Textatelier
BLOG vom: 08.04.2015

Lust am Untergang: Die Praxis der Druckmedien-Zerstörung

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
Seit einigen Monaten und Jahren wird lebhaft über den offensichtlichen und fortschreitenden Zerfall der Medienqualitäten diskutiert. Die Diskussion hat besonders angesichts der unsäglichen, von den USA diktierten Ukraine-Politik und der damit verbundenen tendenziösen Berichterstattung Auftrieb erhalten; Fakten wurden ins Gegenteil verkehrt oder ignoriert. Der weitestgehend gleichgeschaltete Westmedien-Mainstream, von den es nur wenige Abweichler gibt, hat selbst in diesem krassen Fall des Ausbaus des US-europäischen Einflussbereichs aus wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen (amerikanische Raketen-Abschussrampen nahe an der russischen Grenze) kritiklos die uneingeschränkt pro-amerikanische Haltung weitergetragen und damit an den breit informierten, denkenden Lesern vorbei berichtet.
 
Wegen ihrer Einseitigkeit in der Berichterstattung haben sich die Medien selber einen grossen Schaden in Gestalt eines Glaubwürdigkeitsverlusts zugefügt. Und selbst als der von den USA als Marionette missbrauchte Machthaber in Kiew, Petro Poroschenko, am 16.11.2014 im Einklang mit den Strategen im Pentagon vom „totalen Krieg“ träume, raffte sich kein US-/EU-höriger Journalist auf, aufzubegehren und sich an die Rede von Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast 18.02.1943 zu erinnern. Einen totalen Vernichtungskrieg hatte dieser schon am 30.01.1943 proklamiert ... „in vollkommener Übereinstimmung mit dem ganzen deutschen Volk in der Heimat und an der Front (...). Das Volk will alle, auch die schwersten Belastungen auf sich nehmen und ist bereit, jedes Opfer zu bringen, wenn damit dem grossen Ziel des Sieges gedient wird“, so der Adolf-Hitler-Vertraute Goebbels. Immer auf dem Weg zum „totalen Sieg“. Poroschenko sind alle Mittel recht, auch der Versuch, die arme und alte Bevölkerung in der Ostukraine auszuhungern – immer mit EU-Unterstützung.
 
Die Grabschaufler
Wenn Medien nur auszugsweise nach ihrem Gutdünken darüber berichten, was ihnen gerade in den Kram passt, ist es unumgänglich, dass ihnen zuerst die Glaubwürdigkeit und infolgedessen die Leser verloren gehen. Sie schaufeln sich ihr eigenes Grab, was inzwischen zu ihrer Kernkompetenz wurde, wie an den sinkenden Auflagezahlen abzulesen ist. Diese an- und eingepasste Art der Berichterstattung, dieses Totschweigen einer- und Aufbauschen anderseits, erstreckt sich flächendeckend über alle Themenbereiche. Durch die aufblühende 5. Macht, die Sozialmedien, werden die Machenschaften der 4. Macht (etablierte Presse) aufgedeckt und apostrophiert; ihr Erfolg kann durchaus als Notschrei gegen die unhaltbaren Zustände im herkömmlichen Informationswesen verstanden werden.
 
NZZ
Selbst die einst angesehene Neue Zürcher Zeitung (NZZ) entblödete sich nicht, sich in die uniforme Einheitsmeinung einzubinden und das Layout anzupassen. Sie gab ihre Tradition und Weltoffenheit preis und liess und lässt sich als Sprachrohr der (Wirtschafts-)Kriegsnation USA missbrauchen – bei zerbröselnder Auflage. Diese schmolz von 2005 bis 2014, also innert 10 Jahren, von 150 945 auf 108 709 Exemplare.
 
