Textatelier
BLOG vom: 21.02.2016

Bewusstseinsfelder, Verhaltenskonstante und Milieu

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Im heutigen Text gehe ich von der Zusammenfassung einer Schrift von Heinrich Schwarz mit dem Titel „Das psychische raumzeitliche Kontinuum – Ein feldtheoretischer Ansatz zur Darstellung des menschlichen Bewusstseins“ aus dem Jahr 2000 aus, in der er schreibt:

„Einfache Überlegungen führten in der vorliegenden Arbeit zu neuen Erkenntnissen über Bildung und Inhalt von Vorstellungen und deren Beitrag zu psychischen Vorstellungsfeldern. (–) Vorstellungs- oder wie wir nun auch sagen können Bewusstseinsfelder umfassen sowohl das Denken als auch das emotionale Geschehen und unterliegen einer physiologischen Regelung. In der Ereignisfolge fliesst unser Denken und Handeln aus der psychischen Gravitation, die in den Bewusstseinsfeldern wirkt. Sie sorgt auch dafür, dass unser Denken und Fühlen in der Ereignisfolge nicht zersplittert wird. - Hier kommt es auf möglichst ‚tragende’ Bewusstseinsfelder an, wie sie u.a. aus dem kulturellen, sozialen und familiären Umfeld mit entstehen.“ (S.119)

Schwarz benutzt den Begriff „Gravitation“, um darzustellen, dass es eine Kausalität von Raum und Zeit auch im Bewusstsein geben muss. Bewusstseinsfelder entstehen von der Geburt an (möglicherweise auch bereits im Mutterleib) in zeitlicher Dimension und nach den von Kurt Lewin erkannten Veränderungen, die durch Lernen verursacht werden:

  1. Lernen als eine Veränderung der Erkenntnisstruktur (Wissen)
  2. Lernen als eine Veränderung der Motivation (annehmen und ablehnen lernen)
  3. Lernen als eine Veränderung der Gruppenzugehörigkeit und Ideologie (das ist ein wichtiger Aspekt des Hineinwachsens in eine Kultur)
  4. Lernen in der Bedeutung der Willkürbeherrschung der Körpermuskulatur (das ist einer der Hauptaspekte des Erwerbs von Fähigkeiten, wie des Sprechens und der Selbstbeherrschung).

Damit wird deutlich, dass innerhalb der Lebenszeit des Individuums in den „inneren Räumen“ (Schwarz, S. 31ff.) sich das Bewusstsein und damit das äussere Verhalten ändert.

Im allgemeinen Laienverständnis hat Gravitation etwas mit Anziehungskraft zu tun, schliesslich fällt der Apfel immer zu Boden, und sich ohne technische Hilfsmittel von der Anziehungskraft der Erde zu lösen, ist für den Menschen ein ungeheurer Kraftakt. Einstein hat erkannt, dass sich Gravitation in Wellen ausbreitet. Gerade ist es Wissenschaftlern gelungen, diese Gravitationswellen zu messen.

Schwarz meint mit der “psychischen Gravitation“, zuerst einmal das Festhalten an „inneren Räumen“, die zu bestimmtem Verhalten führen, aber auch, dass sich durch Lernprozesse das Festhalten an bestimmte Verhaltensweisen löst und es zu Veränderungen kommt, und ausserdem, je weiter das Lebensalter des Individuums fortgeschritten ist, desto mehr kommt es zu den genannten „tragenden Bewusstseinsfeldern“, also zu einer Anziehungskraft für bestimmte Verhaltensweisen.

Anders erklärt, ein Baby schreit, wenn es z.B. Hunger oder Schmerzen hat.
Dieses Schreien behält es so lange bei, bis es durch einen Lernprozess, wie der Fähigkeit, bestimmte sprachliche Äusserungen zu diesem Sachverhalt von sich zu geben, sich verändert. Andererseits haben Individuen aufgrund ihrer Entwicklung und Erfahrungen im fortgeschrittenen Alter bestimmte Verhaltensweisen, an die sie lange festhalten und die sie nur schwer oder selten ändern.

Diese Verhaltensweisen sind besonders wichtig für die Anbieter von Konsummitteln aller Art. Wenn Anbieter von Dienstleistungen, Medien aller Art und Waren wissen, von welchen „tragenden Bewusstseinsfeldern“ das Verhalten ihrer Konsumenten „gesteuert“ sind, können sie ihr Angebot, ihre Werbung und ihre Produktion darauf einrichten.

Das Marktforschungsinstitut Sinus geht von Milieus aus:

„(Sie) liefern ein wirklichkeitsgetreues Bild der soziokulturellen Vielfalt in Gesellschaften, in dem sie die Befindlichkeiten und Orientierungen der Menschen, ihre Werte, Lebensziele, Lebensstile und Einstellungen sowie ihren sozialen Hintergrund genau beschreiben. Mit den Sinus-Milieus  kann man die Lebenswelten der Menschen somit „von innen heraus“ verstehen, gleichsam in sie „eintauchen“. Mit den Sinus-Milieus  versteht man, was die Menschen bewegt und wie sie bewegt werden können. Denn die Sinus-Milieus  nehmen die Menschen ganzheitlich wahr, im Bezugssystem all dessen, was für ihr Leben Bedeutung hat.“ (Der Begriff „Sinus-Milieus“ ist rechtlich geschützt!)

Das sind nichts anderes als die Grundlagen zu den „Bewusstseinsfeldern“, wie Schwarz sie nennt:

Wie stufen Sie sich selbst ein? Welcher Zielgruppe gehören Sie an?

