Der ungesicherte Auffahrtsumgang
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH
(Bild: E. Langjahr)
«Auf dem Spiel steht die qualitative Lebenszeit von uns allen.»
Nach diesem Motto meldet sich der langjährige Mitarbeiter dieser Kolumne, Pirmin Meier (Aesch LU) nach längerer Pause wieder zu Wort. Der abgesagte Auffahrtsumritt von Beromünster, vgl. den ebenfalls ausfallenden Blutritt von Weingarten (Baden-Würrtemberg) vom kommenden Freitag, ist für den Auto ein Anlass für ein Plädoyer für individuelles «betrachtendes Wandern». Es ist zugleich eine historische Skizze über einen der populärsten religiösen Volksbräuche in der Schweiz.
Im Revolutionsjahr 1798 stand der Auffahrtsumritt wie nie sonst auf des Messers Schneide. Es war nicht der Weltuntergang. Aber die Herrschaft des Propstes von Münster im Aargäu (er meldete dann Konkurs an) war zu Ende. Im liberal gewendeten, nunmehr schon seit Generationen luzernischen Beromünster wurde um den Freiheitsbaum getanzt. Mit der Revolution fand die Epoche der Stifte ihr vorläufiges Ende: Die materielle Basis fehlte: der Zehnten, damals Staats- und Kirchensteuer. Auch waren die Geistlichen ihrer Stellung als quasi Halbgötter enthoben.
Ohne den Widerstand eines tapferen Laien, nämlich Niklaus Wolf von Rippertschwand (siehe sein Porträt in der Pfarrkirche St. Stephan Beromünster), gäbe es den Auffahrtsumritt nicht mehr. Der Brauch wäre, wie einst der von den Reformierten abgeschaffte Stadtbasler Umritt (das einstige Vorbild der Luzerner), den Zeitumständen zum Opfer gefallen.
Dass der Umritt mit Hufgetrappel, Fahnen, Blechmusik, himmlischen Messgewändern, Herumpredigen und Segnen mit barocker Pracht dieses Jahr nicht stattfindet, ist ebenfalls kein Weltuntergang. Die Weiterführung des Brauchtums steht nicht zur Disposition. Wenn in Moskau erstmals die Siegesparade nicht stattfand, der Papst in Rom vor seinem Petersplatz allein blieb, kann Beromünster (von einem Kardinal aus der Barockzeit «ein anderes Rom» genannt, gleichfalls auf Prachtentfaltung verzichten. Empfehlungen der zuständigen Behörden und des Präsidenten der Kirchgemeinde Beromünster werden von mir nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
Warnungen aber an unentwegte Wanderer und Beter, dass «keine Sicherung durch die Polizei» bestehe, stehen für ein Hauptmerkmal der Corona-Krise: Vollkasko-Mentalität. Gemäss derselben hätte auch für die oft weissbärtig dargestellten Greise Petrus und Paulus gelten müssen: Bleiben Sie zu Hause! Desgleichen für die Gläubigen, welche sich von Revolution, Kriegen und zumal «Pest und Not» vom alljährlichen Umgang nicht abhalten liessen. An fatale Dezimierung der Bevölkerung erinnern im Kanton Luzern Pestsäulen. Auf denselben werden die Namenstag-Heiligen der Stifter zum Schutz angerufen.
Die Empfehlung des einheimischen Kirchgemeindepräsidenten, «Fensteraltärchen oder die eigene private Wegkapelle zu schmücken» betrifft einen unterschätzten Bereich der verfassungsmässigen Religionsfreiheit. Privatkapellen und Scheunen waren, – wie im Jura nach 1870 – , als im Kulturkampf die Priester vertrieben wurden, schon mal eine letzte Zuflucht des Glaubens. Nicht gerade apostolisch wirkt aber die aktuelle Warnung, «auf Auffahrtskränze zu verzichten. Einerseits erfolgt kein Segen darunter. Andererseits könnten Kränze die Menschen animieren, sich trotzdem auf den Weg zu machen.» Beromünsters Dichter des Aufbruchs, Josef Vital Kopp, mag sich im Grabe umgedreht haben. Krasser hätte man die Botschaft und zumal die Bildsprache seines Lebenswerks nicht in ihr Gegenteil verkehren können.
Dass die gegenwärtige «Situation», wie in Todesanzeigen zu lesen steht, zu schmerzlichen Verzichten nötigt, bedarf keiner hysterischen Kritik. Gesundheitsgeneral Berset als Bundesrat und der Präsident der Kirchenpflege Beromünster als Gesundheitsökonom verdienen für ihre Absichten Respekt. Dass in Bersets Kanton Freiburg der monatliche Gottesdienst im Gedenken der heiligen Marguerite Bays (mit taktiler Krankensegnung) ausfällt, erscheint zwingend. Trotzdem fanden sich jeweils, am 27. des Monats, dem Kult-Tag der Heiligen, eine Anzahl jüngere und ältere Betende ein, zum Teil mit Schutzmasken, am Grab der 2019 Heiliggesprochenen in der weiträumigen Kirche von Siviriez/FR. Dass diese Unentwegten den Wert des menschlichen Lebens weniger hochhalten würden als andere, war von ihrem Verhalten her nicht ersichtlich. Die brennenden Votivkerzen ersetzten das Weihwasser.
Als vor 2 Jahren bei seiner Ansprache in Beromünsters Stephanskirche (2018) der behördliche Redner den Auffahrtsumritt mit einer «Huldigung an die Natur» verwechselte, lag er ähnlich daneben wie viele mit dessen Herabwürdigung zur Folklore. Zumal der Rosenkranz, der substanzielle Beitrag der Pilger, hat mit derlei nichts zu tun. Das betrachtende Gebet bleibt dem vermissten Segen gleichwertig. Für die liebevoll gemachten Kränze - nicht subventionierte Hochkultur! - würde das Wort des heiligen Thomas von Aquin gelten: «Ohne eine gewisse Schönheit würde das Leben des Menschen nicht lange währen.» Auf dem Spiel steht die qualitative Lebenszeit von uns allen.
Wer sich in Beromünster am Auffahrtstag «trotzdem auf den Weg» macht, tut dies wie beim Entscheid für Glauben oder Unglauben, nun mal ungesichert: «Betreten des Geländes auf eigene Gefahr». Wandern, Beten und Betrachten im gebührenden Abstand ist auch keine verbotene Versammlung: nur Wahrnehmung eines elementarsten Grundrechts. In Beromünster und allenthalben ist allen, auch den zu Hause Bleibenden, «e schöni Uffert!» zu wünschen.
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