Textatelier
BLOG vom: 20.03.2015

Schildbürgerstreiche: Erfinderische EU und Gemeinderäte

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
 
Wie unter Wikipedia nachzulesen ist, findet der Begriff Schildbürgerstreich in der Umgangssprache für aberwitzige und irreführende Regelungen oder eine pervertierte Bürokratie Verwendung. Der Schildbürger ist laut Wahrigs Deutsches Wörterbuch ein Mensch, der eine törichte Handlung begeht. Im 16. Jahrhundert war die Bezeichnung als Spottname für einen Bürger gedacht, der mit einem Schild bewaffnet war. Später war diese auf die Bewohner des sächsischen Städtchens Schilda bzw. Schildau bezogen, die Helden eines Schwankbuchs des 16. Jahrhunderts.
 
Heute wird der in Brandenburg befindliche Ort Schilda oft mit den Schildbürgern in Verbindung gebracht. Einen historischen Beweis gibt es nicht. In einer Beschreibung des Orts war dies zu lesen: „Auch das ungewöhnlich erscheinende Fehlen von Fenstern in der Nordseite der Schildaer Kirche sollte keinen hinreichenden Beweis für das Schildbürgertum in Schilda darstellen.“
 
Beim Ort Schildau (heute Ortsteil der Stadt Belgern-Schildau in Sachsen), ist das anders. Sie sind sogar stolz auf den Bezug zu den Schildbürgern. Schildau wird als Gneisenaustadt bezeichnet und ist laut offizieller Beschreibung wahrscheinlich Herkunftsort der Schildbürger. Wer das nicht glaubt, kann dort das Museum der Schildbürger besuchen.
 
Wer Lust hat, die alten Schildbürgerstreiche einzusehen, kann unter Wikipedia den Begriff „Schildbürgerstreich“ aufrufen. Aber betrachten wir lieber Schildbürgerstreiche aus der heutigen Zeit. Solche Streiche gibt es zuhauf, und sie sterben nie aus.
 
Schildbürgerstreiche der EU
Die EU plante schon 2007 Unverständliches: Winzer, die ihr Gras mit chemischen Mitteln abspritzten, erhielten bisher einen Zuschuss von der EU. Ab 2007 bekommen nur die Winzer Geld aus der EU-Kasse, die nur wenig mit der Spritzkeule herumhantieren. Bio-Winzer schauen in die Röhre. Sie sollen gar nichts mehr bekommen. Ein Brüsseler Schildbürgerstreich ersten Ranges!
 
Man könnte meinen, die verantwortlichen Schreibtischtäter in Brüssel hätten etwas gegen umweltschonend produzierte Biowaren (auch anderweitige Zuschüsse für die Bio-Landwirtschaft sollen gestrichen oder zumindest gekürzt werden). Oder liegt der Grund ganz woanders? Schliesslich sollen die vielfach produzierten Chemikalien an den Mann oder die Frau gebracht werden. Jeder kann sich seine Gedanken darüber machen.
 
Wenn man die Verordnungen der EWG betrachtet, kommt man zu der Erkenntnis, dass Leute mit einem zügellosen Regulierungswahn an der Arbeit waren. Für Normalbürger erinnern solche Verordnungen an Schildbürgerstreiche.
 
Die Gurkenverordnung von 1988 (Verordnung Nr. 1677/88/EWG zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken) diente EU-Kritikern und Kabarettisten 20 Jahre lang als Beispiel eines Regulierungswahns. Die Verordnung besagte, dass Gurken mit einem bestimmten Krümmungsgrad nicht verkauft werden durften. Die Gurke war ausser der Norm.
 
Gurken der Güteklassen Extra und der Klasse I durften eine maximale Krümmung von 10 mm auf 10 cm Länge aufweisen. Gurken der Handelsklasse II waren höchstens 20 mm erlaubt. Gurken der Extraklasse sollte „praktisch gerade“ und die der Handelsklasse I „ziemlich gut geformt“ sein.
 
Die verantwortlichen EU-Schildbürger haben also genau nachgemessen. Ob sie auch andere Krümmungen (auch bei sich selbst) vermessen haben? Die Regelungen gingen auf Empfehlungen des Handels zurück. Gerade Gurken lassen sich besser verpacken und stapeln. Die EU setzte die unsinnige Verordnung 2009 ausser Kraft. Das passte wiederum Handels- und Bauernverbände und der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten nicht.
 
