Heilpflanzenkunde nach Paracelsus – eine Kostprobe
Vorauszuschicken ist, dass für die ältere europäische Medizin aus der Frühzeit der Buchdruckerkunst Leonhard Fuchs, Hieronymus Bock, Adam Lonitzer, Tabernaemontanus und andere als Klassiker zu gelten haben. Einige dieser Werke sind in Beromünsters musealen Sammlung «Dolderhaus» einzusehen. Demgegenüber hat sich Paracelsus nur zerstreut über seine Vorlesungen, sein Gesamtwerk (etwas «Grosse Wundarznei» von 1536), sodann mit zwei eher kurzen Abhandlungen aus den 1520er Jahren explizit über Heilmittelbotanik, auch die diesbezügliche mehr «magische» Medizin, ausgelassen. So zum Beispiel über die angeblich kraftübertragende Wirkung der Engeldistel.
Von hohem volkskundlichem Interesse scheint mir der Hinweis auf Präparate von Wasserpfeffer (polygonum hydropiper) zu sein. In der Frühschrift «Herbarius» ist die Rede von Wundbehandlung bei Gefangenen und beim Vieh. Vorwiegend geht es um «offene Schäden» derjenigen, «die im Gefängnis lagen und von den Ketten aufgefressen sind, oder die krank sind, auch andere offene Schäden mehr, wie die an Beinen oder Armen sind, ist das Kraut ihrer aller Arznei.» Dabei ist von populären Anwendungen nicht zuletzt bei Heilerinnen die Rede: «Nämlich man nimmt das Kraut und ziehts durch einen frischen Bach, darnach legt mans auf dasselbe (Körperteil), das man heilen will, so lange, wie einer ein halbes Ei isst. Darnach vergräbt man’s an einem feuchten Ort, damit es faul werde, so wird der Schaden in der selben Zeit gesund.» Er erwähnt überdies, dass beim Therapieren noch ein Kreuz gemacht und etliches gebetet würde: «aber solches ist alles von unnöten, gehört nit dazu, denn es ist ein natürliches Wirken all da, das es natürlich tut, nit abergläubisch und zauberisch.» Die Wirkung dieser «Therapie» wird interessanterweise nicht «chemisch» gesehen, sondern in der Art der Magnetopathie. Eine Art Berührungswirkung durch «Ziehen» beziehungsweise «Ausziehen» des psychophysischen «Krankheitsstoffes».
Aus heutiger Sicht noch von Interesse wirkt die Empfehlung des Hydropipers, bei Paracelsus «Persicaria» genannt, als Zahnwasser für die Zahnmedizin bei sogenannten «kalten Zahnflüssen», was man heute auch bei gewissen Zahnbehandlungen (ohne Spritze) verspürt, generell das Kältegefühl beim Zahnweh. Dabei wird abermals das Vergraben des Krautes empfohlen, wohl für eine Art Gärungsvorgang. Ausserdem schreibt er: «Es ist in Persicaria auch eine starke narkotische Eigenschaft, so dass sie in alle grossen Hitzen, die zum Tode führen, diese stillt und gesund machte, wie zum Beispiel in allen Hauptweh, Mania, Phrenesie und dergleichen, oder wo der Leib in einer Krankheit so sehr infiziert wäre, dass nichts mehr helfen helfen möchte, da ist Persicaria die letzte und beste Löschung, inwendig einzunehmen.»
Zu den weiteren von Paracelsus ausführlich beschriebenen Heilpflanzen gehören das (derzeit blühende P.M) Johanniskraut als klassisches Wundmittel, was schon die Rotfärbung beim Zerreiben der Blüten andeutet: ein Beispiel für die Illustration der sog. Signaturenlehre. Dies wird in den von Erich Langjahr getätigten, aber noch nicht veröffentlichten Film-Aufnahmen im Kräutergarten der Johanniterkommende Bubikon noch ebenso illustriert wie am Beispiel der Zitronenmelisse.