NZZ-Chefredaktor Markus Spillmann wurde Anfang März 2015 durch Eric Gujer ersetzt, der vorher Chef des Ausland-Ressorts war. Die Basler Zeitung (BaZ) kommentierte am 12.03.2015 zur Haltung Gujers: Ein liberalkonservativer Atlantiker, sieht er die USA als unentbehrlichen Partner Europas, hält Waffenlieferungen an die Ukraine für wünschenswert und zeigt für Israel mehr Verständnis als die meisten Journalisten.“
 
Diese eingeschränkte Haltung, genau auf die Mainstream-Konsensmeinung abgestimmt, bietet selbstverständlich keine tragfähige Basis für ein Weltblatt, das unbefangen international ausgerichtet sein und alle Grossmächte (mit Einbezug von China und Russland) sowie alle Länder und internationalen Fragen überhaupt nach den gleichen Objektivitätskriterien messen und beurteilen müsste. Der Vergleich mit einem Provinzblatt wäre deplatziert, da Zeitungen, die eine kleine Region kompetent abdecken, meine Wertschätzung haben – im Gegensatz zu Zeitungen mit globalem Anspruch, die an einem sektoriellen Denken leiden, auf Vorgaben aus der Zentrale warten und diese, gedankenlos zustimmend, weiterleiten.
 
Immerhin darf hier angefügt werden, dass sich die NZZ in den letzten Tagen wieder bemüht, zur Ethik zurückzufinden, wie die zurückhaltende Berichterstattung ohne Vorverurteilung hinsichtlich des Germanwing-Absturzes am 24.03.2015 in den französischen Alpen belegt. Die Unschuldsvermutung gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist, selbst wenn sich die Schuldbeweise mehren. Aber selbst dann ist der Einfluss einer Geisteskrankheit in Rechnung zu stellen.
 
Der sozialmediale Notschrei
Bei Twitter und Facebook und ähnlichen auf Massenkommunikation ausgerichteten Portalen bestimmt die Gesamtheit der interessierten, engagierten Teilnehmerschaft, was publiziert wird, falls Facebook nicht gerade zensurierend eingreift, was bei westlichen Tabuthemen (US- und Israel-Kritik) bald einmal der Fall sein kann, wie ich selber erfahren habe. Im vermeintlich freien Westen ist Zensur kein Fremdwort. Das Judentum darf, um ein Beispiel zu nennen, nur mit Samthandschuhen angefasst werden.
 
Auch wenn in den Mitmachmedien wie Twitter und Facebook viel Seichtes und Unnützes im Spiele ist, findet sich hier immerhin oft ein sonst nicht zu erreichendes Wissen, gepaart mit speziellen Ortskenntnissen; das Bobachtungsnetz ist eng, bald einmal fast lückenlos. Kein traditionelles Medium kann sich daran messen. Die schrumpfenden Druckmedien müssen unter dem Druck dieser Konkurrenz und der Kosten Personal abbauen. Sie haben nicht mehr die geringste Chance, mithalten zu können, weder zeitlich noch hinsichtlich der Faktengenauigkeit. Ihre Talfahrt wird dadurch beschleunigt.
 
Kein Bogen um Missstände
Zu den äusseren Ursachen für den Niedergang von Zeitungen und Zeitschriften kommen neben verdrehten Berichterstattungen weit abseits jedes Glaubwürdigkeitsanspruchs auch mannigfaltige interne Vorgänge, die hauptsächlich selbstverschuldet sind und die auf Dilettantismus beruhen. Es ginge auch anders.
 
Ich persönlich habe diesbezüglich eigene Erfahrungen aus jener Zeitspanne, während der ich die Zeitschrift „Natürlich“ leitete (1985/86 bis Mitte 2002). In diesen Jahren stieg die Auflage von etwa 4000 auf 85 000 bis 90 000 Exemplare und mehr. Die stolze Zahl konnte selbst in den schwierigen 1990er-Jahren gehalten werden.
 
