BLOG vom: 12.02.2015
Aktuelle Form- und Stillosigkeiten: Knutscherei und Duzerei
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Die Hasen rammelt im Revier.
Kurzum, es liebelt jedes Tier.
Und wer küsst mir?
(Küpper, um etwa 1850)
„Ein Küsschen in Ehren kann niemand verwehren.“ Gewiss. Für einen Mann ist es angenehm, die weiche Haut einer schönen Frau zu spüren. Ob das Gegenteil ebenfalls zutrifft, kann ich nicht sagen. Vielleicht stimmt es, dass aus weiblicher Sicht ein Kuss ohne Bart wie eine Suppe ohne Salz ist. Ist der Kontakt mit Bartstoppeln oder ganzen Bärten für eine zartbesaitete Dame in Tat und Wahrheit das höchste der Gefühle, falls sich die beiden nicht auf die Lippenberührung beschränken? Hat jemand auf einer Lippe aber einen Ausschlag, weil sich auch die Herpes-simplex-Viren am fleischigen Rund des Munds gern tummeln, wird die Sache delikat. „Hast du einen falschen Kuss bekommen?“, lautet die redensartliche Standardfrage dazu.
Küsse (Schmützli) sind ein Ausdruck von Zuneigung, Freundschaft, Verehrung und von Liebe, und sie sollten meines Erachtens etwas Besonderes sein, um ihre Bedeutung vollumfänglich entfalten zu können, wie es einmal war. In den letzten Jahren hat die Küsserei eine regelrechte Inflation erlebt. Solange sich diese in einer liebevollen Zweisamkeit oder im Rahmen besonders erfreulicher Begegnungen innerhalb einer vertrauten Gesellschaft einstellt, ist dagegen nichts einzuwenden. Was mich aber stört, ist das ständige, demonstrative Schauküssen vor laufenden Kameras oder anderweitig versammeltem Publikum. Bei jedem noch so geringfügigen Anlass wirft man sich an den Hals, eine Abwandlung der rammelartigen Fussballer-Knäuelbildung nach leichtathletischen Ansprüngen immer dann, wenn einer der Ballakrobaten ins Tor getroffen hat. Eine Variante ist eine Schnellbremsung des Balltreters auf dem Rasen in Verbindung mit einem publikumswirksamen Kniefall.
Zu den besten Sendezeiten (abends um 8 Uhr) serviert das Schweizer Fernsehen SRF meistens Ratespiele; gute Dokumentarfilme ihrerseits werden in die Nacht hinein verschoben, weil dann Gewähr besteht, dass kaum noch jemand zuschaut und die Allgemeinbildung nicht über Gebühr ausufert. Wenn bei einem dieser mit hohen Gewinnsummen versüssten Spielchen ein im Rampenlicht stehendes Paar nach längerer Bedenkzeit richtig herausgefunden hat, dass der Bodensee flächenmässig grösser als der Seealpsee ist, springen sich die beiden in die Arme. Sie veranstalten die televisionär unvermeidliche Kussshow, Hollywood-inspiriert, um den Zuschauer-Millionen zu signalisieren, wie intelligent man ist und in welcher exzessiven Harmonie die Partnerschaft verläuft. Das Knutschen wiederholt sich im 4-Minutentakt, bis das Kuss-Intermezzo von der Frage beendet wird, ob die Kartoffel von den Inkas in Peru oder von der Firma Zweifel im aargauischen Spreitenbach zu uns gefunden hat, weil dieses Problem noch nicht eindeutig geklärt ist.
