Textatelier
BLOG vom: 01.01.2017

Kleine Philosophie des Magens

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Die Festtage einschliesslich Silvester und Neujahr gelten nicht gerade als der Zeitraum, da der Bürger und die Bürgerin die Askese pflegen. Eher schon denkt man für die Zeit danach etwas kürzer zu treten, um überzählige Pfunde wieder loszuwerden. Walter Hess, der Gründer des Textateliers und ehemaliger Redaktor von "natürlich" hatte stets einiges für Fragen der Diätetik übrig. Für das Jahr 2017, unter anderem das Bruder-Klaus-Jubiläumsjahr, mag mit diesem Beitrag ein Stück geistige Diätetik angesagt sein. Die Niederschrift erfolgte kurz danach, als ich im Zisterzienserkloster Hauterive die Vesper und Komplet besucht hatte, einen Gottesdienst ohne geschwätzige oder allenfalls moralisierende Predigt, mit lateinischen Psalmen im Zentrum. Darüber hinaus wurde das ehrwürdigste in Gold gefasste "Allerheiligste" in Form einer Hostie hinter einem Glas präsentiert. Aus dieser Betrachtung, die es 1469 schon gab, glaubte Klaus von Flüe einen Ersatz für Nahrung gefunden zu haben. Die Betrachtung stärke ihn so, behauptete er auf Rückfrage, dass er weiter nichts zu essen brauche. Paracelsus sprach in diesem Zusammenhang von der Ernährung über das Auge, ein sogenanntes Phänomen, das man auch aus der asiatischen Mystik kennt. Zwischen dieser und der herkömmlichen "adamitischen Ernährung" gibt es dazu noch die ebenfalls von Paracelsus entdeckte Mundverdauung, die  der Alchemist zu den subtilsten Arten der Ernährung zählt.

"Jeder kann zaubern, jeder kann seine Ziele erreichen, wenn er denken kann, wenn er warten kann, wenn er fasten kann." Diese Notiz von Hermann Hesse ist weit mehr als der ideologische Überbau zu einer nach Neujahr vielleicht angesagten Abspeckkur. Der Nobelpreisträger aus Montagnola weist uns einen Weg, der über die herkömmliche Gleichsetzung von Fasten und Abnehmen hinausweist. Am Anfang steht das Denken. Und wer denkt, kann warten. Wer aber warten kann, der fastet. Fasten ist in diesem Sinn ein spezieller Umgang mit der Zeit, die Basis eines neuen Bewusstseins. Etwas Hochgeistiges also, könnte man meinen.

Man darf es auch mehr körperlich, mehr erdhaft sehen. Wer zu fasten versteht, hat seinen Magen lieb. Überdies gewinnt der fastende Mensch ein viel bewussteres Verhältnis zu allen Nahrungsmitteln. Nach alter alchemistischer Lehre geht es um den Stoff, der sich in uns verwandelt und durch den wir uns verwandeln. Theophrastus Paracelsus (1493 - 1541) hat das Problem in einer theologischen Schrift wie folgt auf den Punkt gebracht: "Alle Verwandlung geschieht im Magen, und ohne ihn wird nichts verwandelt."  Das heisst, dass keiner behaupten soll, seine Lebenseinstellung etwa im Sinne von Neujahrsvorsätzen geändert zu haben, eine neue Weltsicht angenommen, eine spirituelle Bekehrung erfahren, wenn er nicht auch zugleich seine Ernährungsgewohnheiten umzustellen in der Lage ist. Mentale Veränderungen ohne Konsequenzen auf dem Speisezettel sind bloss Imitationen solcher Menschen, die sich tatsächlich auf einen neuen Weg begeben habe. Nur wer sich wandelt, bleibt mir verwandt, formuliert der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche in vergleichbarem Zusammenhang.

Leicht vergessen wir, auf welche Weise das, was wir essen, uns mitbestimmt und mitverwandelt, in manchem wohl stärker und dauerhafter als fast alles, was wir in der Schule lernen konnten. In dem Sinn verkündete Paracelsus die Lehre vom Archeus, dem grossen Alchemisten und Verwandlungskünstler im Magen. Es ist der Archeus, der alles Essen und Trinken in "Menschenfleich in mysterio" überführt. In diesem Zusammenhang ist auch die Ordnung des Fastens zu sehen. Dieses ist kein Selbstzweck. "Wenn Rebhuhn dann Rebhuhn, wenn Rührei dann Rührei, wenn Fasten dann Fasten" schrieb Spaniens dynamische Mystikerin Teresa von Avila. Dabei hält sich sowohl in den asiatischen wie auch in den europäischen Geheimlehren über das Fasten hartnäckig die Meinung, dass die Speise zwar den Leib stärke, das Fasten aber Leib und Seele noch stärker mache als das Essen. Der Stärkste ist derjenige, der seinem Magen die wenigste Nahrung zuführen muss, lautet eine alte Medizinmännerweisheit, die Elias Canett in seinem Hauptwerk "Masse und Macht" (1960) anführt. Auch bei den Eingeborenen der Schweizerischen Eidgenossenschaft wie ebenfalls im Bodenseeraum, der Wirkungsstätte der Mystikerin Elisabeth Achler, genannt die Gute Beth (1380 - 1421), war dieses Denken verbreitet. Nicht zuletzt deshalb wurde in der Schweiz Klaus von Flüe als grösste historisch-politische Autorität des Spätmittelalters anerkannt. Das gilt zum Teil heute noch.

Fasten hat in der Tat etwas Magisches. Die Gewissheiten, die der Mensch sich auf diese Weise abgerungen hat, lassen sich schwerlich erschüttern. Auch da geht die Liebe durch den Magen. Nur darf man nicht vergessen, dass das Fasten wieder zu unterbrechen ist. Deshalb, lehrt Paracelsus in seiner Schrift "Vom Fasten und Kasteyen", lasst uns mit Ehrfurcht Gottes Werk essen aus den Mineralien, dem Pflanzen- und Tierreich, und in richtiger Dosis genossen auch aus jenem Bestandteil des Universums, dem die geistigen Getränke angehören. Diese vermitteln zumal in den Naturheilmitteln einen reinen Wirkstoff. Das kostbarste alchemistische Werk für den menschlichen Magen aber bleibt nach Paracelsus das Brot: "Je näher dem Brot, umso gesünder", lehrte er in Basel. Das Brot trete die legitime Nachfolge der Muttermilch an, was heute im Brauch des Agathabrotes (Brötchen in Form von Frauenbrüstchen) volkskundlich verbürgt ist. Aus der Brust und dem Brot kommt das, was wir im Innersten lieb haben. Der Agathatag (5. Februar), ist zum Beispiel im luzernischen Michelsamt traditionell der Tag, da die Feuerwehrleute ihr winterliches Festessen nach einem Gottesdienst abhalten. Aus der Brust und dem Brot kommt das, was wir im Innersten lieb haben und lieb behalten. In diesem Sinn ein gesegnetes Neues Jahr 2017, wie immer auch im Gedenken an den Textatelier-Gründer Walter Hess, einen der wertvollsten Menschen und unabhängigsten Bürger, dem ich je begegnen durfte.

 
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