Textatelier
BLOG vom: 17.12.2015

Betrachtungen über die Schönheit

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Im letzten Monat habe ich in einem Blog über die „Schönheit“ der ukrainischen Frauen geschrieben. Reaktionen darauf veranlassen mich dazu, mich damit zu beschäftigen, wie dieser Begriff mit Inhalt gefüllt werden kann.

„In der Sprache Platos“, so schreibt José Ortega y Gasset, „ist ‚Schönheit’ der konkrete Name für das, was wir allgemeiner ‚Vollkommenheit’ zu nennen pflegen. Mit einiger Vorsicht formuliert, aber in strenger Anlehnung an die Theorie Platos ist sein Gedanke folgender: In jeder Liebe wohnt ein Drang, sich mit dem anderen Wesen zu vereinigen, das in unseren Augen auf eine bestimmte Art vollkommen ist.“ (S. 279)

Dieses Argument erinnert daran, dass ein verliebter Mensch das „Objekt der Begierde“ in einem besonderen Licht sieht, für ihn ist die Person schön, unabhängig davon, ob andere Zeitgenossen das auch so sehen.

Ich möchte nicht so weit gehen, für mich ist nicht zwangsläufig eine Annäherung damit  verbunden, ob ich eine Person, eine Naturerscheinung oder ein Kunstwerk als schön ansehe.

Ich wende mich Marcel Proust zu, der schreibt:

Der Eindruck, den wir von sehr ausgeprägten Persönlichkeiten, Werken (oder Darstellungen) haben, ist besonderer Art. Wir bringen Ideen von ‚Schönheit’, »großem Stil’, ‚Pathos’ mit, die wir zur Not auch in einem banalen, regelrechten Talent oder Gesicht zu erkennen uns einbilden könnten, doch unser hingegebenes Betrachten hat vor sich eine eindringliche Form, zu der es keinen verstandesmäßigen Gegenwert besitzt, und soll das Unbekannte aus ihr heraus lösen. Man hört einen scharfen Klang, eine bizarr fragende Betonung. Man fragt sich: ‚Empfinde ich Schönheit? Bewunderung? Ist das Reichtum des Kolorits, Adel, Kraft?’ Und aufs Neue antwortet eine schrille Stimme, ein wunderlich fragender Ton, man empfängt ganz materiell den herrisch zwingenden Eindruck von einem ganz unbekannten Wesen, da bleibt kein Spielraum für die ’Weite der Interpretation’. Und darum müssen gerade die wahrhaft schönen Werke den aufrichtigen Zuhörer am meisten enttäuschen, denn in unserm Ideenvorrat ist nicht eine einzige Idee, die einem individuellen Eindruck entspricht. (-) Dem Unterschied zwischen einem stark individuellen Wesen oder Werk und der Idee der Schönheit entspricht der zwischen dem, was wir empfinden und den Ideen Liebe und Bewunderung. Daher erkennt man sie nicht wieder. “

Wenn ich Proust richtig verstanden habe, meint er das, was auch der griechische Philosoph Pyrrhon aus Elis ( 365/60-275 v.Chr.), einer der Begründer des Skeptizismus, lehrte, nämlich, dass das Urteil der Schönheit und Hässlichkeit keine Beziehung zur Wahrheit habe und im Grunde auf der Tradition der Gewohnheit beruhe.

Auch Sextus Empiricus  sagt, dass die menschliche Wertung der Schönheit so widersprüchlich sei, dass all dies jegliche objektive Erkenntnis der Schönheit und Kunst ausschliesse.
 
Der schottische Philosoph David Hume drückt dies wie folgt aus: „Schönheit ist keine Eigenschaft der Dinge selbst. Sie existiert in dem Geist, der sie betrachtet, und jeder Geist nimmt eine andere Schönheit wahr.“

Der Philosophiedozent Andreas Urs Sommer schreibt in seinem Buch „Die Kunst des Zweifelns“ unter dem Abschnitt „Lebenskunst und Schönes“ mit Hinweise auf Wilhelm Schmids „Philosophie der Lebenskunst“ und Michel Foucaults „Philosophie der Lebenskunst:

„Achtet man auf den landläufigen Gebrauch des Ausdrucks ‚schön’, wird man allerdings nicht übersehen, dass es Dinge gibt, denen wir das Prädikat des Schönseins zuschreiben, ohne sie deswegen für bejahenswert zu halten. (-) Ein anderes, für den landläufigen Gebrauch des Ausdrucks ‚schön’ typisches Charakteristikum ist die Distanz, die das Verhältnis des Urteilenden zum Beurteilten bestimmt. Schön ist etwas häufig nur, solange ein schützender Abstand zwischen Beurteiltem und Urteilendem erhalten bleibt.“

Vermutlich hat jeder Mann einmal erfahren, dass eine Frau, die von Abstand bewundert wird, sich bei näherem Kontakt als gar nicht so schön erweist.

