Textatelier
BLOG vom: 23.03.2016

Flechten in Natur und Umweltschutz − Flechtenbiotope

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D

 

(Interview mit Prof. Dr. Volkmar Wirth)

 


Xanthoria elegans (Foto Heinz Scholz)
 

Der Natur- und Umweltschutz kümmert sich besonders um die auffallenden und gut bekannten Organismen, also um Säugetiere, Reptilien, Schmetterlinge und Blütenpflanzen (z. B. Orchideen). „Ihr Verschwinden fällt vielen auf, und die sichtliche Verarmung ruft verantwortungsvolle Ökologen wie Naturliebhaber auf den Plan“, bemerkt Prof. Dr. Volkmar Wirth in seiner Broschüre  „Indikator Flechte“.  Oft fehlt bei den Flechten der Naturschutz. In Mitteleuropa gibt es mehr als 2000 Flechtenarten, die unsere Umwelt bereichern. Sie sind bedeutende Bestandteile von Ökosystemen. Wie Volkmar Wirth weiter betont, sind viele Arten stark zurückgegangen und gefährdet. Die Gründe sind vielfältig. Besonders eklatant sind die Veränderungen und Vernichtung ihrer Habitate.  Die Versiegelung der Landschaft, den „Horror der Landvernichtung“, wie es Gerber ausdrückt, ist eine Tragödie. „In den letzten 3 bis 4 Jahrzehnten wurde im deutschen Südwesten binnen einer Generation für Bau- und Verkehrszwecke mehr Fläche beansprucht, als von allen früher lebenden Generationen zusammen genommen.“ (zit. H. Gerber, 2002).
Auch Luftverschmutzungen und der Klimawandel spielen wichtige Rollen.

Zur Problematik  der Flechten im Natur- und Umweltschutz und Massnahmen zur Erhaltung gefährdeter Flechtenbiotope stellte ich Prof. Dr. Volkmar Wirth, einer der profiliertesten Flechtenexperten, einige Fragen.

Frage 1: Durch die Unauffälligkeit und Kleinheit werden Flechten oft übersehen. Das Wissen über diese Organismen ist bei Nichtfachleuten unzureichend. Was kann man tun, um Wissen zu vermitteln und den Naturschutz für Flechten zu verbessern?

Antwort: Nützlich ist es, sich einmal vor Augen zu führen, wo wir in der Vermittlung des Wissens über Flechten stehen und was bereits für Flechten im Natur- und Umweltschutz getan wird. Die Situation ist nicht entmutigend. Vor rund 50 Jahren spielten Flechten im Natur und Umweltschutz noch gar keine Rolle. Das Kennenlernen dieser Organismen galt als sehr schwierig, und in der Tat, es war schwierig. Für mich war es mitunter eine Aufgabe von Jahren, den Namen selbst für die eine oder andere verbreitete Gesteinsflechte zu finden. Es gab keine gut bebilderten populären oder populärwissenschaftlichen Bücher. Das hat sich sehr geändert. Es gibt heute rund ein Dutzend solcher Bücher, die den Einstieg ermöglichen. Gleichzeitig ist das Interesse seitens des Natur- und Umweltschutzes gewachsen. Eine Rolle für die Akzeptanz im Umweltbereich und für die Popularisierung hat auch gespielt, dass man gelernt hat, Flechten als Indikatoren der Luftqualität heranzuziehen und dass allgemein die Arbeit an Roten Listen gefährdeter Organismen als Aufgabe angesehen wird.
Auf dieser Basis ist die Aufgabe, den Naturschutz für Flechten zu interessieren, leichter geworden. So hat die Naturschutzbehörde im Regierungspräsidium Freiburg eine Datenbank besonders schützenswerter Flechtenbiotope eingerichtet und die Forstliche Versuchsanstalt betreut ein Projekt, mit dessen Hilfe Waldbiotope unter Schutz gestellt werden u.a. wegen ihrer gefährdeten Flechtenarten. Wenn auf diesem Weg weiter fortgeschritten wird, kann man bereits sehr viel mehr tun als vor zwei, drei Jahrzehnten erhofft.

