Textatelier
BLOG vom: 23.11.2014

Lautgetreu lesen, schreiben: Lernen in der Grundschule

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Was ist die Gemeinsamkeit bei folgenden Wörtern:
„böse, der, etwas, Farbe, Fenster, Frau, Mama, Papa, Salat, Sirene, Tisch, Tomate, Tor, Polizeiauto“?
 
Die Wörter sind „lautgetreu“! Das Adjektiv ist zusammengesetzt aus dem Nomen „Laut“ und dem Adjektiv „getreu“.
 
Im Internet habe ich den Satz gefunden: „Getreu dem Motto Johann Wolfgang von Goethes - ‚Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiss nichts von seiner eigenen’ ‒ greifen wir heute mal wieder tief in den Sprachentopf.“
 
Der Aufforderung will ich folgen!
 
„Getreu“? In der niederländischen Nationalhymne heisst es: „Den vaderland getrouwe blijf ik tot in den dood.“ Umgangssprachlich benutzen wir das Wort eher selten, etwa wenn wir über eine originalgetreue Nachbildung sprechen oder über eine wortgetreue Übersetzung. Der Ursprung des Wortes kommt aus mittelhochdeutsch „getriuwe“ und althochdeutsch „getriuwi“, und ist verwandt mit „treu“.
 
Bei Johann Christian Sebastian Bach, dem jüngsten Sohn von Johann Sebastian Bach, heisst es in der Arie „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12): 
„Sei getreu, alle Pein
Wird doch nur ein Kleines sein.
Nach dem Regen
Blüht der Segen,
Alles Wetter geht vorbei.
Sei getreu, sei getreu!“
 
Was ist lautgetreu? Es geht nicht darum, alle beliebigen Laute zu erfassen, die bei der lautlichen Produktion der menschlichen Sprache auftreten, das könnte auch Husten, Räuspern, Lachen, „Aehs“, „Ohs“ oder andere sein, sondern um solche Laute, die bei der Sprache im Prinzip erfasst werden und die Bedeutungsunterschiede ausdrücken. Ich meine die artikulatorische Phonetik, die eine Grundvoraussetzung für das Sprechen und das Schreiben ist.
 
Zuerst einmal isolieren wir auf der Basis der gehörten Äusserung die einzelnen Laute. Wir nehmen dabei das IPA zu Hilfe, das „International Phonetic Alphabet“. In der deutschen Sprache werden die Buchstaben im Alphabet in den Wörtern zu unterschiedlichen Lauten.
 
So wird der einfache Vokal „e“ in 4 verschiedenen Varianten artikuliert: „stellen, stehlen, steril, Hexe“ und das „a“ dreifach: „Fall, Dame, Fabrik“. Das „Ei“ ist nicht lautgetreu, sprechen wir es doch „Ai“ aus! Bei Konsonanten unterscheiden Sie beispielsweise die unterschiedliche Aussprache von „b“ bei „ab“ und „aber“, von „d“ bei „bald“ und „beide“, das „ch“ bei „Rauch“ und „Chor“.
 
Bevor Kinder richtig lesen und schreiben können, setzen sie langsam Buchstabe an Buchstabe. Um ihnen das Lesen- und Schreibenlernen zu vereinfachen, sollten sie anfänglich nur lautgetreue Wörter und Texte lesen und schreiben. Es erscheint einsichtig, dass ein Wörtchen wie „ab“ nicht lautgetreu ist, hören wir doch am Ende nicht „b“, sondern „p“; ebenso wenig „bald“, hören wir doch „balt“. Wenn Kinder schreiben lernen, wie sie sprechen, werden sie diese Laute auch so schreiben.
 
Über die Methode des „richtigen“ Schreiben- und Lesenlernens ist viel gestritten worden, und der Streit ist lang noch nicht zu Ende. Die ältere Generation, unter die ich mich auch zähle, hat noch mit einzelnen Buchstaben angefangen, mit der Problematik, dass diese zu Wörtern zusammengefügt werden mussten. Mein Enkelsohn lernt das Lesen und Schreiben über Silben. Andere Methoden sind das „Lesen durch Schreiben“ (nach dem Schweizer Pädagogen Jürgen Reichen) und die Variante, das „lautgetreue“ Lesen und Schreiben (nach Norbert Sommer-Stumpenhorst, u. a.). Bei der letzteren Methode wird nach einer Anlaut-Tabelle gearbeitet.
 
