Überlegungen zu Macht, Gesetzen, Regeln und Entscheidungen
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen, Deutschland
Vor einigen Tagen konnte man im Fernsehen mitverfolgen, wie die Bürger von Manbidsch, einer Stadt im Norden von Syrien, feierten, nachdem die Besatzungsmacht IS (der sog. Islamische Staat) durch von den USA unterstützte syrische Truppen und Kurden besiegt worden war. Die Männer schnitten sich öffentlich ihre Bärte ab und Frauen verbrannten Ganzkörperschleier, die Männer durften über ihre Bärte nicht selbst entscheiden und die Frauen waren zu dieser Kleiderform gezwungen worden.
Der Leichtathlet Yuri van Gelder wurde vom Niederländischen Olympischen Sportbund von der weiteren Teilnahme an den Olympischen Spielen ausgeschlossen, nachdem er die Teamregeln überschritten und ein paar Gläser Bier vor seinem Endkampf getrunken hatte.
Ein katholisches Krankenhaus in Deutschland darf einem Chefarzt kündigen, weil dieser nach einer Scheidung zum zweiten Mal heiratete.
Der Pächter eines Schrebergartens hat eine Kündigung des Kleingartenvereins zu erwarten, wenn er sich nicht an die Regeln hält und gegen das Bundeskleingartengesetz verstösst.
Die Besatzungsmacht IS hatte den Menschen ihre Regeln aufgezwungen. Ein Widerstand dagegen hätte schwerwiegende, vielleicht sogar lebensbedrohliche Folgen haben können. Der Leichtathlet, der Arzt und der Pächter hatten in ihren eingegangenen Verträgen sich für die Einhaltung der jeweiligen Regeln verpflichtet.
In allen Fällen handelt es sich um Körperschaften, entweder mit hoheitlichen Befugnissen (die sich beim obigen Beispiel der IS anmasst) oder ein zu einem bestimmten Zweck dienenden Zusammenschluss von Personen, auch Korporation genannt, der auch als juristische Person gelten kann.
Korporationen sind Organisationen, die Regeln aufgestellt haben oder sich an bestehende Regeln halten, sie haben also Wirkmacht. Juristische Personen werden wie Akteure behandelt, die neben individuellen Akteuren ihre Berechtigung haben.
Gesetze zwingen zur Unterordnung. Sie können notwendig sein, um Chaos zu vermeiden. Die Chaosforschung hat aber gezeigt, dass die Zukunft, darunter fällt auch das Verhalten der Menschen, nicht berechenbar ist. Sie muss also durch Steuerung aufrecht erhalten werden. Steuerung beinhaltet auch Sanktionen bei Regelverstössen.
Eine Definition von Willensfreiheit ist:
„Eine Person ist in ihrem Wollen frei, wenn sie die Fähigkeit hat zu bestimmen, welche Motive, Wünsche und Überzeugungen handlungswirksam werden sollen“ [Beckermann].
Menschen in einem totalitären Regime sind in ihrer Willensfreiheit stark eingeschränkt. Die Einschränkung kann (vorübergehend) in Kauf genommen oder muss erduldet werden, wenn der Willen zum Überleben und die Hoffnung auf eine Veränderung besteht.
Dadurch wird die substantielle Entscheidungsmöglichkeit zwar in Betracht gezogen, aber als unverträglich mit der Gesamtsituation eingestuft.
Anders sieht es bei der instrumentellen Entscheidungsmöglichkeit aus: Der Wille, an den Olympischen Spielen teilnehmen zu wollen, führt zu einer mehr oder weniger spontanen Handlung. Sie führt gleichzeitig zu einer Einschränkung der Willensfreiheit durch Unterwerfung unter die damit verbundenen Bedingungen. Durch eine spontane Handlung, etwa den Genuss von Alkohol, wird die Willensfreiheit zwar demonstriert, dies kann aber wiederum zu einer Kettenreaktion führen, die die weitere Teilnahme an den Wettkämpfen unmöglich macht. Wünsche können also miteinander nicht verträglich sein.
