Textatelier
BLOG vom: 27.05.2017

Gedanken über die Biochemie der Liebe

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


In der Dichtung und Literatur, in der Religion, in der Musik aller Art, in Filmen und anderen Medien, der Begriff "Liebe" ist daraus nicht wegzudenken. Doch was ist die so in den höchsten Tönen gepriesene, hochgelobte Liebe?

Seit die Wissenschaft mehr über die Körpervorgänge herausgefunden hat, hat der Begriff ein gehöriges Stück seines Glanzes verloren.

"Der einfache Schluss ergibt sich: jene ganze Literatur, die in guten und schlechten Versen, reiner oder fehlerhafter Prosa uns unablässig von dem Dämon der Liebe, von der Knechtschaft unter das Joch Amors seufzt und die reine, heilige, göttliche Minne preist - jene ganze Literatur ist Produkt einer mehr oder minder entwickelten sexuellen Gehirnschwächung, die täglich weiter um sich greift, je mehr Menschen mit empfänglicherem, für die Gewohnheitslinien des Unterrichts geebnetem Gehirn jene Literatur lesen und wieder lesen."

Dies schrieb schon 1887 der Naturwissenschaftlicher Wilhem Bölsche in seiner Schrift: "Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie".

Das sind harte Worte! Man muss sie nicht übernehmen, besonders, wenn man wirkliche gelungene Verse der Verliebtheit und Liebe vor Augen hat, beispielsweise "Das Hohe Lied Salomons".

"Da sollte man doch Unterschiede machen," könnte man einwenden, "zwischen der mütterlichen und väterlichen Liebe und der Geschlechtsliebe!"

Ist es so? Friedrich Nietzsche betont in einem Aphorismus "Ein Element der Liebe":
"Bei jeder Art weiblicher Liebe kommt auch etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein."

Rudolf Bilz schreibt in seinem Buch "Wie frei ist der Mensch":
"Wir gingen noch einen Schritt weiter in der Feststellung, dass in jeder Geschlechtsliebe überhaupt, also auch der des Mannes, Elemente nährender und bergend-behütender Zärtlichkeit liegen."

Da muss doch klar unterschieden werden zwischen dem Mann oder auch der Frau, der/die zur Triebabfuhr ins Bordell oder sonstwohin geht und denjenigen, die in einer zärtlichen Zweierbeziehung der evolutionären Bestimmung gemäss Nachwuchs zeugen!

Sex ist mehr als nur die Zeugung von Nachwuchs, sondern eine physiologische Notwendigkeit, deren Unterdrückung pathologische Auswirkungen haben kann.

"Das Geschlechtscentrum im geistigen Apparate des Menschen kann erkranken, das ist richtig. Die Liebe kann eine Verrücktheit werden, sie kann vermöge der Trennung von functionirendem Geschlechtsvorgang und nervösem Gehirncentrum eine Geisteskrankheit werden, deren Wahngebilde jede Fühlung mit den wahren Zielen des natürlichen Triebes verlieren.."
(Bölsche, S. 42f.)

Um es ganz klar auszusprechen: "Schmetterlinge im Bauch" und "Herzwärme" sind nur Metaphern für biochemische Vorgänge im Gehirn! Hirnaktivitäten und Hormone sorgen für den Rausch der Sinne. Zuerst einmal sind die Hormonstoffe Testosteron und Östrogen beteiligt.

Und natürlich die Sinne.
Das Auge: Das Aussehen des Partners sorgt für Ausschüttung von Pheromonen, Sexuallockstoffen. Die Nase: Ein winziger Rezeptorbereich in der Nasenschleimhaut, das Vomeronasalorgan (VNO) fängt die Pheromone des Gegenübers auf.
Bereiche im limbischen System, einer Hirnregion, lösen ganz ähnliche Reaktionen aus, wie etwa der Konsum von Kokain. Verliebtheit und Mutterliebe sind fast identisch, wenn man die Hirnaktivitäten  im Bereich zwischen Temporal- und Partiallappen betrachtet, in denen Negativgefühle und kritische Gedanken ausgeschaltet werden. Auch Angst- und Trauergefühle werden unterdrückt.
Das lässt über jeden Fehler hinwegsehen.

