Die Tat - ein Psychogramm
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache
Es drang noch nicht zu ihm durch, direkt danach, zu benebelt war es in ihm, sein Bewusststein, sein Empfinden, seine Lebensphilosophie, alles war so verschwommen, so fern und unwirklich. Er stand quasi neben sich selbst, das war nicht er, er konnte es nicht sein, zu so etwas war er niemals fähig, seine Hände waren nicht sein zu ihm gehörendes Werkzeug gewesen, wie in einem Rausch war es geschehen. Lange konnte er sich nicht an seine Tat erinnern. Wie auch, offensichtlich war es nicht er, es war sein Avatar, sein Double, sein anderes Etwas in ihm, sein Nebenihm. Was war dieses Fremde, das von ihm Gewalt ergriffen hatte, dass ihn Dinge tun liess, die er in seinem ganzen bisherigen Leben nicht für möglich gehalten hätte, doch nicht von ihm! Das passte nicht zu ihm, das war nicht er. Er, der so sensibel, so sanft, so weich, und doch so bestimmt aufgetreten war, ein untadeliges Vorbild für die anderen, gleichzeitig aber so aufbrausend, so ichbezogen, so nervenschwach.
Ja, er konnte aufbrausend sein, er bezog vieles auf sich, wenn er seine Lebensnormen verletzt sah, seine Ideale, an die niemand rütteln durfte. Aber waren das nicht viele, denen manchmal die Galle hoch schoss, die dann förmlich explodierten, wie bei einem Kessel, dessen Ventil nicht mehr schloss? Hatte er sich bisher nicht immer im Griff gehabt, war niemals übergriffig geworden, hatte sich im Zaum? Das war nicht er, das war ein Dämon in ihm, eine Kraft, die er nicht zähmen konnte, die aus ihm herausbrach, wütete, mit aller Kraft, nicht zu bändigen. Ganz, ganz allmählich drang es zu ihm durch. Es war geschehen, sein innerer Halt war förmlich besiegt worden, wie eine große Menschenmasse, die losstürmt, ohne Rücksicht auf die Gestrauchelten, die unter ihm am Boden lagen, über die weggestiegen wurde, und das Brechen der Knochen und Schädel war nicht zu ihr, der getriebenen Masse Mensch, durchgedrungen. So war es auch bei ihm gewesen, es hatte keine Grenze mehr gegeben, keinen inneren Widerstand, aufgebaut durch Erziehung und Glauben und Verstand, nichts gab es mehr, das ihn gehemmt, abgebremst hätte, ihm Einhalt geboten hätte, das, was ihn auf die Palme getrieben hatte, es musste zerstört werden, ausgelöscht, herausgerissen werden aus seinem Leben, unschädlich gemacht, eliminiert. Nicht nur die emotionale Bindung musste zerstört werden, nichts durfte mehr an diese Person erinnern.
In diesem Moment gab es keinen Ausweg, keine Flucht, keine Alternative mehr. Es drohte ihn zu zerstören, und sein Selbsterhaltungstrieb übersprang alle inneren Hindernisse. Und dann gab es kein Zurück mehr, es musste vollendet werden, alternativlos, alle Normen waren überwunden, das wilde, ungezähmte Tier brach sich den Weg, walzte alle noch glimmenden Widerstände nieder, vollendete die Tat. War das wirklich er? Zu so etwas könnte er unmöglich fähig gewesen sein. Unde doch war es wahr, er konnte es nicht mehr ungeschehen machen.
Erst Stunden, ja Tage später drang es zu ihm durch, er schrie auf, tobte wie ein verwundetes Tier, in tiefster Verzweifelung über sich selbst. Mit der Tat hatte er auch sein eigenes Leben zerstört, so kam es ihm vor, und dass es zu Ende sein sollte mit der Qual. Er dachte an den fallenden Vorhang, an Suizid. Es ging nicht, etwas hielt ihn davon ab. Ja, er hatte Schuld auf sich geladen, grosse Schuld. Und Schuld kann man nicht durch eine andere Schuld sühnen, so empfand er, sondern nur durch Einsicht.
Kaum war es geschehen, schon bereute er die Tat, konnte sich kaum daran erinnern, welcher Teufel ihn geritten, durch welche Schlucht er getrieben worden, durch welche Hölle er gegangen war. Es sollte eine Befreiung werden, von einer grossen Last, die das Opfer von ihm gefordert hatte, aber es wurde eine noch grössere, eine andere. Schuld hatte er auf sich geladen, und er konnte sich nicht mehr davon freimachen, konnte sie nicht abwaschen. Er bereute, quälte sich in purer Verzweifelung.
