Textatelier
BLOG vom: 26.11.2014

Kanalfernsehen mit Trauerweiden-Tragödie im Programm

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Auf einem Nachbargrundstück oberhalb unseres Hauses, nur rund 4 Meter von unserer Grundstückgrenze entfernt, ist eine Trauerweide (Salix babylonica) zu einem breit ausladenden, schätzungsweise 20 m hohen Baum herangewachsen. Er ist wunderbar ernährt, holt er sich doch alles, was er braucht, um ständig Blüten, Blätter und ganze Zweige und Äste abwerfen zu können, unter anderem aus einer Kanalisationsleitung. Er wächst und gedeiht prächtig und schafft das Kunststück, meistens bei einer Stelle, wo unterirdische Kanalisationsrohre verbunden sind, durch einen minimalen Spalt in die Leitung einzudringen, darin einem ungestörten Längenwachstum zu frönen und die Wurzel im zylinderförmigen Hohlraum reich zu verzweigen, bis sich ein meterlanger, walzenförmiger Knäuel ergibt, der die Leitung verstopft, so dass das stinkende Abwasser irgendwo weiter oben bei der ersten Gelegenheit austritt, wie ein Bächlein zwischen den Häusern durchläuft und an die alten Ehgräben erinnert, wie sie in mittelalterlichen Städten für Grausen, Gestank und Krankheiten sorgten. An eine solche Situation fühlte ich mich in den letzten Tagen erinnert.
 
In der Kanalisationsunterwelt
Die stinkenden, grünlichen Abwässer des oberhalb unseres Grundstücks liegenden Hauses, der Alten Trotte, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten einen Abortanbau auf der Westseite hatte, flossen zwischen tiefer unten liegenden Häusern durch und über den Rebweg und auf die Parzelle unserer westlichen Nachbarn Frei, wo sie im Erdreich verschwanden und dann auf einem unten vorbeiführenden Quartiersträsschen zum Teil wieder auftauchten. Vielleicht waren diese auch anderer Herkunft; man sieht ja nicht in den Boden hinein.
 
Der Gemeinderat Biberstein, der fürs Kanalisationswesen zuständig ist, schaltete sich pflichtbewusst ein und liess vorerst einmal abklären, was sich im Untergrund abspielte, das Unsichtbare also sichtbar zu machen. Gemeinderat Martin Hächler ist der zuständige Fachmann, ein zupackender, naturverbundener Landwirt. Die Reinigungsfirma Lüpold AG in CH-5103 Möriken AG (Werbeslogan: „E suberi Sach!“), die für solche Abklärungen bestens ausgerüstet ist und der kein Rohr-Innenleben verborgen bleibt, liess auftragsgemäss ein ganzes Arsenal von schwerem Gerät auffahren, dessen Herzstück ein mit Fernsehbildschirmen ausgestatteter Lastwagen ist. Wie bei einem Kriminalfall wurde der Täter, diesmal sozusagen ein Verstopfungsvandale, durch das Kanalfernsehen durch die Einführung eines Schlauchs mit einer kleinen Kamera am vorderen Schlauch-Ende gesucht. Ähnliche Vorgänge sind in bescheideneren Dimensionen von Darm-, Speiseröhren- und Magenspiegelungen und dergleichen bei Fachärzten bekannt. Es geht immer darum, Einblicke ins Verborgene zu erhalten, um daraus die hoffentlich angemessene Therapie abzuleiten.
 
Zu diesem Zweck wurde von einem Schacht aus ein gelbes Kabel in die Kanalisationsleitung eingeführt, das von einem nach rückwärts gerichteten, kräftigen Wasserstrahl nach vorne getrieben wurde, die abgeschwächte Version eines Raketentriebwerks. Eine tolle Sache. Und was die kleine Kamera an der Spitze des Geschehens wahrnahm, wurde live auf 2 Bildschirme im Aufnahmewagen übertragen. Bis dann der Wurzelzapfen das weitere Eindringen verhinderte.
 
Kanalisationsnetz Natur
Immerhin durfte sich das Programm auf den Bildschirmen sehen lassen, eine Art Abklatsch der SRF-Sendung „Netz Natur“, diesmal nicht mit dem Biologen und Tierfilmer Andreas Moser, sondern mit dem Kanalisationsfachmann Daniel Schödler von der Firma Lüpold. Man sah auf den Screens die leicht rötlich schimmernden Wurzelteile, zudem ein Würmchen und eine kleine Schnecke, die ihr Häuschen für alle Fälle mitgenommen hatte. Aus Samen entsprangen trotz der Lichtabwesenheit regelrechte Keimlinge in Weiss, wie sie zu einer gesunden Ernährung gehören (nur sollten sie nicht aus einer Kloake stammen). Als besonders angenehm empfand ich, dass die einzelnen TV-Sendungen nicht durch Moderatoren überbrückt und auch nicht von Werbeblöcken unterbrochen wurden. Eine Konzentration aufs Wesentliche. In einem unverstopften Kanalisationsbereich wurde durch den Wasserstrahl ein kleiner roter Gummiball in Bewegung gesetzt, der fröhlich Richtung Kläranlage kullerte – eine andere Wahl hatte er nicht. Wenn ich wieder einmal einen Fernsehkasten anschaffen muss, werde ich mir folglich gut überlegen, ob ich mich für eine gewöhnliche HD-Lösung oder aber fürs Kanalfernsehen entscheiden soll.
 
