Stefan Sonderegger (1927 – 2017), Sprachforscher aus Herisau
Vatter vo üüs ale im Himmel, heilig seg üüs Din Name. Dis Riich söll zo-n-üüs here choo. Din Wile söll gelte im Himmel ond of de Welt. Geb üüs hüt för dè Taag s Broot. Vergeb üüs, wo mer gfäält hend, so wie meer dene vergend, wo gegen üüs gfäält hend. Loo üüs nüd versuecht see, nää, lös üüs vom Bööse. Denn Deer ghöört d Gwalt ond d Herrschaft ond d Herrlechkeit öber ali Zite.
Stefan Sonderegger: „Appenzeller Sein und Bleiben“, 4. Auflage 1986
Man muss im Appenzeller Geistesleben mutmasslich Jahrzehnte zurückgehen, um einen vergleichbar markanten und nachwirkenden Geist auszumachen wie den Sprachmeister Stefan Sonderegger, den im Sinn und Geist der Brüder Grimm wohl bedeutendsten Germanisten der Schweiz. Dass indes bei der Abdankung des bedeutenden Mannes die reformierte Kirche von Herisau – unbeschadet der Präsenz von zwei Alt-Bundesräten – nur halb gefüllt war, erinnert bei allen sonst beträchtlichen Unterschieden an den einzigartigen, zu Lebzeiten aber doch massiv unterschätzten Robert Walser, den Lieblingsschriftsteller von Alt-Bundesrat Hans-Rudolf Merz, der auch Stefan Sonderegger die letzte Ehre gab. Desgleichen wie Sondereggers Nachfolger und ehemalige Assistenten Harald Burger, Elvira Glaser, Victor Weibel, Roland Zanni, Alexander Schwarz, unter den Literatinnen Hildegard Elisabeth Keller. Aus dem Kreis des St. Galler und Appenzeller politischen und gesellschaftlichen Establishment sprach der ehemalige CEO des St. Galler Tagblattes, Peter Kleiner, einen bewegten und bewegenden Nekrolog.
Trotz seines hohen Alters erfolgte das Ableben des wegweisenden Erforschers von „Deutsch in der Schweiz“ (Schweizerdeutsch, Schweizerhochdeutsch, Althochdeutsch, Namenkunde, historische Sprachforschung) ziemlich unvermittelt. Noch im Herbst war er ins östliche Mittelmeer verreist. Der in Herisau verstorbene Gelehrte galt als der schweizerische Deutschkenner schlechthin. Gemäss dem langjährigen Ordinarius für Germanische Philologie (1964 – 1994) an der Universität Zürich muss Deutsch in der Schweiz als „Triglossie“ verstanden werden, nämlich die umgangssprachlich dominierende je regionale Mundart im Spannungsfeld zu Hochdeutsch und Schweizerhochdeutsch, was sprachgebräuchlich eine deutliche Abgrenzung zumal Deutschland gegenüber mit sich bringt.
Stefan Sonderegger wurde am 28. Juni 1927 in die in Herisau sesshafte Appenzeller Stickerei-Dynastie Albin Sonderegger hineingeboren. Dass der Neffe des aus der Zeit des Generalstreiks umstrittenen Oberstdivisionärs Emil Sonderegger (1868 - 1934) als Milizoffizier bis zum Rang des Brigadiers und zum Chef des Informationsdienstes der Armee aufstieg, wäre heute für einen bienenfleissig publizierenden Gelehrten kaum mehr denkbar. Die Leistungsansprüche des Verstorbenen als Verfasser von Standardwerken zur Sprachgeschichte, dem Althochdeutschen einschliesslich der St. Galler Kulturgeschichte („Althochdeutsch in St. Gallen“) sowie in Namenforschung, Geschichte der Germanistik und der entsprechenden Methodik würden heute vielleicht drei bis vier Professorenstellen ausfüllen.