„Es ist uns unmöglich, im Voraus abschliessend zu wissen, was wir wollen und tun werden. Einerseits, weil vieles an unserem Willen im Dunkeln liegt und uns überraschen kann, aber auch, weil die Reflexion über den Willen und sein mögliches Resultat diesen wieder ändern kann.“ (Bieri)
Entweder, eine Entscheidung führt von Anfang an zur Ablehnung einer Option oder sie kann, allerdings nicht in allen Fällen, später rückgängig gemacht werden. So haben sich junge Männer von vornherein gegen den Wehrdienst entschieden, weil sie die dadurch eingeschränkte Willensfreiheit nicht akzeptieren wollten. Diese Entscheidung ist aber häufig in vielen Ländern mit Strafe verbunden oder ist mit dem Gesetz nicht vereinbar. Die jungen Männer sind in ihrem Wollen nicht frei.
Einer Einschränkung in meinen Lebensentscheidungen, wie ich sie durch einen Arbeitsvertrag in einer kirchlichen Organisation eingehen würde, wäre für mich keine Option. Deshalb würde ich auf Alternativen ausweichen, auch wenn ich dadurch mögliche Karriere- und Lebenschancen verpassen würde.
Es ist natürlich möglich, sich aus freiem Willen Bedingungen zu unterwerfen, die man eigentlich ablehnt, wenn es persönliche Gründe dafür gibt, diese in Kauf zu nehmen. Ich kann keine Medaille im Sport erringen, wenn ich mich nicht den strengen Regeln fügen würde, auch wenn ich die Voraussetzungen dafür hätte.
Mir stellt sich die Frage nach der Machtbefugnis derjenigen, die diese Regeln festlegen. Was qualifiziert sie dazu? In Demokratien werden Politiker gewählt, sie stellen die Legislative, also die gesetzgebende Gewalt. Oft stehen aber Personen oder Gremien an der Spitze, die sich selbst dazu legitimiert und autorisiert haben, Macht auszuüben.
Zur Macht gehört einerseits die Fähigkeit einer Person oder einer Gruppe, auf das Verhalten und Denken einzelner Personen, einer Gruppe oder auf die Bevölkerung insgesamt oder teilweise Einfluss nehmen zu können. Andererseits bedeutet Macht auch die Durchsetzungsfähigkeit des Einflusses.
Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens Macht ausgesetzt und setzt seinerseits andere der Macht aus. Es sind oft gegenseitige (Austausch-) Verhältnisse. Menschen empfinden direkte Machtausübung jedoch oftmals als "Druck", der auf eine oder mehrere Personen ausgeübt wird, um Interessen, die nicht unbedingt beiderseitig sind, durchzusetzen.
So hat sich jeder Mensch in einem mehr oder weniger grossem Umfang der Macht zu unterwerfen. Beispielsweise bestimmen politische Institutionen, etwa Schulbehörden, was die Schüler zu lernen haben und wie die Prüfungen auszusehen haben. Arbeitgeber geben vor, was ihre Angestellten zu tun haben und beeinflussen darüber hinaus oftmals auch das Verhalten der ihnen Untergebenen. Die Kirchengesetze sind nicht durch einen demokratischen Willensprozess entstanden.
Es gibt keine Freiheit ohne Einschränkung. Schon der Begriff "freiheitlich demokratische Grundordnung" grenzt Freiheit mit dem Hinweis auf Ordnungskriterien ein. Wer Machtbefugnisse hat, wendet sie in der Regel auch an, oftmals auch in einem Umfang, der darüber hinausgeht. Das ist täglich in Behörden aller Art ebenso festzustellen, wie in allen Abhängigkeitsverhältnissen.
Chancen, die sich dem Individuum bieten, wahrzunehmen, heisst immer auch, Freiheitsrechte abzugeben. Es stellt sich immer die Frage, wie viele Kompromisse man einzugehen bereit ist. Oftmals bleibt keine Wahl, dagegen zu entscheiden. Wenn ich arbeitslos bin und Leistungen der „Agentur für Arbeit“ in Anspruch nehmen will, muss ich, obwohl ich etwa durch jahrelanges Einzahlen in die Arbeitslosenversicherung Recht auf Leistungen habe, doch eine Reihe von Bedingungen erfüllen, die meine Freiheiten einschränken.
Es wird immer wieder behauptet, wer sich engagiert, politisch oder in Organisationen, hat die Möglichkeit, bei Gesetzen oder bei der Formulierung und Festlegung von Regeln im eigenen Interesse Einfluss zu nehmen. Real ist diese Möglichkeit jedoch sehr beschränkt oder kaum realistisch.
Oftmals bleibt nur die Verweigerung oder der Verzicht, die dann wieder schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen können. Dabei kommt es darauf an, ob ich persönlich eine Mitgliedschaft in einem Verein oder einer Organisation als notwendig oder sinnvoll erachte und mich entsprechend entscheiden kann oder ob mir gar nichts anderes übrig bleibt, mich den Bedingungen und Regeln zu unterwerfen, wenn ich überleben oder meinen Lebensstandard bewahren will.
Die aufgeworfenen Fragen sollte sich jeder stellen, der Entscheidungen dieser Art zu treffen hat. Ich persönlich werde nicht Mitglied in einem Verein, einer Organisation oder einer Institution, die mich verpflichten würde, beispielsweise an jedem Geburts- oder Feiertag eines Mitglieds aktiv zu werden oder die auf mein Privatleben Einfluss nehmen wollen, weil ich mich dadurch in meiner Freiheit zu sehr eingeschränkt fühle.
Die scheinbar so beliebten Quizsendungen im Fernsehen unterliegen auch der Macht derjenigen, die diese Fragen, die den Kandidaten gestellt werden, aussuchen und bestimmen. Meistens werden diejenigen Gewinner, die über ein bestimmtes lexikalisches Wissen verfügen, bzw. diejenigen, die die Medien und darin die als gesellschaftlich relevant dargestellten Ereignisse und Personen zu nennen und zu (er-)kennen wissen. Das wird dann als wissens- und erstrebenswert dargestellt. Niemand fragt die Relevanz oder den Sinn der Fragen nach! Und die Kandidaten lassen sich - ganz im Bestreben der Medienmacher - instrumentalisieren, ganz süchtig nach Geld und angeblichem Ruhm.
Ich frage mich also immer, ob eine Entscheidung für etwas lebensnotwendig und in meiner Situation sinnvoll für mich ist oder inwieweit sie mich belasten und damit meine Lebenswünsche beeinträchtigen können. Das heisst, ich wiege auf, ob ich Konsequenzen aus dieser Entscheidung in Kauf nehme oder nicht.
Und ich frage mich auch, zu welchen Regeln und Bedingungen verpflichte ich mich dadurch. Ich wäge sie natürlich mit den Rechten und den Vorteilen auf, die eine Mitgliedschaft oder Teilnahme für mich bringt. Ich finde, das ist vernünftiges und weitsichtiges Verhalten, auch wenn es momentanen Verzicht mit sich bringt.
Hierzu ist ein Auszug aus dem Buch "Die Aufziehgesellschaft" interessant:
"Die Gesellschaft und ihre Gesetze oder: 'Von der Einhaltung der Regeln' - 'Wie ihr schon aus frühester Kindheit wisst, macht ein Miteinander (zum Beispiel zum Spielen..) nur dann Sinn und Spass, wenn alle sich an gleiche Voraussetzungen oder vorher ausgehandelte Vereinbarungen halten. In eurem späteren Leben sind das die Gesetze, Gebote oder Regeln, welche wir uns im Laufe der Zeit gegeben haben. Sofern diese eine Daseinsberechtigung haben und dauerhaft verankert und befolgt bleiben wollen, müssten sie meiner Meinung nach lediglich zwei Grundsätzen folgen: Erstens muss sie jeder verstehen können und zweitens muss ihre Befolgung kontrollierbar sein, bzw. ihre Nichtbefolgung rechtlich geahndet werden können. Wenn also ein Allgemeinwesen diese beiden Grundsätze nicht garantieren kann, dann haben die entsprechenden Gesetze, Gebote oder Regeln in seinem Alltag nichts zu suchen und müssen daraus entfernt werden. (..) Ich beziehe mich einzig und allein auf jene Flut von Gesetzen, Geboten und Regeln, welche von einem grossen Teil der Bürger nicht in ihrem ursächlichen Sinnzusammenhang gesehen werden kann oder aber deren Nichtbefolgung als lässlich oder straffrei erlebt wird."
Der Autor fordert eine dauernde Hinterfragung der Regeln und Gesetze unter Beteiligung der Bevölkerung. Der für mich wichtigste Hinweis ist der der "Daseinsberechtigung". In einer sich ständig wandelnden und demokratischen Gesellschaft sollte sie immer der Diskussion unterworfen sein. Meines Erachtens wird danach immer noch viel zu selten gefragt.
Quellen
Beckermann Ansgar (2005), Haben wir einen freien Willen?, in http://www.philosophieverstaendlich.de/
Bieri Peter (2001), Das Handwerk der Freiheit, München
Eingärtner, Ruben Albrecht, „Die Aufziehgesellschaft“, Verlag Book on Demand, BoD, 2015, S. 129
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