Wir verfolgten einen furchtlosen, kritischen Kurs, liessen unsere Unabhängigkeit erkennen und machten auf die Missstände bei der Industrie-Landwirtschaft und -Lebensmittelfabrikation auf der Basis von erhärteten Details aufmerksam, verschonten zum Beispiel die Forstindustrie mit ihren serbelnden Monokulturen (Fichtenstangenwäldern, Holzackerbau) und die ETH mit ihren falschen Lehrprogrammen (erläutert am ETH-Lehrwald am Uetliberg) nicht. Die Schulmedizin, die ihre Tätigkeit mehr und mehr aufs Behandeln, auf den Kommerz statt aufs Heilen, verlegte, war ein Dauerthema, ebenso wie die ausser Rand und Band geratene, umsatzbolzende Chirurgie, die auch vor überflüssigen Eingriffen nicht zurückschreckt(e). Alles wurde ohne politische, finanzielle und religiöse Tabus dargestellt. Und als der hirnlose Medienmainstream verkündete, das neue, 3. Jahrtausend beginne am 01.01.2000 (statt am 01.01.2001 ... das Zählen beginnt ja mit 1, nicht mit 0), machte ich daraus ein Schwerpunktthema, schloss daraus auf den geistigen Zerfall der Gesellschaft. Auf dem „Natürlich“-Titelblatt publizierte ich eine Zeichnung von Sonja Burger, die ein alpines WC-Häuschen mit dem 00 auf der Holzbrettertür gezeichnet hatte.
 
Wenn immer sich die Gesellschaft auf einen Irrtum einschoss, einer Kollektivpsychose erliegend, wirkten wir als Korrektiv, und wir bewegten uns somit auf einem ergiebigen Feld. Zur Schonung der Leserschaft verzichtete ich als einziges Publikationsorgan im AT/AZ-Haus auf die abstruse deutsche Neuschreibung, wie sie von verwirrten Germanisten vorgegeben wurde. Verständige Korrektoren korrigierten nach der Neuschreibweise Geschriebenes, das uns zugesandt worden war, mit Vergnügen auf die herkömmliche Schreibweise zurück.
 
Die Globalisierung, auf welche beinahe die ganze Welt hereinfiel, kam bei uns zur gebührenden Geltung. Darunter ist die Weltvereinheitlichung unter amerikanischer Herrschaft zu verstehen. In meinem Leitartikel („Die Zeit der Jahrtausendsassas“) im Natürlich 1-2002 schrieb ich: „Die Globalisierung mit dem Glatthobeln nationaler Eigenarten unter dem Diktat des trottelhaften Yankee-Schulmeisters geht fröhlich weiter, auch wenn hinlänglich bekannt ist, dass jede Gemeinschaft ein Klub von Egoisten ist“ (Seite 11). Und in meinem 11 Seiten umfassenden Abschieds-Schwerpunktthema („Die Quadratur des Naturjournalismus-Kreises“, 2002-06) bezeichnete ich anhand von Beispielen wie der Vergiftung des Lands Vietnam mit dem Ultragift Dioxin, wie der Monsanto-Machenschaften, der Kriegstreibereien und dergleichen die USA als „Schurkenstaat“. Im Artikel in der „AZ“ zu meinem Übertritt in die Pensionierung wurde auf diese Weise meine kuriose, unangepasste Denkweise zelebriert. Inzwischen hat sich meine begründete Einschätzung der weltumspannenden US-Machtpolitik mit zunehmender Deutlichkeit akzentuiert; man kann nicht mehr darüber hinwegsehen und Kritiker mit einem mitleidigen Lächeln abtun.
 
Bilder-Orgien
Die Bilder setzten wir nicht als Platzfüller ein, sondern sie hatten der Information zu dienen, und sonst wurde darauf verzichtet. Eine Platzverschwendung leisteten wir uns nicht. Das Bestreben nach Aussagekraft galt auch für die Titelbilder, die meines Erachtens nicht den Kioskverkauf zu fördern hatten, sondern das abzubilden hatten, worüber schwerpunktmässig im Heft zu lesen war. Sie versprachen also nicht etwas, was im Heft nicht gehalten wurde. Die sachbezogenen Fotos und Zeichnungen trugen mir intern immer schwere Vorwürfe ein, nicht aber von der Leserschaft. Ich liess mich nicht umstimmen, wollte auf dem Cover – es muss immer Englisch sein – keinesfalls um des Absatzes willen mehr hinausschreien als wir im Heftinnern bieten würden.
 