Nach dem televisionären Teil kam ein anderer, grüner Schlauch zum Einsatz, der sich in der Kanalisation auf die gleiche Weise vorarbeitete und mit einem messerscharfen Wasserstrahl zu lösen versuchte, was ihn am Fortkommen hinderte. Aber er musste kapitulieren. Fürs Gröbere gibt es noch eine Art Bohrer mit frei schwingenden Veloketten-Propellern, die aber auch nicht mehr weiter kamen.
 
Daniel Schödler besann sich auf die menschlichen Möglichkeiten und Talente, stieg in den Schacht hinunter, kauerte sich in der Tiefe zusammen, verlangte nach einer Stange mit Haken, schob diese ins Rohr, schnaubte wie ein Walross beim Aufbrechen von Atemlöchern im Eis, riss mit aller Kraft und zog einen rund 2 Meter langen Zapfen aus rötlich-orangefarbenen Trauerweidenwurzeln hervor. Sein Kollege zog ihn ans Licht, eine Trophäe. Das Trauerspiel wurde zu einem fulminanten Erfolg, wie wenn es Polizisten gelingt, einen Täter zu fassen und aus dem Verkehr zu ziehen.
 
Trauerweidenwurzeln kennen keine Grenzen
Ähnliche Verstopfungen hatten sich im Umfeld der Trauerweide während der letzten Jahre (2005 und 2010) schon zweimal ergeben. Das zog hohe Kosten für die Kanalisationskasse, die über Wassergebühren finanziert wird, nach sich. Das hatte immerhin den Vorteil, dass ich dadurch zu einem Experten für Trauerweidenwurzel-Fragen wurde; im Blog vom 24.10.2010
habe ich einige Eindrücke zusammengefasst.
 
Das Internet strotzt vor Berichten über die Vandalenakte von Trauerweidenwurzeln. So wird etwa die Zeitschrift „Mein schöner Garten“ folgendermassen zitiert: „Die Wurzeln dringen wohl bevorzugt in Entsorgungsleitungen ein und können Beläge kräftig anheben.“
 
Ein Bericht unter dem Titel „Rohrschäden durch Wurzelbildung“ (2. Link unter „Quellen“) setzt sich mit der Frage, warum Wurzeln in die Rohre wachsen, so auseinander:
 
„Wurzeln wachsen dorthin, wo sie am leichtesten vorankommen. Sie bevorzugen den Weg des geringsten Bodenwiderstandes und der führt sie meistens in das lockere Bettungs- und Füllmaterial um eine unterirdische Wasserleitung. Das Wurzelwachstum wird durch die Verdichtung bzw. durch die Porosität des Bodens beeinflusst und somit auch gelenkt. Stossen Wurzeln auf die Oberfläche eines Gegenstandes im Boden wie z. B. einer Wasserleitung, wachsen sie parallel und dicht am Rohr entlang. Erreicht die Wurzel eine Rohrverbindung (Muffe), die vor der Dichtung einen Hohlraum aufweist, wächst sie in diesen hinein, verzweigt sich dort und füllt alle Hohlräume aus. Ob sie dann in das umgebende Substrat oder in das Rohr hinein wächst, ist dem Zufall überlassen. Hat sich jedoch die Wurzel ihren Rückweg selbst ‚verbaut‘, schiebt sie die Gummidichtung beiseite und dringt in das Innere des Rohres ein, in dem sie den Anpressdruck des Dichtemittels überwindet.“
(...)
Die Wurzeln der Laubbäume und Weiden wachsen am häufigsten an den Wasserleitungen entlang und setzten sich in die Schadstellen von Rohren und Rohrverbindungen“ (...) Die starken Wurzeln des Baumes können unterirdische Rohre und Gasleitungen beschädigen, auch diese sollten sich nicht in direkter Nähe zur Hängeweide befinden.“
 
In einem Text auf der Webseite http://www.gartentipps24.de/ steht zu lesen: „Zum Eindringen in Versorgungsleitungen neigen: Silberweide, Grauerle, Pappel, Esche, Rosskastanie und Flügelnuss.
 
Und unter http://forum.floristik24.de/threads/375-Trauerweide weiss Gartenfan Schreiber im Kapitel Trauerweide zu berichten: Trauerweiden bilden unheimlich lange Wurzeln. Diese Wurzeln ziehen sich immer in Richtung Wasser. Das heisst, wenn eine unterirdische Wasserader, ein Graben oder ein Pool in der Nähe ist, wird sie ihre Wurzeln dorthin richten. Ich würde ebenfalls einen respektvollen Abstand zur Hauswand wie auch zu Wegen einhalten.“ Unsere Täter-Trauerweide hält keinerlei Abstandsvorschriften an.
 
Weil Wurzeln innerhalb des Erdreiche nicht fotografiert werden können, falls sie sich nicht als kanalfernsehgeil erweisen, muss man sich mit Zeichnungen behelfen. Hier ist eine Wurzelzeichnung zu sehen, die zeigt, wie weit sich die Trauerweidenwurzeln über die Baumsilhouette hinaus ausbreiten können:
 
Der Wurzelpfropfen, der neben unserem Haus ans Tageslicht geholt wurde, widerspiegelt die rötliche Färbung des Weidenholzes, das biegsam, leicht, zäh und faserig ist. Zweige von Weiden wie insbesondere der Kopfweide werden deshalb auch gern zum Flechten schöner Körbe verwendet.
 
Das Weidentheater, die Tragödie in mehreren Akten, geht in den nächsten Tagen weiter. Die Kanalisation ist erst zum Teil freigelegt. Es ist der ständige Kampf von uns zivilisierten Menschen gegen die Natur. Als es zur Begeisterung der Ratten noch keine Kanalisationen gab, war alles noch einfacher, wenn auch nicht unbedingt angenehmer.
 
 
Quellen
 
 
 
 
 
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