Nach Wikipedia hat die Anlaut-Tabelle folgende Funktion: „In einer Anlaut-Tabelle werden möglichst alle typischen (bedeutungsunterscheidenden) Laute (Phoneme) einer Sprache schriftlich (also mit Hilfe der den Lauten zugeordneten Buchstaben/Graphemen) zusammen mit einem Anlaut-Bild aufgeführt. Neben jedem Laut ist mindestens ein Objekt abgebildet, dessen Name mit diesem Laut beginnt. Gibt es für einen Buchstaben mehrere Möglichkeiten der Aussprache, so werden in der Regel beide Möglichkeiten durch zwei unterschiedliche Bilder dargestellt… Der Schüler kann sich mit Hilfe einer Anlaut-Tabelle das Schriftbild eines Wortes Laut für Laut zusammensetzen. Im Umgang mit der Anlauttabelle erfahren die Kinder, wie Sprache verschriftet wird. Sie lernen die Laut-Buchstaben-Zuordnung, die Zerlegung eines Wortes in seine Lautbestandteile und die lauttreue Verschriftung. Beim Schreiben mit der Anlaut-Tabelle verbinden die ABC-Schützen das Hören von Lauten mit der Veranschaulichung von Zeichen (Graphem|Grapheme).“
 
Bei dieser Methode schreiben Kinder im ersten Schritt z. B. „Wald“ mit „t“, sobald sie aber lernen, dass der Plural „Wälder“ heisst, erkennen sie, dass darin kein „t“ vorkommen darf.
 
Anfänglich sollen Kinder deshalb nur solche Wörter lesen und schreiben, die solche Rechtschreibprobleme nicht ausweisen. Das sind „lautgetreue Wörter“.
 
So steht in den Richtlinien für die Grundschule im Bundesland Rheinland-Pfalz für die ersten 2 Grundschuljahre: Die Kinder sollen die „goldenen Regeln der Rechtschreibung“ kennen und anwenden lernen:
 
1. lautgetreues Schreiben, 2. Wortverlängerung, 3. Stammprinzip / Wortfamilie, 4. Nomentest. Zum Ende des 4. Schuljahres sollen die Kinder richtig schreiben können.
 
Auf der Website der Schweizer Primarschule Heggart heisst es: „Wer diese ‚Technik’ beherrscht, kann lautgetreue Wörter und Texte fehlerlos schreiben, ohne auch nur ein einziges Wort auswendig zu lernen. Deshalb muss dem Üben des lautgetreuen Schreibens genug Zeit und Übung eingeräumt werden. Dies lohnt sich, denn gut 50 % der deutschen Wörter werden lautgetreu geschrieben.
 
In der zweiten und dritten Klasse wird das lautgetreue Schreiben gefestigt, so dass beim Eintritt in die Mittelstufe mit der nötigen Konzentration alle lautgetreuen Wörter fehlerfrei geschrieben werden können.“
 
Da die Kinder - streng nach Lehre - am Anfang nicht korrigiert werden, schreiben sie munter drauf los und produzieren Fehler. Aufgrund der fachlichen Kritik wurde die Methode „Lesen durch Schreiben“ von Hans Brügelmann weiterentwickelt. Zwar kommt auch bei ihm die Anlaut-Tabelle zum Einsatz, „allerdings ist auch wichtig, dass den Kindern von Anfang an deutlich gemacht wird: Es gibt eine Buchschrift oder Erwachsenenschrift, die nach bestimmten Regeln funktioniert, und dass sie etwa schon mit einem eigenen Wortschatz von häufigen Wörtern von Anfang an auch an der Rechtschreibung orientiert lernen.“
 
In einem Online-Artikel des Deutschlandfunks vom 28.08.2014 wird von einer Metastudie von Prof. Reinhold Funke berichtet, der die Ergebnisse von 16 Studien aus über 800 Klassen verglichen hat und zum Schluss kommt, dass die Rechtschreibfähigkeiten in der 1. Klasse zu Ungunsten der „Reichen-Methode“ ausgehe, dass sich das aber bis zum Ende der 4. Klasse wieder ausgleiche. Es wurde festgestellt, dass allerdings Migrantenkinder, Kinder aus sozial schwächeren und bildungsfernen Schichten und Legastheniker erhebliche Defizite aufweisen und für diese Gruppen die Methode wohl nicht geeignet erscheint.
 
Die Studie kommt zu dem Schluss: „Die Idee des Ansatzes ‚Lesen durch Schreiben’ setzt bei den Grundschulkindern viel voraus: Sie sollen korrektes Hochdeutsch sprechen, müssen die Laute richtig hören können und die Bilder, die sie auf der Anlauttabelle sehen, mit dem entsprechend ‚richtigen’ Inhalt verbinden, um so dann zumindest auf Dauer ‒ auch das Wort richtig schreiben zu können.“
 
Doch das entspräche nicht mehr der heutigen Schulrealität selbst bei deutschen Kindern, meint Professorin Agi Schründer-Lenzen: „Insofern ist diese Methode, die ja in den 70er-Jahren entstanden ist, als noch die Schülerzusammensetzung in unseren Klassen eine andere war, in der heutigen Zeit für die Klassen, die jetzt vor uns stehen, nicht mehr die Methode, die zielführend ist für die Mehrheit der Kinder.“
 
Es ist also die Frage, ob das lautgetreue Schreiben- und Lesenlernen auf Dauer eine praktikable Methode bleibt oder ob man ihr in der Methodik/Didaktik der Grundschule untreu wird!
 
Das wird auch daran liegen, inwieweit ein rechtschreibsicheres Schreiben weiterhin ein erstrebenswertes Bildungsgut bleibt. Nach der letzten Rechtschreibreform fragen sich das viele Schreiber des Deutschen. Wie man es auch sieht, die Probleme sind noch lange nicht vom lautgetreuen „Tisch“!
 
 
Quellen
 
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