Ganz schlimm für die Millionen von Zuschauern ist die Dreifach-Knutscherei auf dem glitschigen, politischen Parkett, mit der unbewusst eine Klüngelwirtschaft signalisiert wird. In der „Basler Zeitung“ schrieb Chefredaktor Markus Somm, einer der herausragenden Schweizer Publizisten, zu einem peinlichen Kussspektakel in Brüssel: „Es hatte etwas Verstörendes, zuzusehen, wie ein alter Mann, der als Alkoholiker gilt und Kettenraucher ist, eine jüngere, etwas schüchterne Frau auf offener Bühne vor den Kameras der Welt küsst, nein, sie in einer Art und Weise ableckt, dass man von sexueller Belästigung gesprochen hätte, wäre der aufdringliche Alte nicht der Präsident der Europäischen Kommission gewesen, Jean-Claude Juncker, und die schüchterne, mädchenhafte Frau nicht die Bundespräsidentin der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Simonetta Sommaruga. Es tat weh. Kein Bild hat in den vergangenen Jahren vielleicht besser die merkwürdig defensive Beziehung illustriert, die unsere Regierung zur Europäischen Union pflegt: Man lässt sich bedrängen, man lässt sich wenn nötig demütigen – und statt sich zu wehren oder die Zumutungen des Partners ins Leere laufen zu lassen, lächelt man gequält wie Sommaruga und bittet die aufgebrachten Beobachter um Nachsicht, als handelte es sich beim Belästiger um einen sonst lieben Onkel, der einem nur Gutes tut.“
Mir tun solche Bilder nicht weh. Mich kotzen sie bloss an. Wie bei der überzogenen Duzerei im Alltag und besonders in den Medien wird dadurch eine fehlende Distanz und somit ein Verlust an Eigenständigkeit signalisiert. Noch in den 1960er- und 1970er-Jahren galt es als respektlos, wenn sich die Radiomitarbeiter untereinander öffentlich duzten. Diese Haltung gegenüber den Hörern, um deren Bedürfnisse es ja ausschliesslich geht, wurde allmählich aufgeweicht. Und inzwischen nennen die Moderatoren die Vornamen ihren Berufskollegen möglichst oft, in der Hoffnung auf Gegenrecht. „Danke Daniela!“ ‒ „Danke Stefan!“ ‒ „Danke Cornelia“. Danke für Obst. Die gut bezahlten Kamerahelden haben eine Aufgabe im ausschliesslichen Publikumsinteresse, und dazu gehören gegenseitige Bauchpinseleien und Beiträge zum Starkult nicht. Der Zuhörerschaft gegenüber ist das televisionäre Inzuchtprogramm nicht nur unhöflich, sondern sie empfindet sie als ärgerlich. Und dem Fass schlagen dann inkompetente und einseitige Informationen den Boden noch komplett heraus. Das Gute daran: Die Flucht in die Hausbibliothek drängt sich auf.
Ein Geduze-Spezialist ist der Talker Roger Schawinski, der vor seinem Gelafer bei jedem Gesprächspartner versucht, die Du-Ebene herzustellen, um dann dem Publikum vor Augen zu führen, wie bekannt, vernetzt und vertraut er mit Personen („auf Du und Du“ = jemandem nahe) und Fakten sei, ohne dieses Versprechen anschliessend erfüllen zu können. Er erweckt den Anschein, als ob er schon mit der ganzen Prominenz Schweine gehütet habe, wobei ich die ehrenwerten Schweinehirten, die frühe zu unrecht ein miserables Ansehen hatten, nicht beleidigen möchte. Die Aufgabe vieler Gäste Schawinskis erschöpft sich darin, den Nonsens geradezurücken, den Schawinski in seiner Rumpelkammer gefunden hat und als Fakten darstellt, meist Fragmente.
Aus den ungebremsten Duzereien ergeben sich Duzfreundschaften, die mit dem, was man unter einer wirklichen Freundschaft versteht, kaum etwas zu tun haben, selbst wenn sie von seriellem Küssen begleitet sind. Das ungefragte Duzen von Ranghöheren und Älteren kann sogar als Beleidigung aufgefasst werden, abgeschwächt auch das Ihr (das Ihrzen), das allerdings in den Kantonen Bern, Wallis und Freiburg die normale Höflichkeitsform ist und ebenso in den Eifeler Mundarten und im Luxemburgischen vorkommt. Man nimmt es als sprachliche Bereicherung hin.
Der ausgeweitete, saloppe Umgang im Sektor der persönlichen Beziehungen findet seinen Ursprung wahrscheinlich zu grossen Teilen in den USA, wo nicht zwischen Du und Sie unterschieden wird, sondern alles unter dem Sammelbegriff you vereinigt ist, wobei dieses you allerdings näher beim Sie als beim Du ist. Aber man hüte sich, beim Zuprosten zu sagen: Now you can say ,you' to me... Für familiäre, intime Begegnungen kramen die Engländer manchmal noch ihr traditionelles Thou als pronominale Anredeform hervor.
Insgesamt ist bei Anreden eine Tendenz zur Formlosigkeit festzustellen, und die verlorenen Formen werden zunehmend durch Kussorgien wettgemacht. Darob geht die Welt nicht unter, selbst wenn die Ansteckungsgefahren bis in die Abgründe der hohen Politik vorgedrungen sind, die sich einst mit der Händeschüttlersymbolik zufrieden gab. Bei grösseren Differenzen reicht diese heute nicht mehr aus.
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