„Gewächswunder im Zeitschriftengarten“
Der Verzicht auf Füllerbilder liess uns Platz für ausführliche, faktenreiche, hintergründige Darstellungen – für Wörter, Beschreibungen und Kommentare. Wir hatten den Mut, das Schreiben zu pflegen, taten es aus der Erfahrung heraus, dass wir eine höchst motivierte Leserschaft hatten, die ich als intellektuelle Elite empfand, die gern las und umfassend und ehrlich informiert sein wollte.
 
Unsere selbstbewusste Art des unangepassten Zeitschriftenmachens war sensationell erfolgreich, und wenn wir in einem Ferienmonat einmal weniger als 400 Abonnenten-Neuzugänge hatten, löste das schon beinahe eine Krisensitzung aus. Der Publizist Paul Bischof, ein stiller, in die Tiefe vordringender Schaffer, verbreitete im „Tages-Anzeiger“ vom 08.07.1988 eine halbseitige Darstellung unter der Überschrift „,Natürlich’ – ein Gewächswunder im Zeitschriftengarten“. Bischof betonte den hohen Nutzwert und bezeichnete die redaktionelle Grundhaltung zutreffend als „konservativ-werterhaltend (...) die vieles in Frage stellt und oft zu neuen alternativen Lösungen kommt oder gar neue, manchmal überraschende Wege weist“.
 
Die Oberherrschaft der Experten
Doch die Zeiten änderten sich, auch die guten. Von Werterhaltung war plötzlich keine Spur mehr, nicht nur im Schreibgewerbe. Verlags- und Marketingfachleute, die ihren Rucksack mit amerikanisierten Schnellbleichen in Fachschulen vollgestopft hatten, begannen die Volksnähe und Erfahrungen der Redaktionen zu überlagern, und sie waren überzeugt, alles viel besser zu wissen; normale Leseransprüche, die jeder Zeitungs- und Zeitschriftenmacher an der Front spürt, wurden über Bord geworfen. Sie wollten aus dem zu verkaufenden Produkt ein Objekt der Eigenwerbung machen. Sie allein wussten, wie man eine Zeitschrift richtig gestaltet und was darin zu stehen hat, plädierten für reich bebilderte, luftige Aufmachungen sowie für ganz kurze Texte und übersahen, dass es für den Bilderservice das Fernsehen gab. Sie schnorrten zunehmend in redaktionelle Belange hinein (was bisher nicht einmal die Direktion getan hatte), ohne sich je der Mühe unterzogen zu haben, die Zeitschrift von vorne bis hinten aufmerksam zu lesen, ihre Philosophie und ihren Gehalt zu erfassen; wahrscheinlich beschränkten sie sich aufs Bilderanschauen. Meist kamen sie nicht weit übers Titelbild hinaus, das ihnen gar nicht gefiel, weil es oft aufrüttelte und nicht eine heile Welt vorgaukelte.
 
Das Titelblatt der Nummer gegen die Amalgamgifte aus den Zahnarztpraxen (1989-06, geschaffen von Sonja Burger, wissenschaftliche Zeichnerin mit Kunstverständnis) dekorierten wir mit einem Zahn mit eingebautem Sondermüllfass im Grossformat. Stattdessen wollten die Marketingexperten, die das als abschreckend empfanden, schlicht und einfach unbesehen und unüberlegt umsetzen, was ihnen im Fachschulunterricht von praxisfernem Lehrpersonal eingetrichtert worden war, bis hin zu vollständigen Relaunches (Umgestaltungen). Selbst Lebensraum- und Gesundheitszerstörungen sollten wir mit einem positiven Anstich übertünchen und bitte immer schöne junge Damen aufs Titelblatt setzen. Auch Kinder würden gut ankommen.
 