Auch bei den Bananen gibt es eine Verordnung. Laut dieser Verordnung müssen „Bananen, die in die EU eingeführt werden, sowie innerhalb der EU produzierte Bananen eine Länge von mindestens 14 cm und eine Dicke von mindestens 27  mm besitzen.“ Warum gibt es keine kleineren Bananen, die sicherlich schmackhafter wären? Man müsste schon in die Bananenländer reisen, um solche zu geniessen.
 
Verkehrsplaner als Schildbürger
Es gibt Leute, die als Planungswahnsinnige bezeichnet werden. Sie planen ins Blaue; bezahlt wird ja alles vom Steuerzahler. So wurden beispielsweise Brücken gebaut, die dann in der Landschaft standen und heute noch auf eine Strasse warten.
 
Der kleine Ort Böllen im Landkreis Lörrach D kam 1980 in die Schlagzeilen. Es wurde bei der Bundestagswahl zum Wahlboykott aufgerufen. Nur deshalb, weil eine versprochene Strasse nicht gebaut wurde. „Es waren nichts als leere Versprechungen“, stellte der rüstige Altbürgermeister Ludwig Kappeler fest. Nach der Wahl rückten Baumaschinen an. Endlich sollte die heissersehnte Strasse gebaut werden. Dann stellten sich die Umweltschützer in die Quere. Sie kamen von weit her und wollten, dass die Strasse um jeden Baum herumgeleitet werden sollte. Aber den Böllenern wurde dies zu bunt. Am nächsten Tag waren alle Bäume gefällt. Ein Bewohner habe Brennholz gebraucht, wurde gemunkelt. „Naturschutz ist ja an sich eine gute Sache“, sagte Kappeler und schmunzelte. „Aber hier im Schwarzwald gibt es wirklich genügend Bäume.“
 
Ein Schwarzbuch listet auf
Der Bund der Steuerzahler (www.steuerzahler.de) gibt jedes Jahr ein Schwarzbuch über die öffentliche Verschwendung von Steuergeldern heraus. Dort sind viele Schildbürgerstreiche und Verschwendungen aufgeführt.
 
Unter dem Titel „Schilda lässt grüssen“ hat das Handelsblatt einige haarsträubende Beispiele aus dem Schwarzbuch publiziert. Hier ein Beispiel:
 
In den 1990er-Jahren wurde ein Wasserfahrzeug für eine Fähre über die Elbe von 23 Arbeitslosen für 300 000 Euro fast aus öffentlichen Mitteln gebaut. Die Fähre war von Mai bis September 2002 im Einsatz. Dann wurde sie stillgelegt, weil kein Schiffsführer für Elbfahrten gefunden wurde.
 
Ein Herz für Autofahrer
Man muss den Kopf schütteln, wenn man den folgenden Schildbürgerstreich des Gemeinderats Lörrach liest. Darüber berichtete auch der NDR („extra spezial“) in einem Film. Hier die Vorgeschichte: In der stark befahrenen Wallbrunnstrasse wurden in einer längeren 30er-Zone viele Autofahrer geblitzt. Somit gab sehr viele Strafzettel (in der 1. Woche rund 1800) und einen reichlichen Geldsegen für die Stadt. Als sich viele Autofahrer über diese Abzockerei beschwerten, überlegte die Gemeindeverwaltung, etwas für die Autofahrer zu tun. Sie beschloss in einer Sitzung, dass in der 30er-Zone erst bei 50 km/h geblitzt werden soll. Eine Frau, die interviewt wurde, sagte, die Entscheidung sei ein Witz und Autofahrer, die eben in der 30er-Zone schneller fahren, sollten bestraft werden. Es ist ja eine Ordnungswidrigkeit.
 
Eine Gemeinderätin gab dazu eine Erklärung ab. Sie sagte, nach der Sitzung hätten sie noch eine Weinschorle getrunken, und danach war sie erstaunt, was sie da beschlossen hatten. Als sie das sagte, lachte sie. Der Beschluss gilt immer noch, gelegentlich sind Kontrollen durch die Polizei möglich. Im Sommer soll neu beraten werden.
 
Der NDR-Sprecher sagte zum Schluss: „Das ist echte Politik – oder auch nicht!“ Ich finde, wenn schon die 30er-Zone ausgeschildert ist, sollte diese auch gelten und Geschwindigkeitsübertreter mit einer Geldbusse bestraft werden.
 
