Textatelier
BLOG vom: 04.11.2014

Neue Kalifenreiche: Wenn Glaubensfreiheit zum Fluch wird

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Sie ist ein unbestrittenes Recht, auf das niemand verzichten möchte: die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die schweizerische Bundesverfassung (BV) schützt sie mit dem Artikel 15:
 
„Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.
Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.
Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen.
Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.“
 
Das heisst also, dass jedermann das Recht hat, eine Religion seiner Wahl auszuüben. Und zudem existiert auch die negative Religionsfreiheit, also das Recht, vor der Religion oder einem bestimmten religiösen Bekenntnis geschützt zu sein und seiner irreligiösen Überzeugung nach Belieben Ausdruck zu geben, wie dieses Blog beweist. Ich fühle mich unter der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Ludwig Marcuse) frei, fühle mich wohl, vermisse auch das Dach nicht, das mir den Blick zum Himmelsblau versperren würde. Auch muss niemand an eine Kultusgemeinschaft, der er nicht angehört, Steuern bezahlen. Das sind garantierte, unbedingt erhaltungswürdige Grundrechte. Das Staatskirchenrecht regelt die öffentlich-rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften, in der Schweiz meistens auf Kantonsstufe.
 
Für mich persönlich bedeutet Religionsfreiheit (Synonym für Glaubensfreiheit) die Möglichkeit, frei von der Anbindung an eine Religion zu sein. Man könnte dafür auch den Begriff Religionslosigkeit verwenden. Martin Heidegger sprach in solchen Zusammenhängen vom „Fehl Gottes“, also vom Wegbleiben Gottes, und der jüdische Martin Buber hat diesbezüglich den Begriff „Gottesfinsternis“ (auch als Buchtitel) in die Welt der grossen Denker gesetzt, worin er „Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie“ (Untertitel) anstellt. Dietrich Bonhoeffer seinerseits vertrat die Auffassung, die „mündige Welt“ brauche ihn nicht: den „Vormund Gott“, und dessen Gebrauch für die sogenannten letzten Fragen ‒ Tod, Schuld ‒ liesse sich womöglich ebenfalls erübrigen.
 
Muss Religion denn sein?
Erstaunlicherweise gab es noch nie ein Volk ohne Religion, offenbar aus einem Bedürfnis nach Massenkultur heraus geboren, die dem Individualismus als erstrebenswertester Form des Daseins merkwürdigerweise vorgezogen wird. Als eines der (schein-)religiösesten Länder gelten die USA mit der McDonaldisierung des Sekten- und Predigerwesens auf brutalem, vereinnahmendem und geschäftlichem Hintergrund. Der weltliche, medienverstärkte Starkult, massenmedial beflügelt, kann ein moderner Ersatz dafür sein. Irgendwie beschafft sich ein Volk seine Opium-Derivate immer.
 
Die Religionen zielen darauf ab, den ganzen Menschen in allen Phasen seiner Entwicklung und damit die Gemeinschaften zu umfassen und zu lenken, was zum Beispiel im Christentum durch die Kirche bewerkstelligt wird, wobei diese zur Zeit an Einfluss verliert, was zu begrüssen ist. Wegen der Vereinnahmung der Menschen und ihres Lebensstils geraten die Religionen in einen Konflikt mit den Staaten, die, ob unter demokratischen oder anderen Verhältnissen, ebenfalls Einfluss auf die Gemeinschaft der Menschen nehmen. Sie haben wie die Religionen ihre eigenen Vorschriften (Gesetze), die sie befolgt haben wollen und die ihren eigenen Zielen dienen; im Idealfall sind diese Gesetze zum Nutzen des Volks. Ganz schlimm war es für die Untertanen, wenn sich staatliche und religiöse Institutionen zu einem Machtkartell zusammenschlossen, wie man aus der Geschichte weiss. Dadurch hatte man die Volksmassen fest im Griff.
 
Die Religion ist das Gesetz
Der Islam weicht davon ab, in dem die auf dem Koran fussende Scharia das religiöse Gesetz ist, das der Mensch kritiklos zu akzeptieren hat. Es gilt für „das gesamte religiöse, politische, soziale, häusliche und individuelle Leben sowohl der Muslime als auch das Leben der im islamischen Staat geduldeten Andersgläubigen insofern, als ihre öffentliche Lebensführung dem Islam und den Muslimen in keiner Weise hinderlich sein darf“ (Wikipedia). Somit gibt es im Islam nur ein religionsgesteuertes, aber kein staatliches Recht. Infolgedessen haben in anderen Kulturkreisen lebende Muslime, wenn sie exakt ihrer Religion verhaftet (unterworfen) sind, keine Möglichkeit, abweichende Verhaltensregeln zu befolgen; es ist ihnen verwehrt, sich andersartigen kulturellen Sitten und Gebräuchen zu unterwerfen, besonders die ultrakonservativen Salafisten, aus denen viele kampfbereite Islamisten hervorgehen, die auch zu Selbstmordattentaten bereit sind und als Dank dafür schnurstracks im Paradies mit all seinen Annehmlichkeiten wie den berühmten Jungfrauen landen ... Das führt zu schweren Konflikten auf allen Seiten.
 