Baghwan Shree Rajneesh (1931-1990) der sich die Jahre vor seinem Tod Osho nannte, erklärt das so: Er schreibt über die „innere und äussere Schönheit“: die äussere komme von den Eltern, die dich gezeugt haben, die innere dagegen komme aus deiner „Bewusstheit, die du aus vielen Leben mitbringst.“ Sie müssen nicht unbedingt übereinstimmen. Die äussere Schönheit sei nur oberflächlich, sie könne die innere nicht beeinflussen.

Im Gegenteil, die äussere Schönheit wird zu einem Hindernis auf der Suche nach dem Inneren: du bist zu sehr mit dem Äusseren identifiziert. Wer wird dann nach den inneren Quellen suchen? Meistens ist es so, dass Menschen, die äusserlich sehr schön sind, im Innern sehr hässlich sind. Ihre äussere Schönheit wird zu einem Schleier, hinter dem sie sich verstecken. Millionen von Menschen erfahren dies jeden Tag. Du verliebst dich in eine Frau oder einen Mann, weil du nur das Äussere sehen kannst. Und in ein paar Tagen, beginnst du seinen inneren Zustand zu erkennen; er stimmt nicht mit seiner äusseren Schönheit überein.“

Schönheit ist nicht zuletzt auch zeit- und kulturell gebunden zu sehen. Der schlanke, hoch gewachsene gut proportionierte Frauenkörper mit einem klar gezeichneten Gesichtsausdruck ist heutzutage ein Schönheitsideal. Wenn die Frau – oder das Fotomodell – dazu auch noch dezent geschminkt ist, erscheint die Person als attraktiv und vollkommen. Es gibt vermutlich einen Zusammenhang zwischen dem Lebensstandard, die Möglichkeit der Nahrungsbeschaffung und dem Schönheitsideal. In der Barockzeit galten füllige Frauen als Ideal, denn sie hatten scheinbar unbegrenzten Zugang zu Lebensmitteln, während der der Grossteil der Bevölkerung das nicht hatte und daher eher schlank oder mager aussah.
Heutzutage wird ein fülliger Körper mit ungesunder Lebensweise in Verbindung gebracht, die nicht zu begehrenswerten Körperformen führt. Ähnlich war es mit der Sonnenbräune. Ein Bauer oder Arbeiter wurde in der Sonne braun, jemand der nicht arbeiten musste, blieb weiss, was als erstrebenswert angesehen wurde.

Kommen wir zu den Schönheiten, die die Natur uns gewährt:

Vor einigen Tagen war von unserem Wohnzimmerfenster aus ein wunderschöner Sonnenuntergang zu bewundern. Teile des Himmels waren in feuerrotes Licht getaucht. Nach wenigen Minuten war es wieder verschwunden. Für kurze Zeit habe ich Vollkommenheit geniessen können.

An der Birke vor dem Fenster hat meine Frau Netze mit Meisenknödeln aufgehängt. Alle paar Tage kommt ein Specht „zu Besuch“ und pickt sich Körner heraus, die er dann vom Boden aus fressen kann. Der Buntspecht ist ein wirklich schöner Vogel, noch schöner als der Eichelhäher, der ab und zu vorbeischaut. Sie beide sind auf ihre Weise schön, erscheinen uns attraktiver als die Rotkehlchen und Kohlmeisen.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass viele Menschen keinen Blick für die Schönheiten haben, die die Natur für uns bereithält. Genussfähigkeit ist nicht jedem gegeben.

Es ist möglich, dass es manchmal die Distanz ist, die uns die Dinge schön erscheinen lässt. Auf jeden Fall muss man offen dafür sein. Schönheit erscheint jedem in anderer Form und ist sehr subjektiv. Deshalb ist es manchmal schwer, die Begeisterung dafür bei anderen zu begreifen.

„Faust:
Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Dass ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuss betrügen,
Das sei für mich der letzte Tag!
Die Wette biet' ich!

Mephisto:
Topp!

Faust:
Und Schlag auf Schlag!
Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!“
J.W.v.Goethe (1749-1832)

Die Schönheit sehen und sterben? So weit sollte es doch nicht gehen, das Leben bereitet uns noch viele Genüsse, wenn wir sie sehen wollen!

 

Quellen:
Jose Ortega y Gasset, Betrachtungen über die Liebe, Gesammelte Werke, Bd. IV, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, 1978
Sommer, Andreas Urs, Die Kunst des Zweifelns, Anleitung zum skeptischen Denken, Verlag C.H. Beck, München 2005

Internet:
Die Schönheit der Frauen in der Ukraine
http://landabstracts.net/kontrolnye-raboty/page,6,36007-Antichnaya-estetika.html
http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-herzogin-von-guermantes-i-band-7814/2
http://www.wissen57.de/rebekka-reinhard_streit-ueber-die-schoenheit.html
http://www.lebenskunstphilosophie.de/Hauptframe/Text%2025%20-%20Ethik%20der%20Ernaehrung/Ethik_der_Ernaehrung.htm
http://www.leben-sterben.de/meditation/innere_aeussere_schoenheit.htm

 


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