Am babylonischen Turm wird weitergebaut
(Bildquelle: DPA/PHOTOPQR/L'ALSACE/JM Loos)
Was haben das Bretonische, Okzitanische und die elsässisch-lothringischen Dialekte (moselfränkisch und alemannisch) in Frankreich, die ukrainische und belarussische (weissruthenische) Sprache, das moldavische Rumänisch sowie die drei baltischen Sprachen in der ehemaligen UdSSR, the Gaelic (Goidelic) languages in Great Britain, das Deutsch der Südtiroler, das Ladinische sowie die neapolitanische und sizilianische Regionalsprache in Italien, das Slowenische in Österreich, das Katalanische und Baskische in Spanien, das Kurdische in der Türkei und das Rätoromanische (Rumantsch) in der Schweiz miteinander gemeinsam? All diese Sprachen werden/wurden im Sinne nationaler Leitkulturen vom Zentralstaat bekämpft, unterdrückt, lächerlich gemacht, teilweise sogar verboten und somit zum Vehikel von Angriffen auf eine in Jahrhunderten geprägte Kultur, Identifikation und das Heimat- und Selbstwertgefühl von Millionen von Menschen. Die weitaus extremeren „Sonderfälle“ des osteuropäischen Jiddisch und der Sprachen von Sinti und Roma seien hier, um das Thema nicht zu sprengen, nur am Rande gestreift.
Das historisch vor allem im 19. Jhd. geprägte nationalstaatliche Denken (in Deutschland von Historikern wie Heinrich von Treitschke und Leopold von Ranke formuliert), das derzeit aus unterschiedlichen Ängsten vor fremden Kulturen (und Sprachen!) insbesondere in Russland, Ostmitteleuropa (Polen, Ungarn, Tschechien) und Großbritannien eine Art Renaissance erlebt, hatte keinen Platz für jene das Sendungsbewusstsein des Zentralstaates störende und, modern gesprochen, dem mainstream entgegenstehende Minderheitenmilieus mit eigenen sprachlichen Ausdrucksformen.
Sprache ist, im Gegensatz zu der seit den 1970er Jahren vorherrschenden linguistischen Schule der Strukturalisten, Funktionalisten, Semiotiker und Neopositivisten, für die Namen wie André Martinet, Noam Chomsky, Max Bense und Peter Stockinger stehen, mehr als ein Zeichensystem auf mehreren Ebenen mit dem Ziel von Redundanz und Kompetenz, sprich der blossen Verwirklichung von Kommunikation. Wäre dies so, würde heute die ganze Welt Esperanto sprechen. Immerhin käme das der heutigen Smartphone-Generation entgegen, die eine Art Minimalisten-Esperanto als Sprache missversteht.
Die Bonapartes, Stalins, Mussolinis, Francos, die Jakobiner jedweder couleur sowie ihre „demokratischen“ Nachfolger haben da anders gedacht, als sie die Sprachen von Minderheiten in ihren zentralistisch organisierten Nationalstaaten durch Publikationsverbote, eine flächendeckend eingeführte Einsprachen-Bildungspolitik und die Verbannung von Regionalsprachen aus Rundfunk, Presse und öffentlichem Leben mit Mitteln der Kriminalisierung zum Verschwinden bringen wollten. Dass ihnen dies nicht überall gelungen ist, zeigt umso mehr, dass Sprache einen unverbrüchlichen Teil der Tradition ausmacht, zumindest so lange sie mündlich weiter überliefert werden kann.
Allerdings sind bereits einige der oben angeführten Sprachen dem Untergang geweiht und fast nur noch rudimentär erhalten. Die keltischen „Überreste“ in der Bretagne, in Wales, Schottland und Irland sind der kleine Flecken, der von der im Frühmittelalter in Europa dominierenden Sprachfamilie übrig geblieben ist. Dass in weiten Teilen der Ukraine nur Russisch gesprochen wird, mag den einen oder anderen Blauäugigen überraschen, ist aber nichts anderes als eine Folge der massiven Bekämpfung dieser hochinteressanten ostslawischen Kultursprache durch den Stalinismus, beendet erst durch die – partiell bereits wieder gefährdete – Erlangung der Unabhängigkeit von den russischen Unterdrückern. Gleiches gilt für die baltischen Sprachen. In Estland beispielsweise (Eesti ist eine finnugrische Sprache, die mit dem Finnischen verwandt ist und zum Lettischen und Litauischen keinen Bezug hat) sprechen nur etwa 35% der dortigen Bevölkerung die Landessprache, fast 90% allerdings sprechen und verstehen Russisch.
