Textatelier
BLOG vom: 03.05.2016

Hungerjahr 1816/17: Jahr ohne Sommer, viele assen Gras

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D

 

Immer wieder gab es in der Vergangenheit Hungerkrisen. Das Hungerjahr 1816/17 war wohl am eindrücklichsten. Die Menschen hatten im Badischen und in der Schweiz kaum etwas zum Essen. Hier ein Auszug eines authentisch geschilderten Berichts:

„Überall schleichen verhungerte, ausgemergelte, leichenblasse Gestalten umher! Herzzerreissendes Geschrei der Kinder ertönt, wenn sie mittags und abends vor Hunger gequält, ihre Eltern um Brot anflehen, und sie die gute Mutter mit bitteren Tränen und blutenden Herzen zur Geduld weisen muss, weil sie selbst seit 24 Stunden noch kein Bissen genossen ... Die Mittags- und Abendmahlzeiten mehrerer blutarmer Familien von Bretzwil bestehen bloss in einer grossen Schüssel mit in warmem Wasser angebrühter Kleie (Grüsch), ohne die mindeste Beimischung von Milch, Salz oder Butter.“

Diese aufwühlenden Zeilen schrieb 1817 Pfarrer Emanuel Merian aus Bretzwil im Bezirk Waldenburg BL/Schweiz an den Bürgermeister und an den Rat der Stadt Basel über die Hungersnot in seinem Pfarrdorf. Grund für die nicht nur in der Schweiz auftretende Hungersnot waren Missernten infolge eines nassen Sommers und kalten Frühjahrs. Das Wetter spielte verrückt. Es gab Dauerregen bis Ende April, Schneeschauer und Frost im Frühsommer, ein Hochsommer mit Hagelstürmen bei Temperaturen um 10 °C. Auch an der amerikanischen Ostküste und in China gab es Ernteverluste infolge des schlechten Wetters (mit Schneestürmen, schwere Unwetter und Überschwemmungen). Am schlimmsten betroffen waren Gebiete nördlich der Alpen: Elsass, Deutschschweiz, Baden, Württemberg, Bayern und Vorarlberg.

Jahr ohne Sommer
Hauptgrund war wohl der Ausbruch des 11 000 km entfernten Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien. Riesige Aschewolken (man schätzte 150 km3) und Schwefelgase wurden in die Stratosphäre geblasen. Die Wolke verbreitete sich über die ganze Erde. Es kam zu einer globalen Klimaveränderung und verursachte durch Missernten die schlimmste Hungersnot des 19. Jahrhunderts. Das Jahr 1816 ging in die Annalen als das Jahr ohne Sommer ein. Diese Zeit wurde als „Eighteen hundred and frozen to death“ („Achtzehnhundertunderfroren“) bezeichnet. Das Jahrzehnt von 1810 bis 1820 war weltweit das kälteste der letzten 500 Jahre. Bei der Untersuchung von grönländischen und antarktischen Bohrkernen war wohl nicht allein der Ausbruch des Tambora allein verantwortlich. Man vermutet eine vergleichbare grosse Vorläufereruption Ende des Jahres 1808, wie in Wikipedia nachzulesen ist. Es spielte auch eine erheblich reduzierte Aktivität der Sonne in dieser Zeit eine Rolle.

Im Jahr ohne Sommer konnte man in unserer Gegend das Getreide nicht aussäen. Es war auch zu kalt für Kartoffeln, Obst und Gemüse, wie Irene Krauss und René Zipperlen in der Zeitschrift „Der Sonntag“ vom 01.05.2016 berichteten.

Literarische Widerspiegelung
Der englische Dichter George Gordon Byron (Lord Byron) schrieb im April 1816 am Genfer See das düstere Gedicht „Darkness“ („Finsternis“). Hier ein Auszug: „Erloschen war der Sonne Schein; die Sterne bewegten trüb sich durch den ewigen Raum … Der Morgen kam und ging, doch ward´s nicht Tag…“

Die britische Schriftstellerin Mary Shelley war in dieser Zeit mit Freunden in der Nähe des Genfersees untergebracht. Wegen des schlechten Wetters konnten sie oft das Haus nicht verlassen. Shelley schrieb Schauergeschichten und trug sie dann vor. So entstand  die Geschichte „Frankenstein“. Byrons Leibarzt John Polidori war auch aktiv. Er vollendete seine Geschichte „Der Vampyr“. Diese Vampirgeschichte entstand also wesentlich früher als diejenige des irischen Schriftstellers Bram Stokers Dracula. „Dracula“ wurde 1897 veröffentlicht.