Als er verhaftet wurde, fand man nur ein Häufchen Elend. Niemand konnte sich vorstellen, dass er das getan haben sollte, was man ihm anlastete. Die Besessenheit war von ihm abgefallen. Zerknirscht war er bereit, die Konsequenzen zu tragen, wollte keine Ausflüchte wahrhaben, wollte sich nicht auf einen Ausnahmezustand seiner psyischen Situation vor der Tat berufen. Er hatte sich schuldig gemacht, wollte nur noch bekennen, sich einfinden in ein Urteil.
Gewiss, das war nicht sein wahres Selbst, aber es hatte in seinem Inneren geschlummert, immer wieder gereizt durch einige Normen, die er von anderen als gebrochen ansah, was ihm innere psychische Verletzungen zufügte, bis es herausbrach, unbändig, ungestüm, unbezähmbar, wie ein Vulkan, der plötzlich und unerwartet seine glühende Lava ausspeit und alles Leben um ihn herum vernichtet..
Und das musste gesühnt werden, musste zu einem Schuldspruch führen. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, so klagte ihn seine innere Stimme, sein Gewissen an. Dabei hatte er doch fest daran geglaubt, dass sie helfen würde, diese inständige Bitte: Und führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich von allem Übel. Er erkannte, es hatte nicht gewirkt, unnütz war das Gebet gewesen, nicht inbrünstig genug, es war nicht erhört worden.
Der Richter verhängte ein lebenslänglich über ihn, mindestens 15 Jahre sollte er im Gefängnis büssen. Und er nahm das Urteil an, liess sich in seine Zelle bringen. Sein Körper litt darunter, zeigte ihm seine Grenzen, verbot ihm bestimmte Lebensmittel, schränkte ihn weiter ein.
Weiterleben konnte er nur durch sein Annehmen, seine Akzeptanz, seine bejahende Zustimmung für das Urteil, aber auch, trotz allem mit seinem Lebensmut, es durchzustehen. Er hatte versagt, und das musste Konsequenzen haben.
Im Gefängnis lebte er sich ein, in dieser so anderen Welt, in der andere Regeln, andere Machtverhältnisse gelten und versucht, die Zeit so aktiv wie möglich zu gestalten. Er entdeckte neue Talente, handwerkliche, aber auch neue Fähigkeiten ins sich beim Umgang mit den Bediensteten und den Mitgefangenen. Die Zeit verging, die Erinnerung an das Geschehene, so weit es in sein Bewusstsein gedrungen war, blieb präsent. Er betete: Vergib mir meine Schuld, aber konnte er sie, die Vergebung, erwarten von der Familie seines Opfers? Er arbeitet an sich, versucht sich in Toleranz und Gelassenheit, soweit sein Charakter ihm das erlaubt. Über seinen Schatten zu springen, das würde er nicht schaffen. Aber eines Tages würde er es neu erleben, das Leben ausserhalb der Gefängnismauern. Der Wahnsinn würde sich nicht wiederholen.
Vielleicht sogar wird er die positiven Seiten dieser Zeit im Gefängnis sehen, dieses Leben, es ist nicht nur ein Dahinvegetieren, es sind neue Einsichten, es sind Kontakte, es sind Freundschaften, die sich ergeben, es sind Lebensinhalte, die sich ihm neu erschliessen. Es sind Erfahrungen, die vorher von ihm nie gedacht und nie gemacht worden waren. Er erkannte, dass auch aus bisher undenkbaren Umständen etwas Gutes erwachsen kann, dass es auch hier Menschlichkeit gibt. Auch das ist Leben, umgeben von Stacheldraht und Mauern findet Leben statt.
Er sieht aus sein Zellenfenster in den Innenhof des Gefängnisblocks, ein Kaninchen hat sich darin verirrt und zieht seine Runden, an den Aussenmauern und am Zellenblock vorbei, bis es erschöpft auf dem Rasen liegenbleibt. Plötzlich ist es verschwunden. Auch er wird irgendwann nicht mehr hier sein, wird durch gitterlose Fenster sehen können, wird sich wieder in der freien Natur ungezwungen bewegen können. Ein erstrebenswertes Ziel, trotz seines fortgeschrittenen Alters. Aber er hofft darauf, ganz fest.
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