Die „Akzeptanzanalyse“
Selbstverständlich prallten solche blödsinnigen Vorhaben von mir wie die Kugel an einer schusssicheren Weste ab. Um mich in die Knie zu zwingen, wurde im Oktober 1989 bei „Schreiber & Partner, München“ eine sogenannte Akzeptanzanalyse „als Basis für die konzeptionelle Profilierung“ bestellt. Dr. Uwe Schreiber, der die 1988 gestartete „Natürlich“-Ausgabe Deutschland in die Erfolglosigkeit führte, und das, was davon noch übriggeblieben war, an „Natur“ verschleuderte, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwand, war der auserwählte Gutachter mit Expertenstatus. Er fand in „meinem“ „Natürlich“-Schweiz gravierende Mängel: unter anderem zu breites Themenspektrum, zu lange Artikel: „zu viel und zu sehr in die Breite“ (Leser wurden als dumm und überfordert verkauft). Er war kein Schreiber und kein Leser.
 
Dazu kommt mir eine treffende Sequenz aus einer Rede von Frank-Walter Steinmeier, deutscher Politiker und Bundesminister des Auswärtigen, in den Sinn: Der Minister fragt: ,Wenn Sie die Lage in Ihrem Land in einem Wort zusammenfassen sollten, welches wäre das?’ Der Botschafter überlegt und sagt: ,Gut.’ Das hatte der Minister nicht erwartet, er hakt nach: ,Und was, wenn Sie die Lage in 2 Worten zusammenfassen sollten?’ Der Botschafter sagt: ,Nicht gut.’“
 
Neben der Länge der Artikel, die viel mehr als 2 Worte enthielten, wurden uns vom Verkaufsberater aus München ferner die „Schweizerismen“ (Helvetismen) in Sprache und Rechtschreibung unter die Nase gerieben (das „Natürlich“ war ja eine Schweizer Zeitschrift, und für die deutsche Ausgabe musste die Sprache zweifellos angepasst werden, eine kleine Lektoratsaufgabe: aus parkieren musste parken und aus der Baumnuss eine Walnuss, aus Ferien Urlaub werden, usw.). Wir verzichteten so weit als möglich auf Anglizismen, und für den Gutachter war das ebenfalls Anlass für eine heftige Kritik. Ihm missfiel, dass ich die Hefteinleitung mit „Leitsätze“ statt „Editorial“ (der Editor ist der Herausgeber) überschrieben hatte und wir einmal von einem Kindlein statt von einem Baby sprachen ...
 
Im läppischen Gutachten wurde meine Sachkompetenz deshalb angezweifelt, weil ich in der gleichen Nummer 2 verschiedene Themen behandelt hatte, ohne dass darin auch nur der kleinste materielle Fehler gefunden wurde. Uwe Schreiber konnte es einfach nicht fassen, dass man sich nach fast 30 Journalistenjahren und Erfahrungen aus der Chemie-Forschung usf. mit dem dabei angehäuften Wissen, das ich immer durch Bücherstudien mehrte, mehr als in bloss einem einzigen Fachbereich auskennen kann. Es sah so aus, als ob er auch die gründliche, aufwendige Recherche nicht kenne, mit der sich ein Journalist ins Bild zu setzen hat, bevor er ein Thema abhandelt. Auch heute noch bilde ich mich unablässig weiter; kein Tag, an dem ich nicht mindestens ein Buch (Fachbücher und Schöngeistiges) in die Hand nehme und darin gründlich studiere.
 
Akzeptanz im Hause AT/AZ
Und endlich wurde aufgrund der auf einer einzigen Ausgabe basierenden „Analyse“ mit Resultaten aus manipulierten Strassenumfragen, Antworten von Leuten, die hinsichtlich auf das befragte Objekt von Tuten und Blasen keinerlei Ahnung hatten, das untersuchte Objekt als unprofessionell auf dem Boden zerstampft. Die emporschnellende Auflagenzahl wurde ausgeklammert. Die Expertengläubigkeit triumphierte über jede Vernunft, ignorierte den Beachtungserfolg.
 