Eine gewisse Verbandelung zwischen Staat und Religion ist auch in unserem christlich geprägten Kulturraum auszumachen – über das Einziehen der Kirchensteuern durch den Staat hinaus. In der Parteienlandschaft kommt das zum Ausdruck, so etwa bei der Christlichdemokratischen Volkspartei CVP, deren C heute bei der zunehmenden Säkularisierung (Verweltlichung) für die serbelnde Partei zur Hypothek wird. Ein vernunftbestimmtes Handeln wird zunehmend einem fundamentalistischen vorgezogen. Die aus der Wüste stammende, konfuse Bibel mit ihren Darstellungen von Grausamkeiten übelster Art, wie sie einem rachsüchtigen, strafenden Gott gefallen, muss schwer zurechtgebogen werden, damit sie von einer Art Hitzeschaden zur Leitlinie in gemässigteren Klimazonen werden kann. Die CVP gibt sich entsprechend Mühe, ihr C zu relativieren, wird den Klotz am Bein aber nicht so schnell los.
 
Trennung von Staat und Kirche
Moderne Bestrebungen laufen (seit der Reformation) auf eine strikte Trennung von Kirche und Staat hinaus, was eine saubere Lösung wäre. Die Religionsfreiheit wäre dann noch so etwas wie eine Vereinsfreiheit – ohne feste Beziehungen zum Staat, der höchstens noch einen weiten Rahmen bereitstellen würde. Doch war eine deutliche Mehrheit (78.9 %) des Schweizer Volks am 02.03.1980 noch nicht reif für solch einen bereinigenden Schritt; damals wurde über die Volksinitiative „betreffend der vollständigen Trennung von Staat und Kirche“ durch Änderung des Artikels 51 der (alten) Bundesverfassung abgestimmt.
 
Der junge Kanton Aargau hob 1841 alle Klöster auf seinem Gebiet auf, weil er sie als „Ursprung allen Übels“ (so der katholische Seminardirektor Augustin Keller) einstufte. Anschliessend wurden etliche Versprechen nicht eingehalten, das Armenwesen wurde teilweise vernachlässigt, und das führte zu schweren Spannungen zwischen den konfessionell unterschiedlich ausgerichteten Kantonsgebieten. Heute erfolgen die Absetzungsmassnahmen subtiler. So wurden (gemäss einem Bundesgerichtsentscheid) die Kruzifixe aus den Schulzimmern entfernt. Die Schulen haben religiös neutral zu sein. Den Religionsschmalz in der Schweizer Landeshymne toleriert man als antiquarisches Relikt und weil man einen globalisierten, amerikanisierten Allerweltsgesang als Ersatz befürchtet.
 
Quellen von Unruhen
Die Religionen haben schon immer mehr Probleme geschaffen als beseitigt, selbst innerhalb von Familien, und unterschiedliche Religionsauffassungen waren und sind noch heute erstrangige Kriegsgründe – wie über Jahrtausende hinweg. Der Jerusalemer Tempelberg mit dem Felsendom, insgesamt eine besonders „heilige Stätte“, ist gerade wieder heftig umkämpft, wie seit Jahrtausenden. Heute erleben wir solche Feindschaften, die in kriegerische Handlungen ausarten, auch im Raume Syrien und Umgebung erneut – und zwar in einer besonders dramatischen Ausprägung. Der selbsternannte Chef des Kalifats Islamischer Staat (IS), Kalif Abu Bakr al-Bagdadi, sagte in Mosul (Irak): „Ich verspreche euch nicht, was andere Herrscher ihren Untertanen versprechen: Sicherheit, Wohlstand. Nein, ich verspreche euch, was Allah den Gläubigen im Koran versprach: dass Er sie zu seinen Stellvertretern auf Erden werden lässt.“ Al-Bagdadi rief die Gläubigen zum Kampf gegen die Ungläubigen auf: „Ein islamischer Staat kann nur bestehen, wenn das Gesetz Allahs vollstreckt wird. Dazu brauchen wir Macht und Stärke: ein Buch, das den Weg weist, und ein Schwert, das der Religion zum Sieg verhilft“ (Quelle: „Die Zeit“, 03.10.2014). Den modernen grossen und kleinen Satan sehen die Islamisten in Gestalt von Amerika und Israel, die ihre militante, auf Zerstörungen ausgerichtete Politik auch einmal hinterfragen und ändern sollten.
 
