Textatelier
BLOG vom: 21.03.2005

Das kleine Mädchen und der Tanz der Feuerwanzen

Autor: Walter Hess

Vor unserem Haus in Biberstein AG ist 1977/78 eine hohe Betonmauer gebaut worden, weil sich die neue Unternbergstrasse in elegantem Schwung tief in den Jurasüdfuss eingefressen hatte und der Hang aus Lehm und Kalk gestützt werden musste. Das inzwischen mit Efeu, wilden Reben usw. grösstenteils überwachsene Bauwerk geht unten in den Asphalt über, der vorerst als Trottoir und nach einem Randstein als Fahrbahn dient. Einige Halbschalen, welche das aargauische Baudepartement freundlicherweise einbauen liess, versehen ihren Dienst am Mauerfuss als Pflanzentröge und schützen die Reben vor den eisernen Besen der Reinigungsfahrzeuge.

Weil Beton und Asphalt verschiedene Ausdehnungskoeffizienten haben, bildete sich der Mauer entlang ein Riss und damit ein neuer Lebensraum, der Insekten auch als Schlupfwinkel für die Überwinterung dient. Vor einigen Tagen tauchten die Feuerwanzen (Pyrrhocoris apterus, in der einheimische Mundart: Bluetströpfli, Bluttröpfchen genannt) in hellen Scharen auf, kaum war der letzte Schneerest geschmolzen. Sie haben die Kälte und das Streusalz überlebt. Durch das Aussaugen toter Insekten kommen sie zur richtigen Nahrung.

Schon in „Brehms Tierleben“ ist nachzulesen, dass Feuerwanzen mit einer Mauer „fürlieb“ nehmen, wenn gerade keine alte Linde vorhanden ist, unter der sie sich sonst besonders wohlfühlen würden. Im speziellen Fall meiner Hausumgebung steht eine jüngere Winterlinde im oberen Teil der Mauer. Sie hatte diesen Aussichtspunkt selber ausgewählt.

Die feuerroten Wanzen mit ihren schwarzen geometrischen Mustern, die manchmal an Miniaturmasken aus dem afrikanischen Kontinent erinnern, haben auf den von Brehm vorgegebenen Paarungsfahrplan zurzeit rund einen Monat Vorsprung. Sie geniessen den Frühling bereits seit Mitte März in vollen Zügen, bleiben bis zu 36 Stunden vereinigt und bewegen sich als Doppel- oder Multipakete, wenn ihnen die Konzentration auf das Liebesleben als etwas zu monoton erscheint. Sie haben Zeit, die es kreativ zu nutzen gilt. Jedenfalls ist ein munteres Krabbeln und Paaren zu beobachten, ein Zeichen für das Leben, das mit jedem Frühling mit ungestümer Wucht erwacht.

Als ich dieser Tage am Mauerfuss vorbeiging, beobachtete ich 2 Kinder mit Schultornister, die soeben aus dem Kindergarten kamen und den Heimweg angetreten hatten. Sie verharrten in Kauerstellung und waren von den Tierchen vollkommen in den Bann gezogen. „Was sind das für Tiere?“ fragte ich, um ein Gespräch zu beginnen. „Feuerwanzen“, sagte das etwa 5-jährige Mädchen spontan. Ich war perplex; soviel Naturkenntnisse hätte ich nicht erwartet.

Dabei fand ich bestätigt, dass Kinder an Naturerscheinungen lebhaft interessiert sind, wenn sie dazu Zugang haben. Diese Natur ist eine Riesenwelt, voller Geheimnisse und Faszinationen. Ein ähnliches Erlebnis, was die Interessiertheit anbelangt, hatte ich, als ich kürzlich einen Kinderkochkurs besuchte und erlebte, wie Kinder mit Leib und Seele bei der Sache waren und Wissen über Lebensmittel ebenso aufsogen wie die Fruchtsäfte, die sie selber gerade gepresst hatten. Kinder sind wie Schwämme, die alle Eindrücke aufnehmen. Auch die unerwünschten.

Den Eltern kommt in den ersten Lebensjahren ihres Kindes eine fundamentale Bedeutung zu. Sie müssen den Kindern eine anregende Umgebung schaffen − keine virtuelle im Hollywood-Stil. Man kann nicht Elternhäuser abbauen, zerfallen lassen und denken, die Schule werde es dann schon richten. Ein im Bildungswesen tätiger Fachmann sagte mir kürzlich, wenn die Kinder in 1. die Klasse kämen, sei ihr Gehirn bereits defekt, kaputt. Und dann könne man nur noch zu reparieren versuchen.

Die Kinder trifft keinerlei Schuld. Eltern müssten ihre Rolle spielen, ihre Verantwortung wahrnehmen und nicht auf Selbstverwirklichung bedacht sein, wenn sie Kinder haben wollen und haben. Sie müssen sich Zeit nehmen und ihre Sprösslinge zu den wahren Werten hinführen. Das wäre auch für sie ein erbauendes Unterfangen. Es gibt sie offenbar noch, solche Eltern.

Sonst hätte das kleine Mädchen die Feuerwanzen nicht mit dem Namen benennen können. Ich habe mich über beides gefreut: über das Kind und das Leben im Asphaltriss.

Der Frühling ist auch kalendarisch gerade angekommen. Ein fälliger Vorsatz: Ich werde mich wieder vermehrt den kleinen schönen Dingen zuwenden. Über den Frühling hinaus. Es gibt sie schliesslich ganzjährig.

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