Ich kommentierte das Gutachten in einem intern verbreiteten Papier so: „Die Zuflucht zu Umfragen und ,Gutachten’ verschlingt Geld, veranstaltet Umtriebe und enorme Spesen und führt am Ende zum Ruin, besonders wenn die Aufgabenstellung falsch und die Durchführung liederlich ist ... Gibt man den Werbestrategen und ihren Riesenschaumschlägereien statt, vertreibt man die treuen Leser und gewinnt keine neuen dazu. Solch eine Pfuscharbeit hätte man nicht akzeptieren und bezahlen dürfen.“ Mein Kommentar umfasste 4 eng beschriebene A4-Seiten.
 
Ich hatte das Gefühl, dass ich bei einem grossen Teil der etablierten Equipe im Hause Aargauer Tagblatt (später AZ Medien) Zustimmung und Sympathien auf meiner Seite hatte. Und so wurde ich bei meiner Verabschiedung in die Pensionierung Ende Juni 2002 auf Schloss Wildegg mit einem grandiosen Fest verabschiedet, zu dem zu meiner Freude die Mitarbeiter und die treuesten unserer Leser eingeladen worden waren, weit über 100 Personen. Mitarbeiter und kritische, mitgehende Leser waren für mich das zentrale Ereignis bei der redaktionellen Arbeit, und einige davon persönlich zu sehen und kennenzulernen, war für mich eine grosse Freude.
 
Aus dieser Wertschätzung der Leserschaft heraus, der gegenüber ich mich offen und ehrlich äusserte und auch Unbequemes auftischte, betreute und beantwortete ich die Leserbriefe selber; gerade diese äusserst wichtigen Kontakte erachtete ich als Chefsache. Auch im Textatelier.com werden noch heute Nutzerzuschriften mit grösster Sorgfalt behandelt, beantwortet und zelebrierend publiziert.
 
Sogar ein 16 Seiten umfassendes Abschieds-„Extrablatt“ wurde beim Anlass meiner Pensionierung gedruckt. Die damalige, deutsche Verlagsleiterin, Riccarda Mecklenburg Schön, die von unserer unkonventionellen Arbeitsweise zuerst schockiert (deutsch: geschockt) war und diese mit der Zeit immer besser verstand, staunte als ehemalige Journalistin immer wieder, wie sie in der Sonderausgabe schrieb, „mit welcher Vehemenz Lesern der Kopf gewaschen wurde, weil sie irgendeiner zweifelhaften Ernährungsweise frönten, prompt Magenschmerzen bekamen und sich mit diesem Problem an die ,Natürlich’-Redaktion wandten. In keiner anderen mir bekannten deutschsprachigen Publikation wäre man so mit den Lesern umgesprungen. Aber die ,Natürlich’-Leserinnen und -Leser schätzen anscheinend den Klartext (...). Selbst wenn religiöse Gefühle oder politische Ansichten bei unseren Lesern verletzt wurden, es war nie ein Grund, das ,Natürlich’ abzubestellen. Eher setzte man sich mit der Redaktion via Leserbriefe, die immer beantwortet wurden, auseinander.“
 
Ein Tabu habe es nicht gegeben, schrieb Frau Mecklenburg im Weiteren. Die Unabhängigkeit sei so weit gegangen, auch gute Inserenten zu vergraulen, weil sie nicht die richtigen Produkte im Regal hatten: „Auch das ist eine einmalige Haltung von der Redaktion und insbesondere, dass der Verlag das auch toleriert hat.“ Und die Verlagsleiterin zeigte sich vom „unglaublichen Fachwissen“, das sich auf der Redaktion angesammelt hatte, beeindruckt. Ich zitierte das nicht zur Selbstbeweihräucherung, sondern nur, um auf die unterschiedlichen Einschätzungen aufmerksam zu machen. Die Würdigung war ein schönes Abschiedsgeschenk.
 
Alles neu
Das „Natürlich“, fast so etwas wie mein ausserfamiliäres Kind, musste ich aus Gründen der Volljährigkeit und wegen meiner Pensionsreife (am 65. Geburtstag) freigeben. Ich gründete, um weiterschreiben zu können, meinen Internetauftritt www.textatelier.com, den ich auch ausgewählten Autoren öffnete, eine Plattform ohne kommerziellen Hintergrund.
 