Im Belohnungsbereich des limbischen Systems werden Oxytocin und Vasopressin ausgeschüttet, Oxytocin ist das "Kuschelhormon", das für Vertrauen sorgt und dafür, dass eine Bindung entsteht. Damit die Organe mit genügend Blut versorgt werden, ist Vasopressin mit im Spiel, das in den Nervenzellen des Hypothalamus produziert wird. Es sorgt für die Muskelkontraktionen sowohl beim Orgasmus, wie auch bei der Geburt.

Dopamin und Adrenalin sorgen für Glücksgefühle.

Bei Salomon hat noch niemand an diese Hormone und chemischen Stoffe gedacht, die Verbindung von Düften, Blicken und "Liebeszauber" aber durchaus gesehen:

"Verzaubert hast du mich, / meine Schwester Braut; / ja verzaubert
mit einem (Blick) deiner Augen, / mit einer Perle deiner Halskette.
Wie schön ist deine Liebe, / meine Schwester Braut;
wieviel süsser ist deine Liebe als Wein, /
der Duft deiner Salben köstlicher / als alle Balsamdüfte.
Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; /
Milch und Honig ist unter deiner Zunge.
Der Duft deiner Kleider ist wie des Libanon Duft."

Bölsche bringt uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurück:

"Der einfache Realismus, der den Menschen die wahren Kleider des Lebens anzieht, ist noch lange nicht ausreichend zum wirklichen Zweck. Es gilt tiefer zu gehen und die Welt wieder an den Gedanken zu gewöhnen, den sie durch Metaphysik, Sentimentalität und Katzenjammer so vielfach verloren: dass die Liebe weder etwas überirdisch Göttliches, noch etwas Verrücktes und Teuflisches, dass sie weder ein Traum, noch eine Gemeinheit sei, sondern diejenige Erscheinung des menschlichen Geisteslebens darstelle, die den Menschen mit Bewusstsein zu der folgenreichsten und tiefsten aller physischen Functionen hinleitet, zum Zeugungsacte." (Bölsche, S. 45)

Heute denkt man allerdings noch einen Schritt weiter: Sexualität gehört zum Menschen auch über das Ziel der Zeugung hinaus, und zwar bis ins hohe Alter. Die Möglichkeiten der Empfängnisverhütung und Enttabuisierung der Körperlichkeit und der biologischen äusserlichen Vorgänge haben zu einer partiellen Trennung von sexuellem Begehren und Kindeswunsch geführt. Für manchen Zeitgenossen und besonders für die Religionsgemeinschaften ist die Entwicklung schon viel zu weit fortgeschritten, immer freier werden die Möglichkeiten und das Ausleben der Sexualität. Auch die Darstellung nackter Körper in allen Details in den Medien und pornographische Angebote aller Art, etwa im Internet, werden nicht mehr geahndet, so weit sie sich im Rahmen der freiheitlichen Ordnung und Gesetze bewegen.

Wir sind also nach 2000 Jahren wieder bei den alten Griechen und anderen Völkern, die der Sexualität auch in Darstellungen einen grossen Raum geboten haben. Das gilt allerdings nur in den modernen westlichen Gesellschaften.

Bekanntschaften werden immer öfter im Internet gefunden, danach folgt ein Treffen ("dating"), das oft schon beim ersten Kennenlernen zum Geschlechtsverkehr führt. Da bleibt kaum Zeit für eine Phase der Verliebtheit, die sich aber im günstigen Verlauf einstellen kann.

Im Alter werden zwar die Hormone nicht mehr in der Fülle der jungen Jahre ausgeschüttet, aber sie versiegen auch nicht. Erfüllung durch sexuelle Lust hört nicht nach der Familiengründungsphase auf und sorgt sogar für ein längeres Leben. Es trägt dazu bei, dass Zärtlichkeit, Bindung und Nähe noch intensiver erfahren werden können.

Allerdings ist es unabdingbar, in einem vernünftigen Rahmen zu handeln. Auswüchse aus dieser sexuellen Freiheit heraus sind nicht zu leugnen, auch eine gewisse Orientierungslosigkeit hinsichtlich der sich ändernden gesellschaftlichen Meinungen und Auffassungen, wie man sich sexuell verhalten sollte.

Quellen
http://www.focus.de/reisen/zeit-fuer-uns/die-biochemie-der-liebe-beziehung_id_2197673.html
http://www.deutsche-liebeslyrik.de/lied/h_l_einheitsueb_1980.htm

Wilhelm Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887), Deutsche Texte, dtv, München und Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 1976
Bilz, Rudolf, Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 1973

 


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