Textatelier
BLOG vom: 13.11.2015

André Glucksmann – Renegat der Linken

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


André Glucksmann, geboren am 19. Juni 1937, in Frankreich, also einen Tag nach Atelier-Gründer Walter Hess, verstorben am 9. November 2015 Paris, war ein französischer Philosoph und als Renegat der Linken ein stark beachteter Totalitarismuskritiker. Seine Vorfahren aus der Bukowina (Vater) und Prag (Mutter), repräsentierten ein aufgeklärtes Judentum, lebten zunächst in Palästina, ab 1930 wieder in Deutschland. Die Meldung von Wikipedia, die Glucksmanns hätten sich dort 1933 dem antifaschistischen Widerstand angeschlossen, ist insofern falsch, als verschiedene dem Faschismus und Nationalbolschewismus nahestehende Deutsche  in der Zeit nach dem 30. Juni 1934 ihrerseits von den Nationalsozialisten verfolgt und erschossen wurden. Es gab in Deutschland kaum je einen politisch stark virulenten Faschismus, es sei denn, man halte sich an eine wissenschaftlich nicht ernst zu nehmende kommunistische Nomenklatur.

Die kritische Bemerkung ist umso mehr angebracht, als Glucksmann ab 1976 seinerseits zu den bestbeachteten Kritikern des Kommunismus und des Totalitarismus allgemein wurde. Er verdankte seine Prominenz weitgehend der Wandlung vom linksextremistischen Maoisten zum Verteidiger der bürgerlichen Demokratie, mit Erkenntnissen, die andere politische Denker längst vor ihm gemacht hatten.Zumal sein sogenanntes Hauptwerk über „Meisterdenker“, Les maîtres penseurs, erschienen 1977, übertraf kaum, was etwa Karl Popper im 2. Band von „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ bereits während des 2. Weltkrieges in Neuseeland geschrieben hatte. Mit seinen Kenntnissen betreffend Fichte, Hegel und Nietzsche, denen er vorwarf, mit mythischer Überhöhung der "abschliessenden, totalen und endgültigen Revolution“ dem totalitären Staat vorgearbeitet zu haben, konnte er bei der Spitzenforschung über diese drei Philosophen nicht mithalten. Was seine Kritik an Marx betraf, so waren die Ansätze bei Ernst Kux „Karl Marx, die revolutionäre Konfession“ (1966) schon fundamental weiterführend. Zum Beispiel, was die Nichtbeachtung der Gewaltentrennung betrifft. Auch der Totalitarismus-Kritik von Eric Voegelin (1901 – 1985) wenig hinzuzufügen.

Das Verdienst von André Glucksmann bleibt freilich, dass Zusammenhänge, die man als Philosophiestudent etwa bei Joseph Maria Bochenski in Fribourg oder bei Hermann Lübbe in Zürich schon längst erarbeitet hatte, nun auch einem frankophonen, über die jüdischen und amerikanischen Verbindungen mehr internationalen auch linken Publikum zugänglich gemacht wurde und das Gerücht vom totalitären Charakter des Marxismus sich bei mehr Lesern verdichtete als dies je vorher der Fall gewesen war. Glucksmann Kommentierungen zum Weltgeschehen waren stark geprägt von der Sowjetkritik von Andrei Amalrik („Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“) und Alexander Solschenizyn, der freilich als panrussischer christlicher Nationalist im Sinn von Dostojewskij und Tolstoi zu verstehen ist und mit seinen Schilderungen des sich konkret entfaltenden Totalitarismus sich weniger als Philosoph denn als grosser Schriftsteller Weltruhm erwarb.

