Textatelier
BLOG vom: 06.06.2020

Zeitzeuge Pirmin Meier: Judengeschichte, Presse, Verfassung

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Auf youtube https://youtu.be/waYWiiH-Ntw  ist seit Juni 2020 ein von den Historikern Fabian Saner und Titus Meier behutsam vorbereitetes mehr als einstündiges Interview mit dem Historiker und Autor Pirmin Meier (*1947) abrufbar. Es enthält dokumentarische Aussagen über das Verhältnis Christen – Juden im unteren Aaretal, die Geschichte der CVP im Aargau und in der Schweiz, die aargauische Pressegeschichte über die «Botschaft» (gegründet 1856 von Johann Nepomuk Schleuniger), das «Aargauer Volksblatt» mit seinen legendären Redaktoren Johann Baptist Rusch und August Bärlocher, das Badener Tagblatt mit den Pressepionieren Otto Wanner und Christian Müller, das Aargauer Tagblatt mit dem seinerzeitigen Chefredaktor und Verfassungspolitiker Samuel Siegrist. Mit porträtiert wird der bekannte «Überfremdungspolitiker» James Schwarzenbach, mit dem Autor Pirmin Meier zwischen 1964 und 1973 (als späterer scharfer Kritiker) in einer biographisch denkwürdigen Beziehung stand.

Der Hauptteil des Interviews ist der Geschichte der Totalrevision der aargauischen Kantonsverfassung von 1972 (Grundsatzabstimmung mit umstrittener Staatspropaganda), 1973 (Wahl des Verfassungsrates), 1979 (Ablehnung des 1. Verfassungsentwurfs durch das Stimmvolk bei sehr niedriger Stimmbeteiligung) und 1980 (Annahme der Kantonsverfassung). Der formal ausgefeilte, jahrelang ausgebrütete Text erhielt Einfluss auf die Bundesverfassung von 1999. Zu erwähnen sind der einleitende Grundrechtskatalog wie einzelne Bestimmungen, etwa «Würde der Kreatur». Dieser Begriff ist via den Kanton Aargau ins eidgenössische Verfassungsrecht eingebracht worden. Dafür erhielt, als seinerzeitiger erster Antragssteller, Pirmin Meier (1973 – 1980 Mitglied des aargauischen Verfassungsrates) 2015 eine Auszeichnung aus Tierschutz-Kreisen

 

1291 Seiten Protokolle

Pirmin Meiers Interview, für das er die 1291 (!)  Seiten Protokolle der aargauischen Verfassungsrevision von 1973 – 1980 sorgfältig konsultierte, ist keine Selbstdarstellung, sondern eine Würdigung der bedeutendsten damaligen Protagonisten, allen voran Verfassungsratspräsident, Nationalrat und Ständerat Dr. Julius Binder (CVP Baden), der 1964 mit einer epochalen Motion in Bern den Umweltschutz ins schweizerische Verfassungsrecht überführt hat. Desgleichen wird gezeigt, wie bedeutende Aargauer Politiker, später oftmals Regierungsräte und im Eidg. Parlament, als Verfassungsväter ihr späteres Profil erarbeitet haben, so Thomas Pfisterer (Regierungsrat, Bundesrichter, Ständerat), Anton Keller (Nationalrat), Kurt Wernli (Regierungsrat) und als Verfasser der gewichtigsten einflussreichen Vernehmlassung Ulrich Siegrist (später Regierungsrat und Nationalrat). Das stärkste Gewicht für Ausformulierung der Kantonsverfassung hatten am Ende aber der Staatsrechts-Professor Prof. Dr. Kurt Eichenberger und Bundesrichter Carl Hans Brunschwiler als die eigentlichen Verfassungsredaktoren. Unter den ebenfalls nicht unbedeutenden «Verfassungsmüttern» von 1973 – 1980  nennt Pirmin Meier die Nachkommin des Vizepräsidenten des Verfassungsrates von 1831, Heinrich Zschokke (SP) , Ruth Zschokke, die CVP-Politikerinnen Katharina Herzog und Rosa Eichholzer, und die als «damals zu gescheit für den Regierungsrat» bezeichnete FDP-Juristin Dr. Isabell Mahrer aus dem Fricktal.

 

«Nicht sesshafte ethnische Minderheiten»

Im Vorfeld wie auch bei der Ausarbeitung der Verfassung spielten immer wieder auch politische Aussenseiter eine erstaunlich starke Rolle, so der frühere Pfarrer und Werbefachmann Jakob Hohl und in einem ganz speziellen Fall der Badener Altapotheker Dr. Edmund Zander: ihm ist die vermeintliche Kuriosität der Berücksichtigung «nicht sesshafter ethnischer Minderheiten» in der Aargauer Kantonsverfassung zu verdanken, ein zumal symbolpolitisch nicht unbedeutender Artikel. Über die Umsetzung der Verfassung nach ihrer Annahme (ebenfalls bei schlechter Stimmbeteiligung) äussert sich unter «Zeitgeschichte Aargau» der ehemalige Grossrat, Nationalrat und Wettinger Alt-Vizeammann Heiner Studer in  präziser Würdigung, was eine Kantonsverfassung heute noch bedeuten kann und wie der Regierungsrat schon kaum nach ihrer Annahme versuchte, die neuen Volksrechte in Sachen Finanzen mit den berüchtigten «Finanz-Delegationen» in Gesetzen postwendend wieder zu umgehen. Studer verweist auch darauf, dass «grüne» Anliegen längst vor der Gründung einer gleichnamigen Partei im Aargau vertreten wurden, zum Beispiel durch EVP-Politiker und Vogelschützer Jakob Zimmerli.

Die Serie der schon etwas früher geschalteten Zeitzeugen-Interviews umfasst u.a. noch Gespräche mit der Künstlerin Heidi Widmer (Wohlen), dem Fricktaler Urgestein (Gemeindeschreiber, Grossrat, Nationalrat) Peter Bircher und dem Kenner der Lokalgeschichte des Klosters Muri, Dr. med. Urs Pilgrim. Zu den Berichterstattern aus dem Verfassungsrat gehörte in den Siebzigerjahren Walter Hess, damals Redaktor des freisinnigen Aargauer Tagblatts und nachmaliger Gründer des Textateliers. Die freundschaftliche Verbindung von Autor und Alt-Verfassungsrat Pirmin Meier (der für das katholische Aargauer Volksblatt schrieb) und Walter Hess geht auf jene Zeit zurück. Hess berichtete damals im westlichen Kantonsteil, für das Badener Tagblatt aber der für seine kritische Berichterstattung geradezu berüchtigte Kurt Schneider, genannt «Rüebliländer» und für die SP-Zeitung «Freier Aargauer» der spätere Regierungsrat Silvio Bircher.

Zeitgeschichte Aargau: Pirmin Meier: https://youtu.be/waYWiiH-Ntw 

Der «gut gemachten» Reihe eines Teams von jüngeren Historikerinnen und Historikern ist eine erspriessliche Fortsetzung von «Zeitgeschichte Aargau» zu wünschen. Das lange Interview mit Pirmin Meier, historisch in fast jeder Minute ergiebig, ist am besten in zwei bis drei «Etappen» zu geniessen. Aufgenommen wurde es in der Wohnstube von Meiers verstorbenem Bruder Fritz Meier (1836 – 1992) in Würenlingen bei dessen Witwe Rita Meier. Über die Aktivitäten des Aargauer Verfassungsrates hat schon damals der dieser Behörde angehörige Gärtnermeister Anton Möckel (Würenlos) Filmaufnahmen gemacht, deren Einstellung auf youtube ebenfalls wünschbar wäre.   

 


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