Im letzten Jahr fuhr ich in Schopfheim in der 20er-Zone (so etwas gibt es) einmal 25 km/h, und schon musste ich blechen (10 Euro). Wenn man in dieser Zone mit dem Auto fährt, muss man immer gebannt auf den Tacho schauen, um ja nicht über 20 km/h zu fahren. Denn man könnte ja leicht abgelenkt werden. Aber das interessiert keinen. Hauptsache, die Stadt hat gute Einnahmen.
 
An Rolf P. Hess, der auf Cebu (Philippinen) lebt, sandte ich den NDR-Film zu. Er fand das Verhalten der Lörracher Gemeinderäte super. „Wenn in der Schweiz öfters solche Flexibilität gezeigt würde, könnte ich an eine Heimkehr denken. Hier in den Philippinen haben wir uns an noch viel flexiblere Situationen gewöhnt!“
 
Umlaufsperren Hindernisse ohne Nutzen
Richard Gerd Bernardy wusste auch etwas über Schildbürgerstreiche zu berichten. Ihm fielen die Umlaufsperren, im Volksmund Drängelgitter genannt, auf. Diese werden von Planern, die nichts Intelligentes hervorbringen, in die Tat umgesetzt.
Er nannte mir die folgenden Beispiele:
 
„Auch in Hilden gibt es Umlaufsperren. Diejenigen am S-Bahn-Haltepunkt Hilden-Süd wurden nach jahrelangem beharrlichem Bohren entfernt, aber an anderen Orten stehen sie noch.
 
So wurde vor einiger Zeit eine Umlaufsperre auf dem Rad- und Gehweg zwischen Oststrasse und Hummelsterstrasse/Am Biesenbusch aufgestellt, wohl, weil einige unserer lieben Mitbürger den Weg StVO-widrig mit Motorfahrzeugen nutzten. Leider schloss die Umlaufsperre nicht nur Motorräder von der Durchfahrt aus, sondern auch Radler mit Reisegepäck hatten ihre Schwierigkeiten, während Fahrräder mit Anhänger und Spezialfahrräder (Dreiräder, Liegeräder, Behindertenfahrräder) in der Regel nicht passieren konnten. Auch mit dem Rollstuhl oder grösseren Kinderwagen wird man sicher Probleme gehabt haben.
 
In dem Zusammenhang fällt mir ein Drängelgitter auf dem (sonst sehr schönen) Milseburg-Radweg in Hessen ein, an dem ein Schild mit einer Aufschrift hing, die so oder so ähnlich lautete: ,Annes Lieblings-Drängelgitter (2 Monate Krankenhaus)’.“
 
Kuriose Strassentafeln
Das Bild Nr. 31 unter den kuriosen Strassentafeln in Bildern unter www.focus.de zeigt eine enge Strasse, wahrscheinlich in Zürich (an einer Hauswand ist eine Werbetafel für die Zürich Versicherung zu sehen). Das 1. Schild: Durchfahrtsverbot für alle Fahrzeuge. 2. Schild darunter: Schwarzer Pfeil zeigt, dass man durchfahren darf.
 
Kommentar: „Wer trotzdem durchfährt, hat dann wenigstens Vorfahrt. Das nennen wir Schweizer Lockerheit.“
 
Ein Bild zeigt einen Bus, der vor einer Brücke von der Strasse abkam und dann an einer Böschung in Schräglage hängen blieb. Auf einem Schild an der Brücke steht zu lesen: „Nerven sparen, Schnellbus fahren.“
 
In Bayern befindet sich ein Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h, darunter heisst es „Ausgenommen Alois“. Kommentar: „Alois hat Sonderrechte. Und der Sepp und die Zensi wahrscheinlich auch.“
 
Schild mit der Schlagzeile: Weidmanns Heil! Achtung! Darunter ist dies zu lesen: „Hier wurde schon mancher mit einem Wildschwein verwechselt. Bitte gehen Sie aufrecht und schwenken Sie Ihren Hut!
Der Jagdpächter."
 
Wie wir gesehen haben, gibt es auch in unserer Zeit Schildbürgerstreiche. Oft sind es Entscheidungsträger, die wenig im Kopf haben oder erst spät bemerken, dass sie Unsinn verzapft haben.
 
Kennen Sie auch solche oder ähnliche Streiche? Vielen Dank für Ihre Zuschriften.
 
 
Internet
www.focus.de (kuriose Strassentafeln in Bildern)
www.handelsblatt.com (Schilda lässt grüssen)
 
 
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