Textatelier
BLOG vom: 28.12.2015

Vom Beugen der Knie und dem Flektieren der Adjektive

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


In einem Grammatikübungsbuch für Deutschlernende finde ich folgende Übung:

Bericht:
„Ich kannte den dick__ Mann gut,
jenen klein__ Mann mit gross__, rund__ Hut.
Irgendwie erwartete ich froh__ Mutes nur Gutes
Von ihm, diesem klein__ Mann,
wegen des gross__, lustig__ Hut__.“
„Ich kannte auch die schön__ Frau
ganz genau.
Sie trug immer ein blau__
Kleid mit den breit__ Streifen.
Das konnte ich gar nicht begreifen
Bei jener schön__ Frau.
Es machte sie dick.
So hat jeder seinen Tick.!

Märchen:
„Es waren einmal ein bös__ Mann und eine garstig__ Frau. Sie lebten zusammen in einem tief__, dunkl__ Wald in völlig__ Einsamkeit. Ihre hässlich__ Kinder hatten zu gemeinsam__ Spiel einen bissig___, gross__ Hund. Die Mutter trug immer eine fauchend__ Katze auf ihrer breit__ Schulter, die ein rot__ und ein grün__ Auge hatte. Sie assen niemals grün__ Blätter, denn frisch__ Salat ist zu gesund, dafür schoben sie sich fett_ Salami in den breit__ Mund. Was sie nicht mochten: Warm__ Bier mit kalt__ Weisswurst, denn davon bekamen sie kaum löschbar__ Durst.“

Frage ich nach der Qualität der Dinge, suche ich nach den Eigenschaften:
 
Wir können das lateinische Wort ‚qualitas’ am häufigsten durch Eigenschaft oder Beschaffenheit übersetzen, gelegentlich auch durch Art oder durch das gelehrtere Modus. Die Entstehung des griechischen Modellworts erklären wir uns am besten, wenn wir an die Methode denken, die unseren Kindern die Kenntnis der Redeteile beibringt; man fragt nach den Kasus des Substantivs mit den hergebrachten Fragen wer oder was, wessen, usw.; so fragt man auch nach dem Eigenschaftswort durch das hergebrachte ’Wie beschaffen (qualis)’; und da die Antwort ganz allgemein ‘So beschaffen, solcher (talis)’ heissen muss, so hätte die Kategorie (da doch die Logik Antworten ordnen will und nicht Fragen) auf Lateinisch pedantischer Weise talitas  (‘das So-Sein’) heissen müssen.” (Fritz Mauthner)
 
“Adjektive sind also Merkmalswörter. Das Charakteristische der Wortart Adjektiv ist es, im Satz als spezielles Satzglied, nämlich als Attribut fungieren zu können. (.) Attribute sind ausschliesslich die Wörter, die einen bestimmten Zustand ausdrückende Beifügung zum Substantiv bzw. zum Adjektiv darstellen. (.) Nicht aber die Form ist entscheidend, sondern die Funktion des Adjektives als Attribut.” (M.T. Rolland)
 
Folgen wir den oben genannten Definitionen, haben wir es mit Adjektiven (Eigenschaftswörtern) und mit Adverbien (Umstandswörtern) zu tun, also Attributen (Beifügungen), die innerhalb des Satzes zugefügt werden. Man kann Adjektive adverbial verwenden, manchmal auch Adjektivadverb genannt, die aber streng genommen keine Adverbien sind.
 
Als ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Adjektiven und Adverbien ist festzuhalten, dass Adjektive flektiert und gesteigert, attributive Adverbien zwar in manchen Fällen gesteigert, aber nicht flektiert werden können. Um noch einmal auf die ersten (philosophisch definierten) Begriffe “qualis” und “talitas” zurück zu kommen: Wir fragen nach dem “Wie”, dem “So-Sein” der Dinge.
 
Bei Adverbien (Modalwörtern) können wir zwischen solchen unterscheiden, die den Ort, die Zeit, die Art und Weise oder den Grund angeben und dabei keine grammatischen Ergänzungen benötigen, wie etwa die Präpositionen.
 
Wenn das Adjektiv hinter dem Substantiv oder Pronomen steht, auf das es sich bezieht, wird es nicht dekliniert, es sei denn, es folgt auf einen Artikel.
 
Ich möchte mich heute mit den Adjektiven beschäftigen, die vor dem Nomen (Substantiv) stehen, also vorangestellte Attribute sind. Auch die Formen der Partizipien (Mittelwörter) der Verben können wie Adjektive gebraucht werden.