Meines Erachtens hat André Glucksmann, der philosophisch gelegentlich überschätzte Kommentator der Tagespolitik, mit zwei für mich lesenswerten Werken seine Prägung durch die französische phänomenologische Schule ausgewiesen. Eindruck machte mir sein Buch „Der Stachel der Liebe. Ethik im Zeitalter von Aids“ (1995). Angepriesen wurde das Buch zwar mit zeitgeistigen Phrasen, so mit der fragwürdigen These, Aids habe „den Glauben an die moderne Wissenschaft erschüttert und die bestehenden sozialen Konzepte in Frage gestellt.“ Die Wirklichkeit war simpler. Dabei legte Glucksmann, was im Ethikuntericht zitierbar war, den Schwerpunkt nicht wie der etwas jüngere Pop-Sänger Polo Hofer auf „den Gummi drum“ beim Seitensprung. André Glucksmann: „Die individuelle Verantwortung ist der ethische Impfstoff zur Bekämpfung aller Arten von Aids, physischem wie moralischem.“

Was bleibt wohl von Glucksmann? Er repräsentierte so etwas wie den Typus des auch in Deutschland verbreiteten „aufgeregten“ Philosophen. Für Talkshows besser geeignet als für das Verfassen von Standardwerken wie „Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse“ (2. Auflage 2012) von Hermann Lübbe. Ein faszinierender Tite von Glucksmannl bleibt „Hass. Die Rückkehr eines elementaren Gefühls“. Ausgehend von der These von Sartre, Hass  sei „ein Glaube, der für Argumente und Erfahrungen unzugänglich macht“. Von diesem Ansatz her ergeben sich Weiterungen, besonders dann, wenn man wie Glucksmann bei Montaigne ausholt und sich auf dem Weg des Essays einer bemerkenswerten Vertiefung nähert. Ein Nachteil des politisierenden Philosophen Glucksmann bleibt, dass er den Betrachter, ohne je die Ruhe und Abgeklärtheit eines Machiavelli zu erreichen, mit aktuellen Beispielen zu gewinnen versucht, vom Antiamerikanismus bis zur religiösen Wut losgelassener Islamisten.

Mutig scheint mir, dass André Glucksmann mit der Publikation „Gott rette die Vernunft“ der Regensburger Islamkritik von Papst Benedikt XVI. zu Hilfe eilte, wohingegen für die Papstkritiker Hans Küng und Kurt Flasch der Balken im Auge des Islam gegenüber den ebenfalls nicht zu unterschätzenden christlichen Splittern wegen „Islamophobie“ und mangelnder weltethisch-ökumenischer Gesinnung ausser Betracht bleibt. In diesem Punkt des christlich-jüdischen Dialogs bekundet der zum bürgerlich-liberalen Denker gewandelte Franzose keine Mühe mit der Bekämpfung eines realexistierenden Aggressionspotentials. Mit den Linken behielt er die Gemeinsamkeit, immer zu wissen wogegen man sein musste.

André Glucksmann war ein bedeutender philosophischer Essayist aus französischer Schule, im Sinne von Sartre, aber politisch teilweise gegenteilig, ein engagierter Schriftsteller. Um aber beim grössten Thema des Autors zu bleiben: Gerne hätte man von ihm über „Hass“ ein Standardwerk gelesen, wie es seinerzeit der Soziologe Helmut Schoeck mit „Der Neid“ (1965) geschafft hat. Glucksmann bewährte sich als ein philosophischer Autor, der als Publizist den Forderungen des Tages gerecht werden wollte. Den selbst gestellten Ansprüchen hat er meines Erachtens genügt.

Einen Descartes hat es im Frankreich der letzten 50 Jahre nicht mehr gegeben. Immerhin einen Roland Barthes. „Fragmente einer Sprache des Hasses“ wäre ein tauglicher Titel für die Fortschreibung eines der wichtigsten Bücher von Glucksmann. Philosophen sollten mehr philosophieren und weniger politisieren. Was an Glucksmann, dem die Erde leicht sei, hier posthum kritisiert wird, gilt wohl auch dem noch stärker moralisierenden Habermas und dem pragmatisch sein wollenden Sloterdijk. Wenn schon Glucksmann uns verlassen hat, mögen die anderen uns noch lange erhalten bleiben.

 
 
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