Textatelier
BLOG vom: 23.09.2017

Sind wir wirklich „wir“? - Gedanken zur Generalisierung

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Auf einer Postkarte bin ich auf folgenden Text gestossen:

Wir haben größere Häuser, aber kleinere Familien.
Mehr Bequemlichkeit, aber weniger Zeit.
Mehr Wissen, aber weniger Urteilsvermögen.
Mehr Experten, aber größere Probleme.
Wir rauchen und trinken zu viel, aber lachen zu wenig.
Fahren zu schnell, regen uns zu schnell zu sehr auf,
bleiben zu lange wach, stehen müde auf.
Wir lesen zu selten, sehen zu viel fern, beten zu selten.
Wir haben unseren Besitz vervielfacht, aber unsere Werte reduziert.
Wir wissen, wie man seinen Lebensunterhalt finanziert, aber nicht mehr, wie man lebt.
Wir haben dem Leben Jahre hinzugefügt, aber nicht den Jahren Leben.
Wir kommen zum Mond, aber nicht mehr an die Tür des Nächsten.
Wir haben den Weltraum erobert, aber nicht den Raum in uns.
Wir können Atome spalten, aber nicht unsere Vorurteile.

nach Helene Stoll

Auf der Karte wurde noch hinzugefügt:
Es ist an der Zeit, in der es wichtiger ist, etwas darzustellen als zu sein. Wo eine Postkarte einen Text wie diesen in Windeseile in alle Welt tragen kann und wo wir die Wahl haben: Etwas zu ändern, oder das Gelesene ganz schnell zu vergessen.

Wir soll alle Menschen, -die Menschheit- einbeziehen - zumindest alle Menschen, die den Text zu Gesicht bekommen. Wir soll uns vor Augen führen, was wir sind, tun und lassen. Und zudem: Im Hintergrund könnte man die Aussage herauslesen: ... als früher. War das wirklich so? Wird hier nicht gewaltig romantisiert?

Und: Fühlen Sie sich wirklich angesprochen?

In meinen eigenen Texten versuche ich, wir und man zu vermeiden. Das ist mir zuviel Generalisierung, Über-einen-Kamm-scheren, Gleichmacherei.
Ich bin nicht Wir, ich bin nicht man, ich bin ich!

Hinzu kommt noch der, wie ich es nenne, pädagogische Zeigefinger.
Hier schreibt jemand: Wir leben falsch, unsere Lebensweise muss sich ändern, erst dann erlangen wir ein lebenswertes Leben.

Was bedeutet in dem Text, etwas darstellen?

Erich Fromm schrieb sein bekanntes Werk: Haben oder Sein - Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft im Jahr 1976. Auch er plädiert für ein anderes Leben.

Am Ende seines Werkes arbeitet Fromm Gemeinsamkeiten derjenigen Denkweisen heraus, die sich vom Gedanken des Habens gelöst haben und sich der Sicht des Seins verpflichtet fühlen. Dieser Geist des Seins zeichnet sich durch folgende Punkte aus:

  1. die Produktion habe der Erfüllung der wahren Bedürfnisse des Menschen und nicht den Erfordernissen der Wirtschaft zu dienen
  2. das Verhältnis der Ausbeutung der Natur durch den Menschen wird durch das der Kooperation zwischen Mensch und Natur ersetzt
  3. der wechselseitige Antagonismus zwischen den Menschen ist durch Solidarität ersetzt
  4. oberste Ziele des gesellschaftlichen Arrangements seien das menschliche Wohlsein und die Verhinderung menschlichen Leids
  5. maximaler Konsum ist durch einen vernünftigen Konsum (Konsum zum Wohle des Menschen) ersetzt
  6. der einzelne Mensch wird zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben motiviert

   (nach Wikipedia)

Die Maximen hören sich alle vernünftig an. Aber die Welt wird nicht mit Vernunft regiert. Wie heisst es in der Bibel:
Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!

Von Vernunft ist nicht die Rede! Das hört sich nicht so an, wie die Maximen oben im Text! Herrschen sollen die Menschen! In unserem Weltwirtschaftssystem und Globalismus herrschen wenige über viele. Verhalten die sich jetzt gemäss der Bibel?

Also: Wie lebt man richtig?

Jeder Mensch hat seine ihm eigene Sicht auf das Leben und wie es gestaltet werden sollte, könnte oder gewünscht wird. Das hat nicht zuletzt auch etwas mit unserer Abstammung und Herkunft zu tun, mit unseren Genen und unserer Sozialisation.

Ich bestimme, so weit es in meiner Macht steht, wie ich lebe! Und das unterscheidet sich und mich von dem obigen Wir ganz gewaltig! Und: ganz ohne moralisch-pädagogischen Zeigefinger!

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Haben_oder_Sein  

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst