenigstens des Bundesrates gerne sähen. Diese Szene aus dem Film von Beat Bieri scheint epochal. Giovannelli ist für seine Generation von Gastarbeitern so repräsentativ wie es Kloter für die Schweizer Arbeiter war, als sie noch fast geschlossen für die SP stimmten.
Was weder Hubacher noch Bieri gelungen ist, auch nicht Karl Lüönd und weder Blocher noch dessen Schwager Sergio Giovannelli, ist ein annähernd gelungenes Porträt Schwarzenbachs. Auch Valentin Oehen sah den Schwierigen fast nur als Rivalen. Dass Schwarzenbach, wie Kommunisten, die Diktatur nicht nur schlecht fand, dem lebte er auch in seiner „Republikanischen Bewegung“ nach. Nach dem Wahlsieg dieser Partei im Aargau (1973) verbot er dem damals politisch stärksten Repräsentanten derselben, dem Jungverleger Herbert Meier (später SVP-Grossrat), Fraktionspräsident zu werden. „Widersprechen Sie im Militär Ihrem Vorgesetzten auch immer?“, fragte er Meier, der im Kanton immerhin Motor jenes Wahlsieges gewesen war. Dabei sollte man Schwarzenbachs Meinung zum Franco-Spanien nicht überbewerten. Sein demagogischer Satz aus der Bundesfeieransprache auf der Forch wurde von Beat Bieri im Film nicht zitiert: „Die Schweiz ist eine demokratisch getarnte Wirtschaftsdiktatur.“ Ich widersprach damals Schwarzenbach. Diese Wortwahl passe besser zu Jean Ziegler als zu dem Mann, der einst zu den besten Schülern von Geschichtsprofessor Oscar Vasella gehört hatte. Aber auch Niklaus Meienberg war – wie Schwarzenbach – Vasella-Schüler.
Nach meiner Meinung liegen Hubacher und andere daneben, wenn sie sich selber als die „anständigen“ Schweizer sehen und Schwarzenbach und Co. als Fremdenhasser. Weil ich Schwarzenbach schon seit 1964 kannte, schon damals vom Winterthurer Beethoven-Biographen Willy Hess vor dessen Charaktermängeln gewarnt worden war, war mir sein überdurchschnittliches Hasspotential nie unbekannt. Es betraf die Schweizer Eliten, die ihn fast immer wie einen Aussätzigen behandelten und den Tarif für die Toleranz in diesem Lande erklärten. Aber weder in Briefen noch in Gesprächen kam je persönliche Abneigung gegen Gastarbeiter durch.
Es stimmt auch nicht, wie Lüönd unterstellt, dass er die eigenen Anhänger pauschal verachtet hätte. Der Mann, der sich in 6 Sprachen ausdrücken konnte, auch ein guter Lateiner war, war den meisten Zeitgenossen bildungsmässig haushoch überlegen. Dies galt auch für die Mehrheit der National- und Ständeräte, wobei im bürgerlichen Lager CVP-Grössen wie Julius Binder, Leo Schürmann und Raymond Broger, ferner Kalte Krieger wie Peter Sager und Walther Hofer vielleicht eine Ausnahme bildeten. Mit Kurt Furgler, der ihm in der Dossierkenntnis keinen Stich liess, verstand sich Schwarzenbach allerdings wie Feuer und Wasser.
Wer Schwarzenbach wirklich kannte, und dies war wohl am besten über Gespräche in Richtung Literatur, Geschichte, Philosophie und Religion möglich, scheut nicht vor einem Vergleich zurück mit seiner verhassten Cousine Annemarie, die ihn ebenfalls nicht mochte. Beide sind als extrem einsame exzentrische Menschen aus ihrem grossbürgerlichen Clan ausgebrochen: Annemarie schwärmte für Wladimir Iljtsch Lenin und Josef Stalin, in dessen Sowjetdiktatur die Frauen, das Recht nichts zu sagen zu haben, emanzipierter geniessen konnten als in der Schweiz, und schrieb ein fast „rassistisches“ Buch über Afrika. James wurde durch einen Jesuiten katholisch, was wie Annemaries Kommunistenfreundlichkeit ein Ausbruch aus der Familie war.
Gegen das Bettnässen war er als Bub mit der Reitpeitsche therapiert worden, was für später keinen lieben und netten Politiker produzierte. Ob der wie andere Strenggläubige unglücklich verheiratete Privatmann Schwarzenbach im Leben je Liebe erfahren hat, über die Gottesliebe und den Umgang mit Hunden hinaus, kann nicht als erwiesen gelten. Er hatte aber einige mit dem Wohl der Schweiz kompatible Überzeugungen und konnte, wie Tugenddiktator Maximilien de Robespierre, als total unbestechlich gelten. Dass er und nicht ein anderer in Bern sass, merkte man im Bundeshaus fast von Session zu Session. Mit zunehmendem Alter banalisierten sich seine politischen Vorstellungen. Zuletzt soll er mit der Autopartei sympathisiert haben.
Es muss einen nicht reuen, mit Schwarzenbach, aus seiner Generation eine historische Figur, näher bekannt gewesen zu sein. Die Abweichung vom Normalfall eines Politikers war hoch. Jenseits einer radikalen Abrechnung, die ich vor 41 Jahren gegen ihn schrieb, bekenne ich heute nach Versen von Friedrich Nietzsche: „Was er lehrte,/ ist abgetan./ Was er lebte,/ wird bleiben stahn./ Seht ihn nur an:/ Niemand war er untertan!“
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