Sie alle stellen eine besondere Hürde beim Erlernen der deutschen Sprache dar.
 
Schon Mark Twain bemerkt:

“Wenn dem Deutschen ein Adjektiv in die Finger fällt, dekliniert und dekliniert und dekliniert er es, bis aller gesunde Menschenverstand herausdekliniert ist. (.) Ich habe einen Studenten aus Kalifornien in Heidelberg in einem seiner ruhigsten Augenblicke einmal sagen hören, lieber beuge er hundertmal beide Knie als auch nur ein einziges Adjektiv, und es handelte sich nicht etwa um einen Turner.”
 
Bereits in diesem Zitat bekommen wir es mit verschiedenen Deklinationstypen zu tun: “bis aller gesunde Menschenverstand”, “in einem seiner ruhigsten Augenblicke”, “ein einziges Adjektiv”.
 
Man kann Adjektive nicht ignorieren, umfassen sie doch etwa ein Sechstel des Wortschatzes der deutschen Sprache. Das hat auch Mark Twain erkannt, wenn er schreibt, in dieser Sprache gebe es “mehr Adjektive als schwarze Katzen in der Schweiz”.

Um richtig zu deklinieren, benötigen wir Informationen über das Genus (maskulin, feminin, neutrum), den Numerus (singular und plural) und den Kasus des Nomens (Substantivs).
 
Ich beginne mit der “schwachen” Adjektivdeklination, sie verwendet nur 2 Endungen, -e und -en. Vor dem Adjektiv stehen der bestimmte Artikel (der, die, das) oder bestimmte Pronomen (dieser, jener, jeder, solcher, derselbe, mancher):
 
Nominativ: der teure Hut, Dativ: dem teuren Hut, Akkusativ: den teuren Hut und Genitiv: des teuren Hut(es) // die rote Nase, der roten Nase, die rote Nase und der roten Nase // das arme Kind, dem armen Kind(e), das arme Kind, des armen Kindes. Im Plural folgt immer die Adjektiv-Endung -en: die/den/der armen Kindern und die/den/der teuren Autos.
 
Das hört sich für Deutsche einfach an! Aber: was müssen Lerner des Deutschen alles (vorher) bedenken:
 
- das Genus: Nehmen Sie einmal als Beispiel Ihren Kopf:
das Haar, die Stirn, die Wimper, das Augenlid, das Auge, die Pupille, der Backenknochen, die Wange, die Nase, das Nasenloch, die Lippe, der Zahn, das Ohr, das Kinn, der Hals!
 
- den Kasus, etwa in Verbindung mit Präpositionen:
Da muss gefragt werden, ob es Präpositionen sind, die immer den Dativ oder den Akkusativ verlangen oder Wechselpräpositionen, bei denen man aufpassen muss, ob eine Bewegung intendiert ist - oder nicht:
Der kranke Junge: Ich schicke das hustende Kind mit dem schmerzenden Ohr ins Bett, bereite ihm gegen die heisse Stirn das kühlende Tuch und lege den entzündeten Hals nicht unter den wärmenden Schal, gebe ihm den heissen Tee zu trinken und küsse es auf die roten Wangen.
 
Bei der “gemischten Adjektivdeklination” nach dem unbestimmten Artikel (ein, eine) und negativ (kein, keine) ändern sich die Endungen:
 
Ein kranker Junge: Ich schicke ein hustendes Kind mit einem schmerzenden Ohr ins Bett, bereite ihm ein kühlendes Tuch gegen eine heisse Stirn und lege auf einen entzündeten Hals keinen wärmenden Schal, gebe ihm einen heissen Tee zu trinken und küsse es auf  rote Wangen eines fiebrigen Gesichts.

Da bekommt das Adjektiv beim Nominativ im Maskulinum plötzlich ein “r“, und im Neutrum der Nominativ und beim Akkusativ ein “s” angehängt, an das zu denken ist. Nur den Plural kann man vergessen!
 