 


Landkartenflechte (Foto Heinz Scholz)
 

Frage2: Im vorigen Jahrhundert  entstanden durch die Einwirkung saurer Immissionen, wie das Schwefeldioxid und Folgeprodukte, beträchtliche Areallücken. Besonders schlimm war es in weiten Teilen der DDR und in der alten BRD im Ruhrgebiet (Schädigungen durch SO2).
Durch die Rauchgasentschwefelung erholten sich die Arten allmählich. Heute spielen andere Immissionen eine Rolle. Um welche Immissionen handelt es sich? Welche Arten sind besonders betroffen?

Antwort: Die Belastung mit düngenden Substanzen aus der Luft, z.B. mit Stickstoffverbindungen aus Verkehrsemissionen und Intensivviehhaltung ist nach wie vor hoch. Anders als seinerzeit bei der SO2-Belastung entstehen zwar keine Flechtenwüsten mehr, aber es verschwinden dennoch zahlreiche Arten, und zwar solche, die auf nährstoffarme Unterlagen (Rinde etc.) angewiesen sind, dafür nehmen düngungstolerante Allerweltsarten überhand, so die bekannte Gelbflechte, die für die Gelbfärbung der Äste und Stämme insbesondere freistehender Bäume sorgt. Dies ist durchaus vergleichbar mit dem dramatischen Rückgang von Magerrasenarten bei Blütenpflanzen, wie Arnika, Katzenpfötchen oder Silberdistel. Der Verlust an Arten und damit genetischen Ressourcen ist grundsätzlich problematisch für unsere Umwelt.

Frage 3: Flechten sind hervorragende Indikatoren für Immissionen. Woran erkennt man an den Flechten Schädigungen durch Luftschadstoffe und wie sieht es in „luftreinen“  Gebieten aus? Was sagen Probeentnahmen und Kartierungen aus?

Antwort: Die Zusammensetzung der Flechtenflora ist in belasteten und unbelasteten Gebieten verschieden - das zeigt sich dem Laien nicht auf den ersten Blick. Wie erwähnt, kann die üppige Präsenz der Gelbflechte an Bäumen in der Regel als Zeichen gewertet werden, dass die Standorte aus der Luft überdüngt sind, wohingegen eine geringe Präsenz dieser Flechte an freistehenden Laubbäumen ein Zeichen für geringe Belastung in dieser Hinsicht ist. Üppig entwickelte Bartflechten oder das Vorkommen der Lungenflechte ebenfalls. Kartierungen des Flechtenbewuchses und der Flechtenarten belegen und objektivieren diese Unterschiede in Flora bzw. Belastung.

Frage 4: Welche Rolle spielt die Klimaerwärmung?

Antwort: Es hat uns Flechtenexperten überrascht, wie rasch die Flechtenflora auf die Veränderung des Klimas reagiert hat. Das betrifft fast nur Flechten auf Bäumen, weil in Form junger, nachwachsender Baumstämme immer wieder neue Standorte geschaffen werden, die neu besiedelt werden. In den letzten 25 Jahren sind aus Westen und Südwesten zahlreiche Arten eingewandert, die in Deutschland zuvor nicht bekannt waren. Es sind Arten milder Klimagebiete. Der Zusammenhang mit der Klimaerwärmung liegt auf der Hand.

 


Gelbe Blattflechte (Xanthoria parietina) (Foto Heinz Scholz)
 

Frage 5: Was kann man tun, um gefährdete Flechtenbiotope zu erhalten?

Antwort: Das ist bereits vorhin angeklungen. Mit dem Eigentümer reden, sich mit den Forstbehörden verständigen und auf die Bedeutung hinweisen, sich an die ehrenamtlichen Naturschützer oder an das Naturschutzreferat in den Regierungspräsidien wenden.

Frage 6: Würden Sie uns einige Fallbeispiele nennen?

Antwort: Beim Projekt, das die Forstliche Versuchsanstalt für den Forst Baden-Württemberg plant, wird mit sogenannten Indikatorarten gearbeitet. Sie sind einigermaßen gut kenntlich, zeigen wertvolle Biotope an und stehen stellvertretend für eine ganze Reihe anderer gefährdeter Arten. Beispiel: Bartflechten. Mit ihrer Hilfe können hervorragende Flechtenbiotope ausgewiesen werden. Anderes Beispiel: Ein überregional bedeutendes Vorkommen von Lungenflechtenarten bei Todtnau wurde in Zusammenarbeit mit der Naturschutzbehörde in Freiburg schon vor 20 Jahren durch Pflegemaßnahmen geschützt, desgleichen eine Lokalität mit extrem seltenen Glazialrelikten am Feldberg. In Würzburg habe ich bei einer Rebflurumlegung auf die Versetzung einer ganzen Mauer hinwirken können. In anderen Fällen kommt jede Maßnahme zu spät, weil durch Standortveränderungen Vorkommen vernichtet wurden, so das einzige Vorkommen einer Wasserflechte in Deutschland im Feldberggebiet.

Frage 7: Sie bezeichnen die Säuberung von Mauern, Burgruinen, Bildstöcken, Säulen und Grenzsteinen als eine Verschwendung von Geldern. Was empfehlen Sie, um solche in Ihren Augen unschönen Attacken zu vermeiden?

Antwort: Es ist tatsächlich in den allermeisten Fällen nicht sinnvoll, Hochdruckreinigungen an flechtenbewachsenen Denkmälern/Baulichkeiten vorzunehmen oder diese sogar unter Materialverlust abzuschleifen. Flechten können zwar durchaus an weichen, porösen Gesteinen den Mineralzusammenhalt lockern, also Verwitterung fördern. Aber: Wenn sie einmal da sind, wirken die Flechtenkrusten wie eine Schutzhaut, die verhindert, dass die Gesteinsoberfläche "absandet", also die Mineralkörnchen sich ablösen. Entfernt man die Schutzschicht, ist der blossgelegte, raue und womöglich leicht angewitterte Untergrund der Witterung schutzlos ausgeliefert. Schleift man dann die porös gewordene oberste Gesteinsschicht ab, hat man zwar Geld ausgegeben, aber nichts gewonnen, im Gegenteil, Gesteinssubstanz verloren. Grabsteine oder Denkmäler aus Granit oder ähnlichen harten und dichten Gesteinen werden von Flechten ohnehin allenfalls in Hunderten von Jahren angegriffen, und dies nur ganz leicht.
Sie sprechen von unschönen Attacken. Unschön, schön. Diese Begriffe bringen mich auf einen anderen Aspekt. In den Augen vieler Menschen ist - aus meiner Sicht leider - eine mit Flechten bewachsene Mauer, ein mit Flechten bewachsener Grabstein unsauber, nicht schön. Es ist eine Frage der Einstellung, ob man die natürliche Patina akzeptiert oder sogar attraktiv findet. In Großbritannien gibt es einen Wettbewerb ähnlich unserem "Unser Dorf soll schöner werden". Dabei wird Flechtenwuchs als positiv bewertet.

Ein herzliches Dankeschön an Prof. Dr. Volkmar Wirth für das Interview.

Literatur
Kirschbaum, Ulrich; Wirth, Volkmar: „Flechten erkennen, Luftgüte bestimmen“, Eugen Ulmer Verlag, Stuttgart 1995.
Scholz, Heinz: „Erlebte Natur: Flechten – Lebewesen aus Alge und Pilz“, „Chrüteregge“ Nr. 3, 1983.
Wirth, Volkmar: „Indikator Flechte – Naturschutz aus der Flechten-Perspektive“, Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde, Serie C – Wissen für alle, Heft 50, 2002.
Herausgeber: Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart und Gesellschaft zur Förderung des Naturkundemuseums in Stuttgart.

 


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