Textatelier
BLOG vom: 24.12.2014

Phantom der Angst – oder: Der Besuch bei der alten Dame

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH
 
Eine Skizze in Erinnerungskultur. Lesung zur Eröffnung des Literaturhauses Stans am 29. November 2014
 
 
Seit der Amputation eines Beines vor vier Jahren lebt die Diabetikerin Hanny, 85, professionell behütet von Pflegerinnen, im Haus „Nagelfluh“, einer gediegenen Altersresidenz unweit vom See. Sie leiste zu wenig Widerstand gegen den körperlichen Zerfall. Sowas entspreche nicht dem Familiencharakter. So sah es ihr Sohn, der prominente Milizpolitiker und Unternehmer der Kaffeebranche. Dass er, abermals verhindert, ihren Neffen, Hannys Patenkind, zum Geburtstag vorbeischickte, war weniger enttäuschend, als wenn er überhaupt nicht an sie gedacht hätte. Der Journalist will einer Studie zum Firmenjubiläum noch ein Porträt der Seniorchefin beifügen.
 
Im Gespräch vermag die Frau, die beim Zutritt des schon angegrauten Göttibuben in den Gemeinschaftsraum kurz erschrak, aufzuleben. Der Besucher, Bundeshauskorrespondent einer Gratiszeitung, trifft auf eine gepflegte alte Dame, die auf dezenten Schmuck nicht verzichtet. „Ich komme nicht“, sagt er schmunzelnd, „um einen Enkeltrick auszuprobieren.“ Natürlich erkennt sie ihn noch.
 
Grüsse sind ausgerichtet. Das Wetter abgehandelt. Bedächtig wählt Hanny B. ihre Worte. Zu den frühesten und also spätesten Bildern in ihrem Leben gehört ein Autowrack. Das Phantom der Angst verweist auf ihren 7. Geburtstag. 78 Jahre sollen seither vergangen sein? Sie kann es fast nicht glauben. Sie hatte den Unglückstag bei ihrer Grossmutter in Weggis am Vierwaldstättersee fröhlich begonnen. Zwar war der Himmel schon grau, bevor etwas Schlimmes geschah.
 
An jenem 29. August 1935 war Monarch Leopold von Belgien mit seiner Gattin unterwegs gewesen. Er genoss das Königreich des Selbstfahrers. In Küssnacht am Rigi raste er entlang einer Mauer in einen Baum. Mit übersetzter Geschwindigkeit. Das Fahrzeug kam zuletzt, bis auf halber Höhe versinkend, im Schilfgelände zum Stillstand. Es war, als ob der verwüstete Packard mit der zerschlagenen Frontscheibe auf dem See schwämme. Der Unfalltod der Königin Astrid, einer schwedischen Prinzessin, löste eine Massentrauer aus. Am stärksten in Belgien und in der Schweiz. Für das Mädchen Hanny B., in Luzern beheimatet, prägte sich das entsetzliche Bild tief ein. In Küssnacht fanden sich Tausende von Neugierigen zu einem schrecklichen Erstaunen ein. Den Schreckenstag steckt sie nicht weg. Die Gedenkstätte mit Kapelle und Baumstrunk hat sie als Verlobte mit ihrem künftigen Mann bei einer Spazierfahrt dem See entlang aufgesucht. Nicht mit einem Packard. Ein rumpliger Humber altenglischer Machart, der es bis zur Entsorgung auf dem Autofriedhof auf viele Kilometer brachte, tat seinen Dienst unfallfrei.
 
Das Corpus Delicti von Küsnacht aber, ein Meisterwerk im Design des automobilen Feudalismus, wurde auf Wunsch des königlichen Witwers beim Chrüztrichter versenkt, der tiefsten Stelle des Vierwaldstättersees. Die angemessene Stätte zur Verstauung eines gespenstischen Vehikels. Jedenfalls vor der Gründung des Verkehrshauses. In Bern setzte sich Luzerns Ständerat G. für die Erhöhung der Subvention für das populäre Museum am See ein. Mit seinem Berner Kollegen L. habe er vereinbart, auf Gegenrecht hin dessen beantragte Aufstockung des Museums Ballenberg am Brienzersee zu unterstützen. Der Göttibub schrieb davon in der Zeitung.
 
Das alles sind weder die Probleme noch die Perspektiven einer alten Frau. Nicht einmal über B., den bekanntesten Politiker des Landes, hat sie eine Meinung. Eher empfahl es sich also, der Gotte ein Buch vorbeizubringen, das dessen etwas andersgesinnte Schwester Judith, verheiratet mit dem ehemaligen Gastarbeiter S., geschrieben hatte.
Weil Hanny kaum mehr lesen konnte, trug ihr der Besucher einige Zeilen vor:
 
Sie haben Zeit, dürfen langsamer werden. Sie können innere Werte kultivieren, loslassen, an die Ewigkeit denken. Sie gewinnen Altersweisheit. Sie können Lebenserfahrung auskosten etcetera etcetera – diese Sätze wirken verlogen, da kein Mensch vor Eintritt der Fragilität von diesen Werten etwas wissen will.
Zitat Judith Giovannelli-Blocher.
 
Was sollte diese Lesung? Auf solche Phrasen, sagte Hanny, habe sie nie was gegeben. Sie wusste den guten Willen des Besuchers zu schätzen. Aber lieber war es ihr in diesem Augenblick, dass er sie ein wenig an der Hand hielt.
 
 
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