Fürs „Natürlich“ hatte ich als Nachfolger ein Redaktoren-Paar einführen dürfen, so dass ich voller Zuversicht über das weitere Gedeihen der Zeitschrift war. Leider verliessen die fähigen Nachfolger Petra Horat und Alex Bieli, die ich noch einführen durfte, die redaktionelle Tätigkeit bald wieder, und es steht mir nicht an, die nachfolgenden Redaktoren zu werten; sie wirkten auf einem anderen Hintergrund, waren unbelastet, aber auch nicht etabliert, konnten sich weniger Freiheiten herausnehmen, vollzogen, was ihnen aufgetragen war.
 
Mit den herkömmlichen aussenstehenden, vertrauten Mitarbeitern wurde ratzekahl aufgeräumt, ein verhängnisvoller Fehler, wobei ich nicht weiss, wer das verfügt hatte; andere zogen sich aus persönlichen Gründen zurück. Statt am Bewährten festzuhalten, die Zeitschrift schrittweise ständig zu verbessern und an allenfalls geänderte Leserbedürfnisse – nur um diese geht es – anzupassen, wurde auf Teufel komm raus relauncht. Es ist seit Jahren Mode, dass Zeitungen und Zeitschriften (auch TV-Stationen) ihren Publikumserfolg mit ständigen Umgestaltungen herbeiführen wollen – statt mit inhaltlichen Verbesserungen. Auf ihrem mit Schaum versehenen Holzweg gleiten sie ständig aus.
 
Die Titelschrift, das Markenzeichen der Zeitschrift, wurde beim „Natürlich“ radikal abgeändert, modernisiert. Aus der angepassten, gut zeichnenden und dennoch eleganten New-Times-Roman-Schrift, welche das Publikationsorgan von Anfang an begleitet hatte, wurde eine magere, abgerundete Kleinschrift ohne Ecken und Kanten, die nur etwa 2/3 der Kopfbreite ausfüllte und welche offenbar auf die neue abgeschliffene Thematik ausgerichtet war.
 
Nachdem dann dieser Schwachsinn erkannt worden war, wurde eine fette Schrift hervorgekramt und der Titel ergänzt: „natürlich leben“. Damit wurde der Titel eines von mir 1988 verfassten Buch adoptiert. Was für ein Buch angemessen ist, kann sich für eine Zeitschrift als falsch erweisen, besonders wenn eine etablierte Ein-Wort-Fassung eingebürgert war. Folglich wurde der unnötige Zusatz „leben“ bald wieder gekillt, und man kehrte zum „natürlich“ in einer klobigen Fettschrift zurück. Solchen Bocksmist, der im immer luftigeren, buchstabenärmeren Innern seine Fortsetzung findet, hätte ich nicht zugelassen – soweit das möglich gewesen wäre. Änderungen wurden immer vorgenommen, wenn ich in den Ferien weilte ... Immerhin konnte ich seinerzeit verhindern, dass der Versandumschlag aus braunem Recyclingpapier durch das Einschweissen in eine Kunststofffolie ersetzt wurde. Kaum war ich pensionshalber weg, wurde die Umstellung zur Leserverärgerung vorgenommen und gerade auch noch die Neuschreibung eingeführt, um die trendige Angepasstheit zu plakatieren, von der ich nichts wissen wollte.
 
Die jüngste Rundumerneuerung der plastikverschweissten Zeitschrift hatte die Ausgabe 03-2015 erfahren, die wie der Frühjahrskatalog eines Samenhändlers beziehungsweise Gartenartikelgeschäfts daherkam. Und tatsächlich war es gelungen, durch die Verwendung noch grösserer Schriften (mit entsprechend breiten Zwischenräumen und mehr leerem Zwischenraum das „natürlich“ weitergehend auszudünnen; es erschien mir, als ob ein Rotwein mit der fünffachen Menge Wasser gestreckt worden wäre, was auch doppelseitige verschwommene Fotos nicht besser machten. Und die Anglizismen feierten Urständ: Editorial, Ticket (für Veranstaltungstips), Box statt Kasten. Ja, Englisch ist in. Die Schranken zwischen redaktionellem Text und Reklame sind auch gerade noch gefallen. Viele Informationen sind durch Symbole ersetzt; das Lesen ist unpopulär geworden. Hätte ich nie gedacht. Ja, „das Gehirn besteht zu 90 % aus Wasser“ (Seite 55). Bald werden es mehr sein. Und dann folgen die „Good news“.
 
