Textatelier
BLOG vom: 14.03.2016

Ernst Kreuder, ein vergessener Dichter

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

„Schreiben? Es konnte nur noch ein Ahnen sein. Ahnend würde alles beginnen. Ein Ahnen, das aus der wirrsäligen Zeit in unsichtbare, ruhende Ordnungen führte, Willkür und Selbst überwand, und zum Mahnen wurde:
Halt ein. Leb nicht im Wähnen fort.
Wahn bindet dich mit Stund und Ort.“

Bei der Durchsicht meiner Sammlung von Reclam-Heften mit seiner „Universal-Bibliothek“ stiess ich auf ein Erzählbändchen von Ernst Kreuder (29. August 1903 – 24. Dezember 1972). Liest ihn heute noch jemand?

International bekannt wurde er nur mit einer Erzählung: „Die Gesellschaft vom Dachboden“. Der Inhalt ist schnell erzählt: Eine Gruppe von – heute würden wir sagen – „nicht angepassten Aussenseitern“ trifft sich auf dem Speicher eines Warenhauses, unternimmt einigen Unsinn, sucht nach einem geheimnisvollen Schatz im Gerümpel und fährt schliesslich auf einem alten Dampfer davon. Es ist im Grunde ein Aufruf dazu, aus dem gewohnten bürgerlichen Leben auszubrechen, das nur eine Scheinwelt sei, denn Wirklichkeit sei nur durch einen Blick nach innen zu finden, im Reich der Träume, Ahnungen, Verzauberungen.

Kreuder hat diese Erzählung 1946 veröffentlicht und vermutlich schon einige Jahre vorher geschrieben. Den Jahren der Nazi-Diktatur und des Krieges konnte man nur durch eine Flucht nach innen entfliehen: „Was uns jüngeren Schriftstellern damals auf den Nägeln brannte, konnten wir im Lande der Konzentrationslager nicht mehr veröffentlichen.“

In seiner Skizze „Abend am Seeufer“ beklagt er, dass niemand die wirklichen Geschichten erzähle: „ohne Hier und Jetzt, ohne Gestern und Morgen, ohne Ende wie der Himmel, nirgendwo wie der Wind und überall wie das Licht.“ -
„Das war es, dachte er, und fügte hinzu: sie kann sich nur selbst erzählen, diese Welt. ‚Gehören wir denn noch dazu?’ fragte sie auf der dunklen Bank. – ‚Wir tun nichts anderes’, sagte er. ‚wenn wir zusammen sind. Nichts anderes, als das von uns erzählen, was von der Welt heranweht in uns und mit uns vergeht.’“

Und so zitiere ich aus diesem Bändchen und von diesen Erzählungen nur ein paar
Schlusssätze, die Interesse wecken sollen, sich mit diesem vergessenen Schriftsteller (wieder) einmal zu beschäftigen:

Er sass am Schreibtisch, worauf wartete er? Er war eine Flasche Bier trinken gegangen. Die Frage schien ihm verkehrt gestellt. Es schien die Zeit, die unermüdlich wartete. Man kannte diese Empfindung, das unentrinnbare Warten der Zeit, als suchte sie nach einer Zuflucht in uns, um uns mit ihrer Heimsuchung zu erschöpfen.“

Merken Sie etwas? Kreuder dreht unsere Wahrnehmung um. Nicht wir sind in der Welt, die Welt ist in uns; nicht wir warten, die Zeit wartet. Ist das nicht alles zum Lachen? So wie in der Geschichte: „Der Mann, der nicht mehr lachen konnte“:

„’Lachen?’ fragte der Psychiater gereizt.’ – ‚Das gehörte zu einer komischen Nummer auf der Bühne’, sagte Alberto. ‚Er konnte unglaublich lachen, haben mir andere auch schon erzählt. Dann brüllte er und wälzte sich das Publikum und trampelte wie besessen. Aber als er nicht mehr lachen konnte, blieb das Publikum eisig. Aus. Er konnte nicht mehr auftreten. Die Agenturen wiesen ihn ab.’ ‚Tut mir natürlich ausserordentlich leid’, sagte der Psychiater. – ‚Machen Sie sich nichts draus, Doktor’, sagte Alberto. ‚Er kann jetzt wieder lachen. Er lachte schon, als sie ihn verhafteten. Aber auf dem Revier schienen sie ziemlich ratlos. Es sieht so aus, also könnte der Mann nicht mehr aufhören zu lachen.’“

In der Erzählung „Phantom der Angst“ wird ein Schlüsselerlebnis zu einer unerfüllten Sehnsucht. Ein Mann rettet einer jungen Frau, die es gerade nicht mehr schafft, auf einen abfahrenden Zug aufzuspringen, das Leben, in dem er sie auffängt. Dieser Zug verunglückt auf seiner Strecke, mit vielen Toten. Sie verschwindet, er kann sie nicht vergessen und sucht sie. Auch das Hotel, in dem er sie schliesslich findet, brennt ab, als er sie zum ersten Mal küsst. In dem Trubel, der dabei entsteht, verliert er sie wieder. Erneut versucht er, sie zu finden, obwohl ihn die Angst lähmt, denn in ihrer Nähe „spinnt der Tod sein Netz“.
Nun sucht sie ihn. Eines Tages steht sie vor seiner Wohnungstür, die er aber nicht öffnen kann, weil sie klemmt. Sie geht wieder. Ein Hausbewohner ist behilflich. Es stellt sich am Ende heraus, dass dieser Hausbewohner mit der jungen Frau zusammenlebt und sie schliesslich auch heiratet.

’Ich habe den Eindruck’, sagte ich, ’dass Sie sich wohl befinden.’ – ‚Ja’, sagte er. ‚es ist nichts mehr passiert, seit sie meine Frau geworden ist. Es hat uns Glück gebracht.’ – ‚Damit ist die Geschichte wohl zu Ende’, sagte ich. ‚Hoffentlich’, sagte er und leerte sein Glas.“

Auch hier wieder: Die Welt findet in uns statt, unsere Wahrnehmung und die dadurch erzeugten Gefühlsregungen bestimmen uns.

Aber dann fiel mir ein, dass man, wenn man ganz genau war, nie wusste, warum man das oder jenes tat.“

Die Welt, die Zeit, das Leben – unmöglich zu wissen, was uns bewegte! Aber darüber nachzudenken ist es schon wert!

Quelle:
Kreuder, Ernst, Phantom der Angst – Erzählungen. Nachwort von Heinz Puknus, Philipp Reclam, Universal-Bibliothek Nr. 8428, Stuttgart 1987

 


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