Hohe Stücke hält Paracelsus auf das Schöllkraut als Mittel gegen «Farbkrankheiten», zumal die Gelbsucht; bei schwerem Zahnweh die Bilsenkrautrinde, natürlich als Schmerzmittel; ergänzt durch Hauswurzwasser und «Nachtschattenwasser», wobei hier indes eine Vergiftungsgefahr einzukalkulieren ist. Berühmt, sogar durch satirische Verspottung, wurden in Basel die diversen Nieswurz- bzw. Christrosenpräparate, die in den Vorlesungen des Theophrastus von Hohenheim (1493 – 1541), des sog. «Waldesels aus Einsiedeln», regelmässig präsentiert werden.
Zur Präparation der Heilpflanzen bei Paracelsus muss man sich aber nicht blosses «Vergraben» vorstellen. Es geht vielfach wie folgt:
- Frische Pflanzen zu Brei stossen
- Brei 4 Wochen etwa bei tierisch-menschlicher Körpertemperatur bzw. wenig darüber gären lassen
- Abdestillieren und den Rückstand verwerfen
- Zum Destillat frische Pflanzen hinzufügen und 6 Tage bei bis zu gut Fiebertemperatur (max. 40°) gären lassen.
- «segregirs per balneum», also nach dem Motto «solve et coagula», löse auf und setze neu zusammen, gemäss Dieter Schmaltz (1941) eine Anweisung zum Eindampfen im Wasserbad.
- Abpressen des Rückstandes, 4 Tage stehen lassen zum Absetzen.
Der mir noch persönlich bekannte einstige Chefapotheker bei Weleda (Arlesheim), der als Medizinhistoriker bewährte Willem F. Daems, hat in einem grundlegenden Aufsatz (publiziert in Bd. 3 Neue Folge Nova Acta Paracelsica 1988) dargetan, wie sehr die Lehre von den Signaturen (eine noch «vorchemische» Theorie der Heilung) von einem komplizierten Geflecht des Verständnisses von Mineral, Tier und Pflanze zu deuten ist, wobei es jedesmal um die Beziehung zum Menschen geht. Wer die Zeichen aus der Pflanze lesen will, muss in ihnen das Zeichensystem (die Semiotik) verstehen, so weit dasselbe in Analogie einen Bezug zur menschlichen Leiblichkeit hat. So etwa die Melisse als «fräuische Arznei», ein Mittel also, spezifisch für Frauen und Frauenkrankheiten; womit ich nicht gleich Werbung machen will für den legendären «Klosterfrau-Melissengeist», von dem es hiess: «Nie war er so wertvoll wie heute.»
Blätter mit hautartigen Rillen, Röte bei Zerreiben usw.
Wer die Botschaft aus dem Pflanzenreich wirklich zur Anwendung bringen will, muss in den Pflanzen die Buchstaben sehen, die das menschliche Wesen ausdrücken. Man muss zumal auf den Zeitpunkt acht geben, dem die Pflanze entgegenwächst. Mein verstorbener väterlicher Freund Daems drückte es so aus: «So wartet die Kamille auf den Abruf, auf den Moment, da sie zur Heilung des im Menschen gestörten Kamillebildungsprozesses benötigt wird.» Dies bedeutet nun mal eine Analogie Natur – Mensch. Der «Kamillebildungsprozess» in der Natur in seiner entsprechenden Wirkung auf den «Kamillebildungsprozess» im Menschen. In der Zeichensprache des Paracelsus liest sich dies, in der verstehenden Übertragung durch Daems, wie folgt: «Ich habe alle Wesen betrachtet: Stein, Pflanze und Tier, und sie sind mir wie zerstreute Buchstaben erschienen, im Vergleich zu denen der Mensch das vollständige, lebendige Wort ist.»
Mangels Kompetenz ist es mir persönlich nicht möglich, dieses zum Teil archaische, zum Teil durchaus abendländische Denken von Paracelsus mit der indischen Siddha-Medizin zu vergleichen. Auf Anfrage gab ich folgende vorläufige Auskunft betr. Paracelsus und Indien:
«So weit ich weiss, war Paracelsus nie in Indien, so wie er sich gemäss meinem Nachweis laut meinem Vortrag in St. Petersburg vom 29. August 2018 mutmasslich nie in Russland aufgehalten hat. Aber Indien wäre natürlich durchaus ein Thema. So ist zum Beispiel bei ihm mal von einem "indischen Sabbath" die Rede, den man nicht mit dem westlichen verwechseln dürfe. Ferner wird in der heilmittelbotanischen Schrift Von den natürlichen Dingen war die indische Apotheke genannt; es sei aber klüger, in der Art einer Jungfrau statt in die Weite zu blicken vor seine eigenen Füsse zu sehen und zu erkunden, was unmittelbar vor einem wachse. Dies bedeutet also eher eine Distanzierung von einer allfälligen Indischen Arznei. Dies handhabte Paracelsus auch gegenüber der westindischen Arznei gleich; ist im Zusammenhang mit dem Gujakholz, dessen Wirkung er zum Ärger des damaligen Importgeschäftes für überschätzt hielt. Noch interessant bleibt, dass der Kalenderverfasser Paracelsus (der Name taucht erstmals in dieser Eigenschaft auf) für die Zeit der 1530er Jahre für Deutschland und auch Indien (!) Unruhen vorausgesagt hat. So steht es in einem Entwurf zu einer Kalenderschrift. Noch interessant wäre zu erkunden, wie weit Indien in den von Urs Leo Gantenbein neu herausgegebenen theologischen Schriften des Paracelsus vorkommt. Ich schliesse nicht aus, dass man, analog zum von mir bereits angegangenen türkischen Paracelsismus des 17. Jahrhunderts, bei Forschungen in Indien selber noch fündig werden könnte. Aber wohl kaum jenseits von Einflüssen aus der portugiesischen und britischen Kolonialzeit.»
Die Zurückhaltung des Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus gegenüber dem Guyak-Holz aus Westindien und gegenüber der "Indischen Apotheke" beruht auf einem einzigen Hauptargument: Gott habe für alle Krankheiten vor Ort beziehungsweise in ihrem Land Heilmittel geschaffen, die der kundige Arzt und Apotheker zu finden hätten. Dies galt gemäss Paracelsus auch für die berüchtigte, zum Teil wohl von Kolumbus aus den entdeckten Inseln eingeschleppte Syphilis, welche 1494 schon recht verbreitet war, deren Erreger sich allerdings explosionsartig vermehrte. Paracelsus war jedoch im Gegensatz zur Mehrheit der damaligen Experten davon überzeugt, dass die Krankheit in Europa schon um 1480 aufgetreten sei. Damit begründete er seine und seiner Lehrer Leonicenio und Manardi vertretene Auffassung, der Krankheit mit Quecksilberkuren zu Leibe zu rücken. Paracelsus starb am 24. September 1541 gemäss Knochenbefund nachweisbar an einer Quecksilbervergiftung, aufgrund derer im u.a. fast alle Zähne ausgefallen waren. Über den Schauplatz des Todes von Paracelsus in Salzburg habe ich Ende vergangenen Monats mit Erich Langjahr und dessen Frau Silvia Haselbeck dokumentarische Filmaufnahmen gemacht. Nebst der Syphilis ist für die damalige Bezeichnung "Französische Krankheit" nach neueren Forschungen auch die sog. Frambösie in Betracht zu ziehen.
Literaturhinweise:
Bussler, Elke: Register zu Sudhoffs Paracelsus-Ausgabe; Allgemeines und Spezialregister: Personen, Orte, Pflanzen, Rezepte, Verweise auf eigene Werke. Verlag De Woudezel, Herent (Belgien) 2018
Daems, Willem F.: Die Idee der Heilpflanze nach Paracelsus. Nova Acta Paracelsica, Neue Folge 3, Einsiedeln 1988.
Meier, Pirmin: Paracelsus, Arzt und Prophet. 6. Auflage, Unionsverlag Zürich 2013
Schmaltz, Dieter: Pflanzliche Arzneimittel bei Theophrast von Hohenheim genannt Paracelsus, Stuttgart 1941
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