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BLOG vom: 16.06.2021

Meinrad Lienert (1866 – 1933) – Ein Schweizer Erzähler (II)

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

 

Da der in Zürich wohnhafte Landsmann des Hochtals Einsiedeln 1914 in Deutschland publizierte, nämlich sein für breiteste Kreise im Schweizer Volk wichtigstes Buch, „Die Schweizer Sagen und Heldengeschichten“, gab es für ihn Grund, sich eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen. Er hatte als Vermittler nicht die Absicht, zur Rede Spittelers gleichsam „noch einen drauf“ zu geben. In seiner Rede auf dem Zollikerberg in der Trichtenhausener Mühle, vor dem „Lesezirkel Hottingen“, aus Anlass seines 50. Geburtstages, bemühte sich Lienert um Vermittlung zwischen zwei anscheinend unvereinbaren Haltungen. Im Vergleich zu Spitteler war er aber wohl näher beim Puls des Volkes. Recht haben und moralische Belehrungen waren seine Sache nicht. Lieber erzählen statt auf brillante oder auch zweifelhafte Art argumentieren! Auf diese Weise wurde er der gegebene Mann für ein vermittelndes Wort. Dies klang dann so:

Trüwi, liebi Eidgenosse! Miär sind hinecht wider einist se fridli und früntli binenander äs wie d’Eier im Chrättli, wän au nid völlig se rüöbig.(…) Der grüselibös Chrieg, wo da um üsers Schwizerländli ume alls vernütiged und verherged, lat üs nid rächt ufs Trämm cho (…) Und i ha scho dänkt, wän i Üserherrged wär, se luogti nümme lenger zue, äs wie d’Mäntsche land Bombe und Granate änand uf d’Chappe appe schnye… Mier stand zwüsched viere am Hag, und wott eine am böse Muni einewäg üse Hag uftuo, jänu, är söll si vorane bsinne. (…) S’hed scho mänge gmeint, äs lisi teiggs Häibirrli uf, und derna isch ä stüpfige Chesteneigel gsy. Zerscht chunnt jetz s‘Hämli und de dr Rok. Hend üsi Vorälteste müösse mit dä Hälibarte und mit de bluotige Fust d‘Fryheit gewunne, se wend si miär jetz nid nachewärtis mit dr Fädere und mit em Mul gah verlüre… (Karl Hensler, Meinrad Lienert, Bd. II, S. 34)

Das Bild der Schweiz als eines umzäunten „Hages“, analog dem Zaungleichnis von Klaus von Flüe, ist bei Meinrad Lienert nur ein Gesichtspunkt; der andere, dass das Hemd näher sei als der Rock, erinnert eher an die zur Zeit des 1. Weltkrieges gegründete Aktion „Schweizerwoche“ zur Förderung einheimischen Schaffens denn an den wohlbestallten Idealisten Carl Spitteler, den Lienert – ohne Namensnennung – nicht ohne eine kritische Bemerkung verteidigt. Es sei jetzt nicht die Stunde, mit dem Maul und der Feder die Freiheit aufs Spiel zu setzen. Dabei war der Hörerschaft jedoch klar, dass Lienert nicht „deutschgesinnt“ orientiert war, sondern sich um den innerschweizerischen Ausgleich bemühte. Wohl auch aus diesem Grund war Lienert, im Gegensatz zu eindeutig deutschfreundlichen Autoren wie Huggenberger, in der Westschweiz anerkannt wie kaum ein zeitgenössischer Deutschschweizer Volksschriftsteller. Seine Werke, sogar Mundartgedichte wie „Nachtbuobeliedli“, wurden wiederholt als „wahre Volkspoesie“ (Carl Spitteler über Lienert) ins Französische übersetzt. Dank Professor Charly Clerc, einem verdienstvollen Vermittler deutschschweizerischer Mundartliteratur, wurde die Universität Zürich zu einem Katalysator der Meinrad-Lienert-Rezeption für die Westschweiz.

Lienert war nicht das urchige Mannli, welches anstelle von Jodelkompositionen lediglich literarische „Meisterjuzer“ produziert hätte. Die unpathetische Art, wie er Geschichtsbewusstsein nicht nur lebte, dasselbe wie wenige der Jugend glaubwürdig vermittelte, hat mit Nostalgie und Hurrapatriotismus nichts gemein. Aus einer liberalkonservativen Haltung heraus stand er dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt optimistisch gegenüber. Sein Gedicht zur Einweihung des Sihlsees, zwar nicht sein Meisterwerk, steht für eine neue Sachlichkeit. Dass Schriftsteller technischen Neuerungen gegenüber, vom Rheinaukraftwerk (1954) bis zum Atomzeitalter oft skeptisch bis ablehnend gesinnt sind, entsprach nicht seiner altfreisinnigen Mentalität. Bekanntlich waren die Jugend- und besten Mannesjahre von Meinrad Lienert auch die Jahre des Aufschwungs der von freisinnigen Unternehmern ins Werk gesetzten Bergbahnen.

Beim Aufkommen des Radios gehörte Meinrad Lienert zu den ersten, die sich dieses Mediums freudig bedienten, was im Deutschen Reich beispielsweise ein Ernst Jünger (1895 – 1998) abgelehnt hatte.

