Textatelier
BLOG vom: 29.12.2016

Treibsand des Lebens - Unbedeutende Jahresendgedanken

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Wieder geht ein Jahr auf diesem Planeten zu Ende, ein Jahr meiner Existenz.

Ich gestehe, ich bin ein unbedeutendes Licht, ein überflüssiges Rädchen im Getriebe der Welt. Mein Leben lang habe ich das ausgeführt, was ich als meine Pflicht angesehen habe. Ich war eingebunden in Abläufe, die mir von Berufs wegen vorgegeben waren, habe dafür gesorgt, dass es meiner Familie gut ging. Meine Gedanken drehten sich immer um belanglose Dinge, denn es gibt nichts Belangreiches, nichts Weltbewegendes.

Ich will die Welt nicht bewegen, nicht verändern, nicht aufrütteln, nicht aufklären, nicht beeinflussen, schon gar nicht erlösen. Und wenn ich von der Welt rede, so meine ich doch nicht die Welt, sondern die Geschöpfe, die auf ihr herumlaufen, eingebunden in Naturgesetze, in Selbstbehauptungskämpfe, in Überlebensstrategien. Ich habe nie nach einem Sinn gesucht, ich suche nicht nach Etwas, von dem ich überzeugt bin, dass es nicht existiert. Darüber habe ich mir Gedanken gemacht, über das Leben als Dasein, als Sosein.

Lohnt es? Heisst das nicht, dass dieses finite (begrenzte) Zeitwort nach dem Ergebnis eines erbrachten Aufwandes verlangt? Anreiz für Arbeit? Entgeltung für Mühsal? Der Lohn des Lebens, der Lohn des mühseligen, unbedeutenden, abhängigen Lebens wird nicht ausgezahlt, im Gegenteil, es wartet der Tod. Ist das der Lohn? Gibt es ein unabhängiges Leben? Hat der Mensch seine Schuldigkeit getan, kann er jetzt gehen? Ist der Eintritt ins Leben mit Schuld verbunden? Weil man existiert?

Was ist der Sinn des Lebens? Selbsterhaltung, Fortpflanzung, macht das Sinn? Der Beitrag zur Erhaltung der Art? Die Menschen erheben sie zum Lebensinhalt: Erwachsenwerden, den Lebensunterhalt sichern, Selbstbehauptung, Einfluss ausüben, Sex haben, Kinder in die Welt setzen, aufziehen, sie gehen lassen, Enkelkinder haben. Was sonst, fragt man mich, bedeutet Leben?

Alle Sinne darauf sind in den Genen programmiert. Nachdenken darüber ist unerwünscht, denn das würde den Genuss daran stören. Gestörte Genussfähigkeit ist pathologisch. Das Leben meistern, alle Widrigkeiten überwinden, um diese Bestimmung zu finden, glücklich zu sein, das ist die Devise. Und Unglück und Leiden und Auf- und Abstieg gehören eben dazu, ohne Unglück kein Glück.

Es ist doch wertvoll, etwas zu lernen, sich zu verlieben, zu heiraten, Kinder zu zeugen, Karriere zu machen! Wertvoll? Das Leben ist wertvoll, es ist dir geschenkt, mach' etwas daraus!

Wieso soll das Leben wertvoll sein? Was am Leben ist wertvoll? Und wer nicht beschenkt werden will? Es muss sein, das Sein.

Der Mensch wird getrieben von den Trieben im Treibsand des Lebens..

Religionen haben dieses Absurde zur Grundlage gemacht. Weil das Leben nicht lebenswert ist, muss es das Paradies sein, das nach dem Leben kommt, wenn der Mensch danach lebt. Dort erwartet den Gequälten ewiges unbeschwertes Dasein. Aber nur bei meiner Religion, bei meinem Gott, sagen die, die ihren Gott als den allein seligmachenden ansehen. Man soll keine fremden Götter neben sich haben! Und die Religion kennt und kann den Weg dorthin ebnen, der Gläubige kann Befreiung von den Sünden erlangen, wenn er sich vertrauensvoll an seinen Gott wendet und die Gebote erfüllt. Zur Beseitigung selbst in den Weg gelegter Hindernisse haben die so genannten Geistlichen die richtigen Instrumente. Es ist ihr Geschäft, die Lehren als Wahrheit zu verkaufen. Sie verkaufen das Behüten vor den angedrohten Höllenqualen. Auch wenn die religiösen Wahrheiten den Naturgesetzen widersprechen.

Ich hege ketzerische Gedanken. Ich wurde gegen meinen Willen in die Welt gesetzt. Ich stelle mich so weit wie möglich gegen meine Triebe, versuche sie zu unterdrücken, lebe bescheiden. Ich mache mich bewusst unbedeutend, will nicht beitragen am Wahnsinn des Daseins. Ich entziehe mich, so weit es möglich ist. Bis sich die Gelegenheit ergibt, die alles beendet. Dann war ich auf der Erde gewesen, wie Milliarden andere auch.

Der Übermensch will über dem allem stehen, will nicht mitschwimmen im Strom des Lebens. Und wird doch einbezogen, eingebunden, kann sich nicht ganz ausklinken.

Wenn das Ende kommt, dann habe ich wie ein unbedeutendes Licht existiert. Leistung zu erbringen, Karriereleitern zu erklimmen, war nicht mein Ding. Ich werde nicht in Frieden ruhen, ich werde einfach nicht mehr da sein. Ich habe gelebt, aber nicht zur Evolution beigetragen, fast nicht. Ich habe es vermieden zu leiden. Jede Vermeidung ist unvermeidlich mit dem Leid anderer Lebewesen erkauft, Pflanzen und Tiere, die ich esse, durch die ich mich kleide, denn eine Existenz ohne andere Lebewesen ist nicht möglich.

Die Bedeutung meines Lebens liegt darin, dem Leben keine Bedeutung zuzumessen. Ich kam auf die Erde, lebte eine zeitlang und werde sie wieder verlassen. Kaum jemand wird mich vermissen. Ich habe mich treiben lassen. Ich war ein wenig Treibsand, der aus dem Auge gerieben wird.

Was soll daran schlimm sein?

 


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