Ein anderer Aspekt ist, dass in multikulturellen Gesellschaften die Sprachen der jeweiligen Minderheiten genauso wie ihre Sitten, Bräuche, ihre Religion und ihr Nationalcharakter häufig zum Ziel von Verunglimpfungen und Beleidigungen durch die Mainstream-Kulturen werden. Die Theorie Joseph Schumpeters über die „Feind- und Nationenbilder“, die immer den jeweiligen Nachbarn gelten, findet hier ihre Exemplifizierung. Russen haben die Ukrainer, wegen ihrer vier verschiedenen „i“-Laute , als „i“dioten bezeichnet. In der Schweiz betrachtete man das Rumantsch bisweilen als „Sprache der Trottel“ und erzählte sich dabei den „Witz“, dass die Rätoromanen statt ihrer vielen Dialekte besser Gebärdensprache lernen sollten, was allerdings auch nicht funktionieren würde, seien ihre Finger doch vor lauter Inzest zusammengewachsen.
Allerdings gibt es auch ein paar wenige interessante bis kuriose Gegenbeispiele. In der DDR wurde die slawische Minderheit der Sorben mit ihren beiden westslawischen Sprachen Niedersorbisch (dem Polnischen ähnlich) und Obersorbisch (dem Tschechischen verwandt), insbesondere in der Ära Honecker, geradezu hofiert, was diese beiden slawischen „Randsprachen“, anders als das Polabische, das mutmasslich noch Ende des 19.Jhd. in Niedersachsen gesprochen worden sein soll, vor dem Aussterben gerettet hat. Gründe dafür waren wohl der „National“stolz des kleinen Landes, überhaupt eine autochthone „Minderheit“ auf ihrem Staatsgebiet zu haben (im Gegensatz zum kapitalistischen Nachbarn im Westen), sowie die Tatsache, dass die „slawischen Brudervölker“ im real existierenden Sozialismus der DDR ja eine besondere Bedeutung hatten, und die braven Sorben, die ihre Privilegien durchaus zu nutzen wussten (in Sachsen wird heute noch gern von der „Sorbenmafia“ gesprochen) waren ein Teil davon.
Eine balkantypische „Kompromiss“linie wurde im Tito-Jugoslawien eingehalten. Zwar war das Serbokroatische (in Serbien, Kroatien, Bosnien und Montenegro gesprochen; seit dem Ende Jugoslawiens gibt es jetzt erstaunlicherweise „neue“ Sprachen: Kroatisch, Serbisch, ja sogar Bosnisch und Montenegrinisch?!!) die Verkehrssprache, die von allen gelernt und gesprochen werden sollte, aber slowenisch und mazedonisch, ja sogar das Kosovo-Albanische (gegisch) waren als Kommunikationssprachen akzeptiert, es gab eine entsprechende Presse, Fernsehsendungen und Literatur, Verwaltungsdokumente wurden in die Minderheitensprachen übersetzt, sie wurden parallel an Schulen gelehrt, sogar an Universitäten durften Vorlesungen in diesen Sprachen gehalten werden.
Das „stichhaltigste“ Argument für die Beseitigung aller Regional- und Minderheitensprachen hat der „große Diktator“ Benito Mussolini geliefert. Während der heroischen Epoche des Imperium Romanum (die Phase der „spätrömischen Dekadenz“ hat er verschwiegen!) bis weit ins Mittelalter hinein habe jeder halbwegs gebildete Mensch in ganz Europa und sogar darüber hinaus Latein gesprochen. Und er fügte an: die Fortsetzung des Lateinischen sei nun einmal Italienisch! Che bello!
Literaturempfehlungen
Interview mit Karl-Peter Schramm (Präsident des deutschen Komitees für Regional- und Minderheitensprachen), Sprachen verschwinden lautlos (http://www.dw.com/de/sprachen-verschwinden-lautlos/a-4558371 )
Euromaidanpress, Welche Sprache ist hier gefährdet? Die Geschichte der ukrainischen Sprache: Eine Chronik der Repressalien der letzten 400 Jahre. (http://de.euromaidanpress.com/2014/06/10/welche-sprache-ist-hier-gefahrdet/ )
Martin Schmidt, Jakobiner gegen Regionalisten
Reynke de Vos, Italienische Geschichtspolitik, Textatelier Blog vom 24.06.2015
Theodor Veiter, Das Recht der Volksgruppen und Sprachminderheiten in Österreich. Mit einer ethnosoziologischen Grundlegung und einem Anhang (Materialien), Braumüller, Wien/Stuttgart 1970
Boris Kalnoky, Erdogan zwingt Kurden zur Assimilation in: Die Welt, 13.02.2008
(http://www.welt.de/politik/article1669929/Erdogan-zwingt-Kurden-zur-Assimilation.html)
Joel Bedetti, Rumantsch galt als Sprache der Trottel
(http://www.20min.ch/panorama/news/story/-Rumantsch-galt-als-Sprache-der-Trottel--19914614)
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