Textatelier
BLOG vom: 18.06.2021

Meinrad Lienert (1865 – 1933) – Ein Schweizer Erzähler (III)

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

 

Meinrad Lienert war der erste Schwyzer, der regelmässig im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung publizierte. In der Wochenendausgabe vom 11./12. Juli 1887 erschien die Studie „Der Juzlieni am Quaifäscht“, worin der Zweiundzwanzigjährige auf reizvolle Weise das Staunenswerte des Erlebnisses „Stadt“ aus der Sicht eines „Länders“ zu gestalten vermochte. Der Text gewinnt nach 130 Jahren an kulturhistorischem Reiz. Die Frage nach der Wiedererkennung einer Stadt dieser Bedeutung als ein Stück Heimat wirkt heute denkwürdiger denn je. Schon zu Zeiten Gottfried Kellers vermochte die Romanfigur Martin Salander nach der Heimkehr aus langjähriger Fremde Zürich kaum mehr wiederzuerkennen. Dieser Gesichtspunkt, den Hebel- und Bodenseepreisträger Arnold Stadler (*1954) im November 2014 in Überlingen auf die Formel „Heimat wird immer weniger“ gebracht hat, gewinnt bei rasantem Kulturwandel an Bedeutung. Was den „Juzlieni“ erschrecken liess, das Feuerwerk von 1887, war ein weit bescheideneres Phänomen als eine heutige derartige Vorführung. Als es in Zürich für den Waldbuben aus Einsiedeln damals viel zu laut knallte, formulierte dieser das Stossgebet: Du heilige Vater Sant Josef bschüz mi und bschirm mi vor emä gächä Tod. Amä. (Hensler, Meinrad Lienert, Bd. 1, S. 28)

Als kulturhistorische Miniaturen sind Lienerts späteste Feuilletonarbeiten für die Neue Zürcher Zeitung zur Kenntnis zu nehmen. Erschienen sind sie je in seinem Todesjahr am 13. Februar 1933 und am 12. Mai 1933. Die denkwürdige Studie „Das Rauchen“ liest sich noch heute mit Interesse. Generationen nach Lienert wurden die Raucher von den Stammtischen und Bierlokalen in der löblichen Absicht, zur Lebensverlängerung freudloser Nichtraucher beizutragen; ein Gesichtspunkt, gegen den sich in seinen Spätwerken „Brenner“ und „Menzenmang“ Hermann Burger (1942 – 1989) verwahrt hat. Lienert war im Vergleich mit dem Aargauer keinesfalls ein manisch-depressiver Autor. Dafür aber ein umso überzeugterer philosophierender Pfeifenraucher.

Das erste Halbjahr 1933 gehörte in keiner Weise zu den harmlosen Epochen. Damals philosophierte Meinrad Lienert vor den in Zürich nicht stattfindenden Fasnachtstagen über die „Friedenspfeife der Mutter Helvetia“. Keine Kleinigkeit wenige Woche nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland und kurz vor dem Schweizer Frontenfrühling. Als Mann der Mitte, als der er sich schon 1915 bewährt hatte, war diese neue Aufgeregtheit nicht sein Ding. Insofern konnte er nichts dafür, dass der in seinen poetischen Werken häufig vorkommende historisierende Schlachtruf „Haarus!“, von Lienert 1915 mit gutem Gewissen vor dem Lesezirkel Hottingen zitiert, als Losung der Fronten missbraucht wurde und deshalb seither weder zitierbar noch verwendbar ist, so wenig wie das langschenklige Schweizerkreuz. Lienert vermittelte uralte Traditionen ohne ideologische Hintergedanken. Insoweit gehörte er zu den reinen Stimmen in der Schweizer Heimatdichtung. Chauvinismus war nicht seine Art. Nicht einmal Lokal-Chauvinismus. Als junger Redaktor des „Einsiedler Anzeigers“ hatte er bekanntlich seine Heimat wegen parteipolitischer Streitigkeiten verlassen.

Wenn der 68jährige Meinrad Lienert in der Neuen Zürcher Zeitung über das Rauchen philosophierte, war es ihm kaum um das Politisieren zumute. Hingegen liebte er das Bekenntnis zum Kind im Manne. Für ihn lebenslang eine Quelle der Kreativität:

„Sie sind doch kein kleines Kind mehr“, sagte ihm eines Abends eine schöne Frau, „dass Sie immer, wie ein Wickelkind seinen Schnuller, das Tabakpfeifchen im Mund haben müssen.“ Lienerts Antwort läuft darauf hinaus, „dass es kaum einen Menschen gibt, der nicht leiblicher- oder geistigerweise erst recht seinen Schnuller hat. Es lässt sich eben ausser den Zuckerstengeln, den Schokoladen- und Nougattäfelchen noch so unendlich vieles Süsse lutschen, vom hochzeitlichen Rosemäulchen und vom Engelsüsswürzlein der Alpen an bis hinunter zum amerikanischen Kaugummi, dass ich auf die geistigen Lutscher gar nicht besonders hinzuweisen brauche. Sei das aber wie‘s wolle, meine verehrte Dame, ich meinerseits halte das Tabakpfeifchen für einen wohlbekömmlichen Lutscher unter den unzählbaren ‚Lüllene‘, die sich die Menschen vom eigenen Fingerchen an bis zum Weissdornzweiglein und tausend gallenbittern, dornigen Gedanken leisten.“ (Hensler: Lienert Bd. 2, S. 103f.)

Wenn Karl Hensler im Anschluss an den Germanisten Paul Suter seinen geliebten Meinrad Lienert mit Jeremias Gotthelf, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller in einer Linie sieht, wird er dem Fabulierer aus Einsiedeln in diesem Fall nicht gerecht. Es geht nicht um Überschätzung Lienerts. Der Volksschriftsteller hatte es dick hinter den Ohren. Mit dem Poetischen Realismus aus klassisch-romantischer Tradition hatte er jedoch wenig am Hut.

Wie Alfred Huggenberger las Lienert in seiner Jugend lieber Johann Daniel Heinrich Zschokke (1771 – 1848), einen Lieblingsautor der Innerschweizer liberalen Politiker Jakob Robert Steiger (1801 – 1862) und des 1862 von Gespenstern heimgesuchten Nidwaldners Melchior Joller (1818 – 1865). Für die Tradition der Volksschriftsteller blieb Bestsellerautor Zschokke bei weitem bedeutsamer als die grossen Klassiker. Dieser geistige Anschluss an die Generation der Gründer des Bundesstaates bleibt für Lienert charakteristisch. Als Kind aus liberalem Vaterhaus war ihm zum Beispiel Zschokkes Darstellung der Franzoseninvasion von 1798 geläufig. Einsiedeln wurde Zschokke jedoch nicht gerecht, zumal nicht dem „Schwarzen General“, Pater Marian Herzog aus Beromünster, dem frühen Einsiedler Schulpionier und glücklosen Verteidiger des Hochtals. Aus einheimischer Sicht musste die Geschichte neu erzählt werden. Ohne verfälschende Tendenz, die bei Zschokke als helvetischem Kommissar und also Mitspieler des Geschehens nicht immer zu vermeiden war. Lienerts „Erzählungen aus der Schweizergeschichte“ sind nicht aus der Tradition von Conrad Ferdinand Meyer zu lesen, sondern als „eingeschwyzerter Zschokke“. Wie Zschokke war Lienert als Erzähler ein Lehrer des Volkes. Ihn prägte das Bemühen, das Publikum liebevoll zu unterhalten und dabei doch nie die Gerechtigkeit gegenüber den Vorfahren zu vergessen.

 

Fortsetzung Teil 4

 

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