Ersatz für Nahrungsmittel
Viele Familien suchten verzweifelt Ersatz für die entbehrten Nahrungsmittel. So kochten die Betroffenen Suppen oder Mus aus Kleie, Gemüse, Obst, Wurzeln, Gras und Kräuter (Brennnesseln), Disteln oder Misteln. Getreide und Brot auf dem Markt blieben für die ärmere Bevölkerung unerschwinglich. Das Brot wurde oft mit Stroh, Sägemehl, Baumrinde und Heublumen gestreckt. In der Schweiz gab es in dieser Zeit „ekelhafte Speisen, Brei aus Knochenmehl, zerriebenem Heu, Hunde und Katzen“, wie Ruprecht Zollikofer berichtete.  Es ist unvorstellbar, wie die damaligen Menschen Hunger leiden mussten. Auf einer anonymen Hungertafel aus dem Herbst 1817 wurde die Hungerkatastrophe eindrucksvoll dargestellt (zu sehen im Museum Lichtensteig). Inhalt einer Zeichnung: Die hungernden Kinder halten sich schreiend den Bauch, die Menschen  „grasen mit dem Vieh“. Auf einer anderen Zeichnung  ist dies zu sehen: Eine gute Ernte macht nur einer der Schnitter namens Tod.

In Ybrig, in Rothenthurm, in der Almatt und in den Berggegenden „haben Kinder oft im Gras geweidet wie die Schafe, auch Wiesenblumen waren begehrt.“ Dies berichtete die „Neue Luzerner Zeitung“ vom 17.04.2010.

In dieser schrecklichen Zeit wanderten viele Menschen nach Amerika aus. Schon damals gab es betrügerische Schleuser. Die in Amsterdam ankommenden betrogenen Menschen wurden dann auf Kosten des badischen Staates wieder in ihre Heimat zurück gebracht.

Regierung wurde aktiv!
Nach den zahlreichen Beschwerden wurde die Regierung aktiv, indem sie Getreide aufkaufte und verteilte; ausserdem wurden Suppenküchen eingerichtet. In den Küchen in Lörrach und Basel wurde die Rumfordsuppe, bestehend aus Erbsen und Graupen, ausgeschenkt. Diese linderte etwas den Hunger.
Später folgten Massnahmen zur Förderung von Ackerbau und Viehzucht. König Wilhelm I. gründete 1818 eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, heute die international bekannte Universität Hohenheim.

Aus moralischen Gründen erliess die Regierung 1817 ein Tanzverbot. Geschwächte überlebten die Hungerkrisen in der Regel nicht. Viele, die schlechte, ungewohnte und verdorbene Nahrung zu sich nahmen, zogen sich Magen-Darm-Erkrankungen zu, wie die Rote Ruhr oder Dysenterie (entzündliche Erkrankung des Dickdarms). Die Hungersnot hatte bald darauf aufgrund guter Ernten ein Ende.

1845 kam eine neue Welle von Hunger und Not auf die Bevölkerung zu. In dieser Zeit wurde die Kartoffel von einer sonderbaren Krankheit befallen. Man nannte sie Kartoffelpest oder Kartoffelfäule. Darüber werde ich in einem gesonderten Blog berichten.

Internet
https://de.wikipedia.org/wiki/Jahr_ohne_Sommer
www.winterplanet.de/Sommer1816/Jos-Teil1.html

Literatur
Behringer, Wolfgang: „Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte“, Verlag Beck, München 2015.
Kraus, Irene; Zipperlen, René: „Massenflucht aus Baden“, „Der Sonntag“ vom 01.05.2016.

 


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