Schlaf- oder Aufweckmittel
Es ging mir hier nicht um eine Abkanzelung der Zeitschriftenmacher der letzten Jahre im Allgemeinen. Ich wollte bloss beispielhaft darlegen, welche Mechanismen den Druckmedienerfolg ins Gegenteil verwandeln. Die verkaufte Auflage ist nach Verlagsangaben auf 18 406 Exemplare abgesackt. 4 von 5 Abonnenten kündigten inzwischen. Den Rückzug trat auch die Eidgenössische Gesundheitskasse an.
 
Der Zerfall hat wohl auch damit zu tun, dass beim zunehmenden Konzernmedienjournalismus intern nach allen Seiten Rücksicht genommen werden muss; die Konzernrechnung muss stimmen, wie es sich für die neoliberale Mode gehört (ich hatte nie ein Budget, sondern das Vertrauen des Verlags und nutzte das nie aus). Mit meinen antiquierten, hausbackenen Vorstellungen wäre ich in diesem Geschäft heute nicht mehr tragbar.
 
Zudem werden jetzt, in diesen schwierigen Zeiten, vorsichtshalber alle brisanten Themen ausgeklammert. Wenn man über den ersten Schnee, die Kultur der Weihnachtskrippen oder die Zubereitung von Hirsotto berichtet, hat das alles seinen Platz. Doch heisse, bewegende, aufrüttelnde Themen, mit fundiertem Engagement dargestellt, müssten solche Beschaulichkeiten garnieren. Man muss sich anständigerweise betont vom Irrsinn dieser Welt distanzieren, und dafür eignet sich das Positiv-Denken nicht; es ist eine Absetzbewegung von der Wirklichkeit. Nur aus einer kritischen Haltung heraus entstehen fulminante Diskussionen, die zu meiner Zeit manchmal 10 Zeitschriftenseiten füllten. Die heissesten Diskussionen provozierte mein Hauptartikel über den fehlenden Naturbezug und die damit verbundene Verunglimpfung der Tiere im christlichen Kulturraum. Er bestätigt sich ununterbrochen: Am 18.11.2014 hat der Ständerat in Bern einen Vorstoss des CVP-Politikers Stefan Engler angenommen, der forderte, das Abschiessen der Wölfe zu ermöglichen, bevor diese Schaden angerichtet haben, begründet mit Tourismus und „öffentlicher Sicherheit“(!). Die streng religiösen Tierfeinde sollten zur Beichte gehen und 10 000 Vaterunser herunterleiern müssen.
 
Die „Natürlich“-Geschichte ist nur ein mir besonders gut bekanntes Beispiel. Im Prinzip spielt sich überall dasselbe in beliebigen minimen Variationen ab. Als ehemals leidenschaftlicher Zeitungs- und Zeitschriftenmacher ist es mir nicht gleichgültig, was in dieser degenerierenden Branche abläuft. Obschon ich es mir nicht nehmen liess, ein paar Spotlichter darauf zu werfen, bin ich mir vollauf bewusst, dass ich damit das Zeitungs- und Zeitschriftensterben nicht verzögern, geschweige denn aufhalten kann.
 
Die Gefühlslage einer ganzen, einst angesehenen Branche lässt sich auf die gewünschte Kurzformel bringen: Lust am Untergang.
 
 
Literaturhinweis
Hess, Walter: „Natürlich leben. Ein praktischer Ratgeber für Ernährung, Gesundheit, Schönheit und Wohnen“, AT Verlag, Aarau 1988. Vergriffen.
 
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