1. Zuerst sollten Sie sich nach ihrem Einkommen einstufen:
Dabei geht man von der Unterschicht, der unteren, mittleren und oberen Mittelschicht und von der Oberschicht aus, wobei die Grenzen fliessend sind.

2. Welche Grundhaltung haben Sie:
Sind Sie in der Tradition (mit den Kriterien „Festhalten und Bewahren“) verwurzelt?
Sehen Sie sich eher modern, streben also nach Selbstverwirklichung und Individualisierung (mit den Kriterien „Haben und Genießen, Sein und Veränderung“)?
Oder sagt Ihnen das gar nichts und Sie wollen sich neu orientieren (mit den Kriterien „Machen und Erleben, Grenzen überwinden“).
Die Grenzen der Grundhaltung lassen sich auch nicht genau fixieren.

3. In diesem Spannungsfeld zwischen Einkommen und Grundhaltung,
wie würden Sie sich einordnen:
Traditionell, konservativ, dem Prekariat oder der Bürgerlichen Mitte zugehörig, sozial-ökologisch ausgerichtet, liberal-interlektuell eingestellt, sind Sie Hedonist oder adaptiv pragmatisch oder zählen Sie sich zu den Performern (leistungsorientiert) und Expeditiven, die vor allem neue Möglichkeiten erkunden?

So genau abgestuft lässt sich das nicht sagen, werden Sie einwenden. Natürlich gibt es viele Überschneidungen.

Die Einteilung nach dem Sinus Milieu-Modell sieht so aus:

Sinus-Milieus ® in der Bundesrepublik Deutschland 2016

Soziale Lage/
Grundorientierung

Tradition

Modernisierung/
Individualisierung

Neuorientierung

Sozial gehobene Milieus (30 %)

Konservativ-etabliertes Milieu (10 %)

Liberal-intellektuelles Milieu (7 %)

Milieu der Performer (8 %)/Expeditives Milieu (8%)

Milieus der Mitte (30 %)

Bürgerliche Mitte (13 %)

Adaptiv-pragmatisches Milieu (10 %)

Sozialökologisches Milieu (7 %)

Milieus der unteren Mitte/Unterschicht (40 %)

Traditionelles Milieu (13 %)

Prekäres Milieu (9 %)

Hedonistisches Milieu (15 %)

(Die Zahlen sind teilweise einer Grafik des Sinus-Institutes für 2016 entnommen, die Darstellung selbst ist aus Wikipedia.)

Das Verhalten der Personen in den 3 Milieus ist unterschiedlich.

So beschreibt eine Lehrerin und Autorin, Heidemarie Brosche, in der Süddeutschen Zeitung das so genannte Prekariat:

„Aber dann wird mir wieder bewusst: Die Welt der Menschen mit wenig Bildung ist komplett anders als die der Bildungsbürger. Viele der Geschmähten haben einen anderen Verhaltenskodex. Sie treten Kaugummi schmatzend zur Sprechstunde an, telefonieren während der Schultheater-Aufführung, stellen im Kontakt mit dem Lehrer naiv zu viel Nähe her oder treten ihm vor lauter Unsicherheit gleich bei der ersten Begegnung mit anmassendem Kraftgebaren entgegen. Sie vernachlässigen ihren Körper, ernähren sich falsch, bewegen sich zu wenig oder betreiben einen absurd anmutenden Körperkult mit Sonnenstudio-Exzessen, der Züchtung von Muskelbergen oder Nail-Design-Events. Ihre Kinder erziehen sie zwischen grenzenlosem Gewähren-Lassen und Vernachlässigung.“

„Gebildete“ charakterisiert sie so:
„Sie haben Kultur, sie haben gute Berufe, sie haben Geld. Sie haben - auch am Vorbild anderer Menschen - gelernt, wie man sich in unterschiedlichen Situationen benimmt. Sie lesen in Büchern, Zeitschriften und im Internet. Sie tauchen in andere Welten ein, lernen Perspektivenwechsel, üben sich in Toleranz. Sie sind das Denken gewöhnt. Sie können ihr eigenes Verhalten reflektieren und korrigieren.“

Es sind völlig verschiedene Bewusstseinsfelder, die sich hier bei den Menschen gebildet haben. Sie kommen aber auch aus stark unterschiedlichen kulturellen, sozialen und familiären Umfeldern.

Karl Marx: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern 
umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“!

An diesen Milieu-Zuordnungen sind nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die politischen Gruppierungen, die Kirchen und viele Verbände interessiert. Alle erarbeiten damit Konzepte, wie sie möglichst nahe „am Milieu“ Produkte entwickeln und in jeder Hinsicht Einfluss nehmen, bzw. Entwicklungen verfolgen können.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Website http://www.kath.de/lexika/sinusmilieus-pastoral/

Den „gläsernen“ Menschen gibt es damit bereits. Deshalb ist es sinnvoll,  diese Zuordnungen zu studieren und sich selbst zu fragen, ob sie auch auf die eigene Person zutreffen. Man könnte sich überlegen, den Zielsetzungen, die die oben genannten Gruppen daraus folgern, ein Schnippchen zu schlagen und eben nicht so zu reagieren, wie von ihnen prognostiziert.

 

Quellen:
Schwarz, Heinrich, Das psychische raumzeitliche Kontinuum, Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden, 2000
Lewin, Kurt, Feldtheorie in den Sozialwirtschaften, Hrsg. von Dorwin Cartwrigt, Hans Huber Verlag, Berlin und Stuttgart 1963
https://de.wikipedia.org/wiki/Soziales_Milieu
https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Klasse
http://www.sinus-institut.de/
Schantall in der Schule
http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm

 


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