Steht das Adjektiv allein vor dem Nomen, bei Kurzformen im Singular wie manch, solch, welch; und im Plural nach einige, etliche, manche, viele, wenige, u.a., finden wir den letzten Buchstaben des entsprechenden Artikels am Adjektiv angehängt. Eine Ausnahme bildet nur der Genitiv Plural bei Maskulinum und Neutrum:
 
Kranker Junge: Ich schicke hustendes Kind mit schmerzendem Ohr ins Bett, bereite ihm für heisse Stirn kühlendes Tuch und lege nicht auf entzündetem Hals wärmenden Schal, gebe ihm manch heissen Tee und küsse fiebriges Gesicht auf roter Wange. Ich wünsche hustendem, leidendem, krankem Kind alles Gute!
Das zum so genannten Telegrammstil!

Da bleibt nicht viel übrig, als zu lernen, oftmals einfach dadurch, dass die Lernenden dank aufgeschlossener, liebenswürdiger Mitbürger, die ihre Fehler korrigieren und die Regeln erklären, der Sprache näher kommen. Jedenfalls ist zu hoffen, dass man dabei nicht durchdreht!

Mark Twain:
„Nun darf der Kandidat fürs Irrenhaus versuchen, diese Variationen auswendig zu lernen – man wird ihn im Nu wählen. Vielleicht ist es leichter, in Deutschland ohne Freunde auszukommen, als sich die Mühe mit ihnen zu machen. Ich habe gezeigt, wie lästig es ist, einen guten (männlichen) Freund zu deklinieren; das ist aber erst ein Drittel der Arbeit, denn man muss eine Vielzahl neuer Verdrehungen des Adjektivs dazulernen, wenn der Gegenstand der Bemühungen weiblich ist, und noch weitere, wenn er sächlich ist.“

Manches zu erläutern, fällt auch einem Muttersprachler nicht ganz leicht!
Welches Fahrzeug ist älter?
„- ein neues gekauftes Auto“ oder „- ein neu gekauftes Auto“?
Das ist nicht einfach zu beantworten, die 2. Aussage sagt nichts darüber aus, ob es ein gebrauchtes oder ein neues Auto ist, nur dass es neu, also gerade gekauft worden ist.

Kopfschmerzen bereiten Deutschlernenden auch Formen, in denen bei der Adjektivdeklination ein „e“ wegfällt, sei es in der geschriebenen oder in der gesprochenen Sprache, denn das Wissen darüber, dass das „e“ unbetont ist, wenn etwa ein „l“ oder „r“ folgt, fehlt oft:

- eine dunkle Nacht, ein edler Tropfen, ein eitler Pfau, eine heikle Angelegenheit, ein nobles Angebot, ein übler Kerl;
- saurer Regen, teure Zigaretten, ungeheure Anschuldigungen;
bei Adjektiven auf –ebel und –ibel:
- eine blamable Geschichte, eine miserable Vorstellung, ein flexibler Mensch,

Mark Twain würde sich freuen, und er könnte denken, seine Kritik hätte Früchte getragen, wenn er hören würde, seine Eingebungen zur Vereinfachung der Sprache seien „prima Vorschläge“ gewesen, einfach „super Ideen“, denn die hier benutzten Adjektive werden nicht flektiert. Allerdings sind diese Adjektive durch Konversion aus Substantiven entstanden und umfassen nur eine kleine Gruppe, sind also eine Ausnahme. Die Diskussion darüber, ob sie wirklich zu dieser Klassifikation gehören, scheint noch im Gange zu sein.

Mark Twain, der angeblich ein gutes Deutsch sprach, hat wohl einen grossen Aufwand getrieben, um es zu lernen und erkannt, dass sich, wie ihm schien, der Erfinder dieser Sprache einen Spass daraus gemacht habe, sie auf jede Art, die ihm nur in den Sinn gekommen sei, verkompliziert zu haben.

Es bleibt mir nichts anderes übrig, ihm zuzustimmen, denn das war nur ein kleiner Teil dessen, was man nur über das Adjektiv lernen kann und wissen sollte, geschweige denn von allen anderen grammatischen Feinheiten der deutschen Sprache.

Ich hoffe, neben wichtigem Alten wurde auch interessantes Neues angesprochen!

 

Quellen:

Rolland, Maria Theresia, Sprache in Theorie und Praxis, gesammelte Aufsätze von 1995-1997, Königshausen Verlag, Würzburg, 1999

Mauthner, Fritz, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Dritter Band: Zur Grammatik und Logik, Ullstein Verlag, Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1982

Twain, Mark, Zu Fuss durch Europa, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1967, 3. Auflage, S. 456ff.

Genzmer, Herbert, Sprache in Bewegung – Eine deutsche Grammatik, Suhrkamp, Frankfurt, 1998, S. 218ff.

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst