A. W. Müller: „Ich bin gelassener und toleranter geworden“
Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
Arthur W. Müller, Autor des prächtigen Pilgerbuches „81 Tage auf dem Jakobsweg“ hat als 69-Jähriger 2250 km auf dem Jakobsweg zurückgelegt (s. Blog vom 02.09.2016: „Arthur W. Müller: 81 Tage auf dem Jakobsweg“). Es ist eine unglaubliche Leistung. Ich stellte dem Autor einige Fragen zu seiner Top-Leistung.
Keine Frage, Ihre Top-Leistung wird von allen bewundert. Jüngere konnten es kaum glauben, dass Sie als 69-Jähriger den Weg von Reinach/BL bis nach Santiago de Compostela per Pedes erreicht haben. Wie haben Sie sich trotz einiger Probleme mit den Füssen motiviert, den ganzen Weg zu gehen?
A. W. Müller: Der Wandervirus hat sich bei mir vor vielen, vielen Jahren eingenistet. Ich habe mich bei meinen Ferienreisen immer wieder gefragt, wie das früher gewesen sein muss, als man nicht einfach in ein Flugzeug steigen konnte, und ein paar Stunden später in einer völlig anderen Kultur landet. Die Römer sind bei ihren Eroberungen zu Fuss bis nach England vorgedrungen und waren nach Hause in die Ferien zurückgekehrt. Marco Polo hat die Seidenstrasse zu Fuss zurückgelegt. Die Ritter sind mit ihren Knechten bis nach Jerusalem marschiert. Und dann eines Tages war es soweit, dass der Virus so stark war, dass mich der Gedanke nicht mehr los liess und ich mich damit beschäftigte, den Jakobusweg zu gehen. Und wie es in solchen Fällen öfters vorkommt, schnappte ich jede Information dazu auf. Ich glaube, Goethe hat gesagt: „Nur wo du zu Fuss warst, warst Du wirklich.“ Das kann ich nur bestätigen. Dieses Gefühl erleben zu wollen und dafür unbeschränkt Zeit zu haben, ist die grösste Motivation, da sind kleinere Blessuren ganz normale Begleiterscheinungen.
Pilger, die den Jakobsweg gehen wollen, müssen sicherlich eine akribische Planung durchführen. Wie haben Sie sich vorbereitet?
A. W. Müller: Man muss zwei Arten der Vorbereitung unterscheiden. Erstens die körperliche Vorbereitung und zweitens die geistige Vorbereitung.
Da ich in früheren Jahren einige Marathons bestritten hatte, sowie den Himalaya sowohl zu Fuss wie auch mit dem Velo überquert und in Südamerika einige Sechstausender bestiegen habe, traute ich mir zu, den ganzen Weg trotz des fortgeschrittenen Alters ohne spezielles Training bewältigen zu können.
Bei all meinen früheren Ferienreisen habe ich vor Antritt der Reise die bekannten Reiseführer gelesen und mir die Sehenswürdigkeiten angekreuzt, die ich besuchen wollte, damit ich wusste, auf was ich achten musste. Ohne dieses Wissen geht man achtlos an den interessantesten Dingen vorbei. Dazu gehört auch eine Beschreibung der Landschaft. Als Beispiel möchte ich das Durchwandern der Auvergne nennen. In der Auvergne muss die Erde vor vielen Millionen Jahren richtiggehend geblubbert haben. Die Landschaft ist übersät mit den übriggebliebenen Vulkankegeln. Viele alte Häuser und Kirchen sind aus schwarzem Lava- oder Basaltstein gebaut. Wenn man zusätzlich eine Landkarte bei sich hat, dann ist das von den Römern angelegte schnurgerade Strassennetz unübersehbar und man weiss dann, dass bereits vor 2000 Jahren viele Menschen den von den Römern gepflästerten Weg gegangen sind, auf dem ich mich bewegte, so vermittelte mir dies ein besonderes Gefühl der Vertrautheit. Übrigens verläuft auf vielen Wegabschnitten in Frankreich und Spanien der Jakobsweg auf solchen von den Römern gepflästerten Abschnitten. Wenn man dann zusätzlich noch grosse Steine am Wegrand sieht und weiss, dass dies die Überreste von keltischen Dolmengräbern sind, dann wird das Wandern erst recht interessant. Beide Aspekte, die römischen gepflästerten Wege und die Dolmengräber, belegen, dass der Jakobsweg einige tausend Jahre vor dem Pilgeransturm im Mittelalter als eine „Hauptverkehrsader Europas“ begangen wurde.
Sie sahen auf dem Weg Pilger, die mit einer körperlichen und geistigen Behinderung unterwegs waren. Einige bewegten sich mit Hilfe von Krücken weiter. Manche benutzten auf Teilstrecken Taxis und liessen sich ihre Rucksäcke in die nächste Herberge transportieren. Sie schrieben, dass das persönliche Pilgererlebnis unerheblich ist, ob die Tagesleistungen „nur“ 10 km oder aber 30 km und mehr betragen. Wie viele km legten Sie am Tag zurück? Waren auch Ruhetage angesagt?
Wie viele Wochen empfehlen Sie, um die Pilgeratmosphäre richtig zu erleben?
A. W. Müller: Dies ist ein riesiges Bündel von Fragen. Weil ich viele Behinderte auf dem Jakobsweg sah, bin ich der Meinung, dass jedermann, mit Ausnahme derjenen, die an einen Rollstuhl gebunden sind, den Jakobsweg bewältigen kann. Voraussetzung ist allerdings eines: Unbeschränkte Zeit dafür zu haben. Wer jeden Tag 5 oder 10 km pro Tag zurücklegt, kommt auch ans Ziel.
Rein mathematisch habe ich pro Tag durchschnittlich 28 km zurückgelegt, was einer Marschzeit von etwa sieben Stunden entspricht. (Bei den Römern war die tägliche Marschleistung 40 km pro Tag. Dies trifft auch für die langen Reisen im Orient zu, wo die Karawansereien in einem Abstand von ebenfalls 40 km gebaut wurden.) Meines Erachtens sollte man sich jedoch nicht vornehmen, täglich so und so viele km absolvieren zu wollen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Damit setzt man sich unnötigerweise selbst unter Druck. Die täglichen Strecken sollten nach dem Lustprinzip absolviert werden. Einmal ist man besser drauf als an einem anderen Tag und dann wandert man eben länger. Aus diesem Grunde wusste ich morgens beim Aufbrechen nicht, wo ich abends übernachten werde.
Auf meiner Wanderung habe ich nach 3 Tagen meinen einzigen Ruhetag im Jura zum Besuche eines befreundeten Ehepaares eingeschaltet. Nachher ging es ununterbrochen während 77 Tagen weiter. An meinen „Ruhetagen“ wanderte ich nur etwa 4 Stunden. An diesen Nachmittagen hatte ich dann viel Zeit, meine Wäsche wieder richtig in Ordnung zu bringen oder Besichtigungen zu machen. Dies aus der Überlegung heraus, dass ich ja während meines Berufslebens während den Wochenenden mit der Familie zur Erholung ja auch Wanderungen von mehreren Stunden unternommen habe. Es ist folglich eine rein mentale Einstellung. Wandern nach dem Lustprinzip.
Ich brauchte ungefähr drei Wochen, um von einem Wanderer zu einem Pilger zu werden, bei dem sich ein „Urvertrauen“ einstellte. (Meines Erachtens ist Pilgern religionsunabhängig.) Dieses Urvertrauen ermöglicht einem ein Leben im „Hier und Jetzt“ und vermittelt eine unbeschreibliche innere Gewissheit, dass bei entsprechenden Bemühungen alles gut wird und das ferne Ziel erreicht werden kann. Wahrscheinlich kommt dieser Zustand des sorgenfreien Lebens einer Trance gleich, in welcher man einfach geht, die Zeit nicht mehr wahrnimmt und alles um sich herum in sich aufsaugt. In den ersten Wochen war ich noch stark in Gedanken mit zu Hause und dem Geschäft verbunden. Läuft alles richtig, macht sich die Familie meinetwegen zu viele Sorgen etc.? Ich bezweifle, ob sich dieses Trance-Gefühl in kürzerer Zeit einstellen und von Teilnehmern an 2- bis 3-wöchigen Pilgerreisen erreicht werden kann.
In Ihrem Buch zeigten Sie kein Verständnis für die „Schickimicki-Pilger“, die sich ihre Stempel im Pilgerpass erschlichen. Diese Art des „Wanderns“ hat mit dem Pilgern nichts zu tun. Würden Sie unseren Lesern dieses sonderbare Verhalten erklären?
A. W. Müller: In den letzten Jahren hat ein richtiger Pilger-Boom eingesetzt, wie es im Mittelalter der Fall war. Dies hat in Spanien zu einer Kommerzialisierung in ungekanntem Masse geführt. Oder hat die Kommerzialisierung zum Boom geführt? Wer kann es den Spaniern verargen, daraus Profit zu schlagen. Egal, heute werden die „Pilger“ mit Cars zu den „Hotspots“ gekarrt, worauf eine Stunde Pilgern angesagt ist. Der Jakobsweg wird so in maximal einer Woche abgehakt. Genauso wie die Japaner und Amerikaner in 2 Wochen ganz Europa anschauen. Dank guten Beziehungen der Organisatoren erhalten diese Touristen auch noch die Urkunde. Wer nur auf dem Jakobsweg geht, um mit der Urkunde bei den Freunden und Bekannten damit prahlen zu können, hat den Sinn des Pilgerns nicht verstanden und begeht im Grunde genommen Selbstbetrug. Was soll’s, wenn sie damit glücklich werden.
Sie pilgerten die meisten Etappen allein, während andere in Gruppen oder zu zweit oder zu dritt unterwegs waren. Welche Vorteile ergaben sich für Sie bei dieser Art von Wandern? Warum fühlten Sie sich nie einsam?
A. W. Müller: Jede Art des Pilgerns hat seine Vor- und Nachteile und jeder, der sich mit dem Gedanken trägt, den Jakobsweg zu machen, soll die Art des Pilgerns wählen, die seinem Wesen entspricht. Die organisierten Reisen oder Gruppenwanderungen haben den Vorteil, dass alles organisiert ist und man sich um nichts kümmern muss. Bei Gruppenreisen muss man das tägliche Ziel erreichen, auch wenn man nicht mehr mag und die Füsse schmerzen. Man ist „gefangen“ in der Gruppe, dafür sind spontane Begegnungen und Überraschungen praktisch ausgeschlossen. Ich habe viele kleinere, individuell reisende Gruppen ohne festes Tagesprogramm in Frankreich getroffen, die bis nach Spanien auseinandergebrochen sind, weil die gegenseitige Rücksichtnahme zur Belastung wurde. Obwohl ich jedes Frühjahr in einer Gruppe von Freunden Skihochtouren machte und mich dabei wohl fühlte, kam für eine derart lange Wanderung aus innerer Überzeugung nur eine Wanderung als Einzelgänger in Frage. Dafür wurde ich auch mit vielen überraschenden Begegnungen reichlich belohnt, besonders weil ich mich in verschiedenen Sprachen austauschen konnte und meine Tagespensionen beliebig einteilen konnte. Als Rat kann ich meine Wanderphilosophie nur empfehlen. Wandere solange, dass Du am Ziel nochmals ohne Problem eine Stunde weiterwandern könntest. Denn jeder Schritt, den ich heute in Richtung Ziel tue, muss ich Morgen nicht mehr machen. Das Alleine-Wandern hat zudem den Vorteil, dass man an einem schönen Ort verweilen oder eine längere Pause einschalten kann, ohne nachher der Gruppe hinterher hecheln zu müssen. Aufgrund dieser Wanderphilosophie fühlte ich mich auch nie einsam, es gab so viel zum Staunen.
Sie haben Pilger getroffen, die aus einer Lebenskrise heraus auf dem Pilgerweg unterwegs waren. Viele fanden nach der Bewältigung des Weges keine Lösung. Wie sehen Sie das Problem?
A. W. Müller: Es gibt dafür viele mögliche Antworten. Einer der wichtigsten Gründe dafür dürften die vielen neuen Eindrücke und das Unbekannte sein, welche täglich auf einen niederprasseln. Das alles muss erst einmal geistig verarbeitet werden. Dann sind auch die vielen Begegnungen mit anderen Pilgern und Einheimischen, mit denen man sich austauscht und viel bereichernde Zeit verbringt, schliesslich am Reflektieren „hinderlich“. Wenn man alleine unterwegs ist, absorbieren einen die täglichen elementaren Bedürfnisse, wie Suche einer Unterkunft oder Nahrung, sehr stark. Wir alle sind vom bisherigen Leben und unserer Umgebung geprägt und wir leben in einer gewollten gewissen Abhängigkeit davon, auch wenn uns dabei einiges stören kann. Eine Änderung des Lebens würde ja auch bedeuten, dass wir den Job oder gar die Familien aufgeben und unter Umständen gar nicht mehr nach Hause zurückkehren würden. Es kann folglich nur um das Setzen anderer Prioritäten gehen, und das ist schon schwer genug, wenn man in die vertraute Umgebung und in die eingefahrenen Spuren zurückkehrt.
Welche Begegnung war für Sie am eindrücklichsten?
A. W. Müller: Oh, da gibt es viele. Eine davon herauszugreifen wäre ungerecht gegenüber den anderen. Auf emotionaler Ebene hat mich die Begegnung mit dem Rentnerehepaar sehr berührt, weil sie mir für den weiteren Weg Essen mitgaben und sich bedankt haben, mich kennen gelernt zu haben. Auf gleiche Weise hat mich das junge spanische Ehepaar berührt, obwohl ich sie zuerst nicht wahrgenommen hatte, die mir das vierblättrige Kleeblatt schenkten, weil ich sie meines Alters und meiner Leistungsfähigkeit wegen beeindruckte. (Anmerkung: Das Kleeblatt ziert das Titelbild des Buches von A. W. Müller).
Jakob aus der Schweiz hat mich durch seine tiefe Gläubigkeit beeindruckt, weil er nach einem Sturz gelähmt war und gelobte, den Jakobsweg zu gehen, falls er jemals wieder gehen könnte. Auf der körperlich mentalen Ebene ist es für mich heute noch unfassbar, wie ein beinamputierter Pilger mit Krücken den ganzen spanischen Jakobsweg bewältigen kann und dabei erst noch den eigenen Rucksack trug. Dies gilt auch für das spanische ältere Ehepaar, von dem der Mann völlig blind war und von seiner Frau und dem Hund geführt wurde und den ganzen spanischen Jakobsweg ging. Sowohl die Leistung der Frau als auch jene des Mannes ist für mich einfach nicht vorstellbar und mit etwas Ähnlichem zu vergleichen. Auf rein körperlicher Ebene verdient die Leistung von Christian aus München, der 10 kg Steine für das Wohl seiner Freunde und Bekannten mit sich trug, meinen uneingeschränkten Respekt. Ich hatte schon mit lediglich 8 kg genug zum Tragen
Welche persönlichen Erkenntnisse ziehen Sie aus den 81 Tagen auf dem Jakobsweg?
A. W. Müller: Ich bin zutiefst dankbar, dass es mir vergönnt war, diesen Weg gemacht und Santiago de Compostela erreicht zu haben. Aufgrund der Begegnungen bin ich überzeugt, dass jedermann den Jakobsweg bewältigen kann. (Übrigens, in Spanien gibt es auch Routen für Rollstuhl- und Velofahrer.) Es ist nur eine Frage der Zeit, welche man dafür einzusetzen gewillt und bereit ist. Und davon sollten wir in einem menschlichen Leben eigentlich genügend haben. Natürlich ist die mentale innere Einstellung dazu wichtig, dann stellt sich das „Urvertrauen“, dass das Unternehmen gelingt, wie von selbst ein. Man muss nicht müssen, sondern soll den Weg nach dem „Lustprinzip“, das heisst, ohne äussere Zwänge gehen zu können. Genauso wie im beruflichen Leben, für erfolgreiche Menschen, ist Arbeit zugleich Berufung und Hobby. Das gewonnene Urvertrauen gibt einem jene Sicherheit, dass man gegenüber Rückschlägen gelassener wird, weil man weiss, dass mit ehrlichem Bemühen das Ziel erreicht wird.
Dank
Herzlichen Dank für die ausführliche Beantwortung der Fragen. Nun wissen wir, wie sich der Pilger auf einem so langen Weg fühlt, wie er sich vorbereitet und durchhält. Es sind wertvolle Tipps für Wanderer, die entweder Teilstrecken oder den ganzen Jakobsweg begehen möchten. Ein weiteres Fazit zog A. W. Müller: Er ist toleranter und gelassener geworden.
Internet
www.prosana.ch
www.prosana.eu
Literatur
Müller, Arthur W.: „81 Tage auf dem Jakobsweg“ (von Reinach/Basel nach Santiago de Compostela), pro Sana GmbH, Reinach/BL. 280 Seiten, 440 Abb., 34.50 CHF.
ISBN: 978-3-9523684-0-4,
Bestellungen per E-Mail: bestellungen@prosana.ch
Tel.: 061 715 90 05, Fax: 061 715 90 09
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