Auf dem Nährboden der unsäglichen Verwüstungen, der politischen Unordnung, die der US-dominierte Westen in vielen arabischen Ländern angerichtet hat, beginnen sich die radikalsten Kräfte des Islams zu entfesseln. Militante Islamisten von Allahs Gnaden versuchen mit grauenhafter Gewalt wie Morden durch Kopfabschlagen ihn, den Koran, nun richtig auszulegen, durchzusetzen oder für ihre politischen Zwecke zu missbrauchen. Sie wollen in ihrer Verblendung ihr heiliges, Koran-basiertes Versprechen erfüllen und eine länderübergreifende islamische Diktatur errichten. Das zusätzlich herbeigeführte Chaos und die Unsicherheiten in islamischen Ländern haben zu ausgedehnten Fluchtbewegungen geführt, und viele westliche Länder werden dadurch zunehmend islamisiert. Das löst Ängste aus, schafft Probleme.
 
Problemfaktor Glaube
Und eben an diesem Punkt wird die garantierte Glaubensfreiheit zum Problem. Ob harmlos, angepasst oder militant, auch alle Islamisten kommen in den Genuss unserer Glaubensfreiheit. Einige nutzen sie, ohne sich und ihre Religiosität an die Sitten ihrer Gastgeberländer anzupassen. Das führt zu ungleich langen Schwertern. Zwar hat die Schweiz die IS verboten, aber in der filigranen Praxis sind solche Verbote unwirksam. Sie bieten immerhin eine rechtliche Handhabe für auffällige Verstösse, ändern aber am Prinzip wohl kaum Wesentliches, zumal sich vieles im Untergrund abspielt.
 
Man könnte solche begründeten Verbote natürlich als Verstoss gegen die Religionsfreiheit brandmarken, würde damit aber den offensichtlichen Notwendigkeiten nicht gerecht. Solche Verbote zeigen am aktuellen Beispiel auf, dass die an sich unbestrittene Glaubensfreiheit, wie sie für den Normalfall nicht angetastet werden darf, irgendwo aber doch ihre Begrenzung findet, also relativiert werden muss.
 
Die Religionen müssen toleriert werden, solange sie mit den staatlichen Gesetzen konform sind und keinen Schaden anrichten. Dabei sind sie dem Staat untergeordnet und nicht gleichgestellt und schon gar nicht übergeordnet. Ihre Bedeutung ist also zu relativieren. Religio bedeutet im Lateinischen Rückbindung. Es ist eine Rückbindung an die Gottesreiche, wie sie in den Vorstellungen unseren Vorfahren unter den damaligen, noch nicht aufgeklärten Verhältnissen vorhanden war.
 
Zurückbinden
Meines Erachtens müsste die Macht der Religionen zurückgebunden werden; diese Übersetzung wäre mir lieber, auch wenn sie sich natürlich vom tatsächlichen Gehalt entfernt und als Wortspielerei zu betrachten ist.
 
Die Religionen sind wahrhaftig oft genug eine Quelle des Übels (im Sinne Augustin Kellers), und infolgedessen muss der Einflussbereich dieser von cleveren Menschen erdachten Machtklüngel reduziert werden. Ständige Streitereien und grausame Kriege, wie sie insbesondere auch das angeblich auserwählte Gottesvolk Israel begleiten, sind höchstens im Interesse der besonders in den USA mächtigen Waffenindustrie, nicht aber in jenem der Völker.
 
Unter der Religionsfreiheit versteht man die Freiheit des Einzelnen zur Zugehörigkeit einer Religion; es ist ihm erlaubt, sich seine eigenen Vorstellungen vom Dies- und Jenseits zu machen, wobei er in der Regel jene übernimmt, die ihm in die Wiege gelegt und die ihm von frühester Kindheit an mit allen Mitteln tiefenpsychologisch wirksamer Propaganda unablässig eingetrichtert worden ist. Der Staat hat da zuzusehen, darf sich nicht ins Denken seines Volks einmischen. Aber bei Religionen, die durch eine Agitationstätigkeit ein friedliches Zusammenleben erschweren oder verhindern, müsste er präventiv tätig werden, um Seuchen zu verhindern. Wo immer es möglich ist, den Stellenwert der Religionen zu mindern, müsste das getan werden, vornehmlich durch eine strikte Trennung von Staat und Religionen.
 
Wenn Religionen in einer weitgehend säkularisieren Gesellschaft Herrschaftsreiche wie jene Jahwes oder Allahs herstellen wollen und die gutgläubigen Menschen im Hinblick auf solche Zwecke verführen, kann das nicht einmal mehr unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit toleriert werden. Wir brauchen keine Kalifen (mächtige Stellvertreter Gottes auf Erden) und keine Kalifate, weder unter diesem noch unter einem anderen Namen. Wir brauchen eine aufgeklärte Gesellschaft mit geschultem kritischen Denkvermögen: Verantwortungsbewusst wahrgenommene Freiheiten (inkl. die Glaubens- und Denkfreiheit) und das Geschick, uns nicht zur Knechtschaft verführen zu lassen.
 
Freiheiten dürfen sich nicht selber im Wege stehen.
 
 
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