Sondereggers Vorbild waren in vielem die Brüder Grimm mit ihrem Ausgangspunkt unermüdlicher historischer Sprachergründung. Der Grimm-Preis der Philips-Universität Marburg waren insofern eine „logische“ Ehrung, sowie der von Alfred Toepfer gestiftete Oberrheinische Kulturpreis der Goethe-Stiftung Basel. Die Kantonsbibliothek Vadiana veranstaltete vor 10 Jahren zu Ehren von Stefan Sonderegger eine Ausstellung. Dabei wurde auf das seltene Werk „Der appenzellische Sprachschatz“ (1837) von Titus Tobler hingewiesen, Sondereggers Vorgänger in der Erforschung des Appenzellischen. 2012 ist das dreibändige Werk „Die Flurnamen des Landes Appenzell“ erschienen, worauf Sonderegger schon in seiner Dissertation bei Rudolf Hotzenköcherle (1903 – 1976) hingearbeitet hatte. Sonderegger wurde als Hotzenköcherles Nachfolger einer der wichtigsten Repräsentanten der Sprachgeographie in der Deutschschweiz und wohl deren brillantester Vertreter und Anreger. Grosse Arbeiten etwa von Eugen Nyffenegger und Oskar Bandle zum „Thurgauer Namenbuch“ wären ohne Sondereggers Impulse kaum in dieser Qualität möglich geworden. Ähnliches gilt „Schwyzer Namenbuch“ von Sondereggers einstigem Assistenten Victor Weibel, der auch die grundlegenden Recherchen zum vierbändigen „Urner Namenbuch“ (Herausgeber Albert Hug) geleistet sowie die Publikationen zur Luzerner Namenforschung von Erika Waser begleitet hat. Massgeblich dank Sonderegger kam es in nicht wenigen Deutschschweizer Kantonen über die letzten vier Jahrzehnte zu einer enzyklopädisch und kulturhistorisch angelegten Bücher-Ernte im Bereich der Namenkunde. Der Begriff der „Lese“ kehrte gleichsam zu seiner Ur-Bedeutung zurück.
Überdies war Stefan Sonderegger der wahrscheinlich beste Kenner fast aller deutschen Versionen des Vaterunsers, vom Gotischen des Bischofs Wulfila aus dem Codex Argenteus von Uppala bis zum St. Galler Paternoster von 790, Notker von St.Gallen, Luther, Zwingli, nicht zu vergessen die Gegenwart. „Loo üüs nüd versuecht see“, formulierte Sonderegger den umstrittensten Gebetsvers im selber übertragenen appenzellischen Unservater, zuletzt veröffentlicht in der „Appenzeller Anthologie“ (2016). Wenn es einer noch besser gewusst hätte als der Papst, der sich soeben kritisch über das deutsche Vaterunser ausgelassen hat, dann Sonderegger. Die theologisch heikle Frage, ob Gott uns in Versuchung führe, Gotisch „ ni briggais“ (bringe uns nicht), oder ob es sich – theologisch näher liegend - um eine „Zulassung“ handle, hat Stefan Sonderegger in seiner volkskundlichen Studie „Appenzeller sein und bleiben“ bereits 1973 einer überzeugenden Lösung zugeführt. Weder führt uns gemäss Appenzeller Version des „Vater vo üss allne“ der von Jesus angesprochene Vatergott in Versuchung, noch sind wir derselben rein passiv verfallen. „Versuecht see“ scheint gemäss Sondereggers Übersetzungskunst eine Lebenslage der menschlichen Existenz zu sein. Für den Grossmeister germanischer Philologie setzten Notker der Deutsche von St. Gallen (gest. 1022) und Martin Luther deswegen Massstäbe in Übersetzung und Vermittlung der Bibel, weil sie fundierende theologische und philologische Kenntnisse mit genialer Sprachkompetenz zu verbinden wussten.
An Begeisterungsfähigkeit war der beredsame und humorvolle Appenzeller, 1980 bis 1982 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, den prominenteren, zum Ruf von Literaturpäpsten gelangten Neugermanisten Emil Staiger und Peter von Matt ebenbürtig. Als unermüdlich schaffender „Philologe im Kieswerk“ stand er jedoch selten im Fokus der Öffentlichkeit. Trotzdem gilt er als Legende in der Geschichte der Schweizer Germanistik. Dieselbe hat er wie wenige aufgearbeitet, so mit Forschungen über den Ostschweizer Melchior Goldast von Haiminsfeld, den Luzerner Franz Josef Stalder (Gründer des Schweizerischen Idiotikons) sowie den drei je auf einander folgenden gleichnamigen Basler Rechtshistorikern, Germanisten und Volkskundlern Andreas Heusler. Sprachwissenschaft auch als Darstellung lokaler und nationaler Identität betrieb Sonderegger jenseits von Chauvinismus. Das „Identitäre“ verkörperte sich für ihn stets im konkreten Detail vor Ort. Dabei hat sich der Verstorbene als einer der besten Kenner der Sprachtraditionen von Kloster und Stadt St. Gallen ausgewiesen. Nicht zu verwechseln bleibt er mit dem gleichnamigen St.Galler Stadtarchivar und Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Zürich, dem Historiker Stefan Sonderegger.
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