Unter den Gründern des Schriftstellervereins gab es nicht wenige, welche im Medium Radio eine gefährliche Konkurrenz des Lesens sahen. Nach Meinrad Lienert waren es Josef Konrad Scheuber (1905 – 1990) und Josef Zihlmann, genannt „de Seppi a de Wiggere“ (1914 – 1990), welche sich mit Erfolg und einer aufgeschlossenen Einstellung diesen neuen Medien zuwandten. Die Lebensphilosophie von Meinrad Lienert war nur in Ausnahmefällen reaktionär angehaucht. In seiner Neigung zur sogenannten „reinen Mundart“, von Lienert „die Sprache unserer Ahnen“ genannt, war er dennoch ein teilweise „konservatorischer“ Sprachkünstler. So lässt Lienert in einer Publikation von 1904 einen Schulmeister in dieser Rolle klagen:

Es ist ja jammerschade genug, dass unsere schöne Schweizersprache so heillos auf die Seite gedrückt und überpinselt wird, wie ein fertiges altes Meisterstück. Jede kleine Kröte von einem Schulbuben meint schon, sie dürfe verachtungsvoll mit den von auswärts bekommenen Wasserfarben darüber fludern. (Karl Hensler, Meinrad Lienert, Bd. 1, S. 71)

Damals war im Schweizer Schriftstellerverband oft von „Schweizersprache“ die Rede, womit neben der Mundart auch das Schweizerhochdeutsch gemeint war. Auch „Schweizerdichter“ wurde noch bis über die Zeit der geistigen Landesverteidigung hinaus in einem Wort geschrieben. Dies erfolgte unbeschadet des Befundes, dass die bedeutendsten und erfolgreichsten Werke von Lienerts Weggefährten Heinrich Federer, Alfred Huggenberger und später Meinrad Inglin im Leipziger Straackmann-Verlag und bei der Grote-schen Verlagsbuchhandlung erschienen. Es handelte sich um ausgeprägt deutschnationale Verlagshäuser, bei denen man nach 1933 (Huggenberger und Inglin!) nicht ohne Zugeständnisse an die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer publizieren konnte. Heinrich Federer und Meinrad Lienert blieb dieses Dilemma dank frühem Ableben erspart. Der gegenüber den Deutschen skeptischere Lienert publizierte nur einmal ausnahmsweise bei Grote, wiederholt aber beim jüdischen Verlag Levy und Müller. Dort war 1914 sein Hauptwerk „Schweizer Sagen- und Heldengeschichten“ erstmals erschienen. Für den Verfasser dieser Studie eines der wichtigsten Bücher seiner Jugendzeit. In der Wirkung nachhaltiger als sämtliche von der Jugend verschlungenen Bände von Karl May sowie der „Trotzli“-Bücher von Josef Konrad Scheuber. Dass die Schweizersagen auch in Deutschland vermittelt werden sollten, macht sie im Vergleich zu anderen Publikationen von Meinrad Lienert noch heute für die Jugend lesbar und auch unter formalen Gesichtspunkten weiterhin empfehlenswert. Andernfalls hätte ein in pädagogischen Fragen durchaus kritischer Verlag wie das Schweizerische Jugendschriftenwerk (SJW) Erzählungen Meinrad Lienerts nicht zum Gegenstand einer Neuaufbereitung zum Anlass des 150. Geburtstages gemacht.

Lienerts gelegentlich praktizierter sprachlicher Konservativismus, ein Hindernis für eine Neurezeption, muss aus seinen Hintergründen und gelehrten Beziehungen verstanden werden. In seinen jungen Jahren standen ihm beispielsweise der Neugründer und Redaktor des Schweizerdeutschen Idiotikons, Friedrich Staub (1826 – 1896) nahe, später der Berner Dialektologe Otto von Greyerz (1863 – 1940). Das erste Projekt eines Schweizerischen Idiotikons (1812) stammt aus der Zentralschweiz, und zwar aus der Feder des Entlebucher Pfarrers und späteren Chorherrn von Beromünster, Franz Joseph Stalder (1757 – 1833). Es war vom Geist der Brüder Grimm geprägt. Dies bedeutete den unbedingten Vorrang des Originalen und Alten, keineswegs die Betonung des sprachlichen Wandels.

Dabei war die Mundart, bei der zwischen Einsiedler und Iberger Dialekt sowie Euthaler Spezialitäten unterschieden wurde, für Lienert nicht im heutigen Sinn „Umgangssprache“. Im Einzelfall neigt er dazu, mit sprachlichen Juwelen zu brillieren, etwa wenn er das Wort „Gspüsli“ („Schätzeli“, eigentlich lat. sponsa, die Verlobte) erklärt: Dieses Wort mache auch den raupauzigsten Eidgenossen so zahm, dass man ihn mit diesem Wörtlein ‚füler weder as ä gräubgfrässige Geissbock mit der Salzläcktäsche, dur di ganz usländig Wält us chönt zänggle und zeucke.‘“ (Hensler, Bd. 2, S. 62)

Was Franz Joseph Stalder 1819 in seiner „Dialektologie“ mit 42 originalen Mundartversionen des Gleichnisses vom Verlorenen Sohne dargelegt und ediert hat, setzte Massstäbe und durfte jemanden wie Meinrad Lienert mit Fug und Recht prägen. Genauso wie die programmatische Frage eines der ersten Mundartdichter in der Schweiz, Jost Bernard Häfliger (1759 – 1837) aus dem Luzerner Michelsamt: „Was bruchte me-n- i der Schwyz?“ (1796). Jener Autor verstand sich als Revolutionär, übertrug 1798 das Revolutionslied „ça ira“ ins Schweizerdeutsche.

 

Fortsetzung Teil 3

 

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