Textatelier
BLOG vom: 09.06.2005

In memoriam Willi Lierath, Biologe in Bad Gandersheim D

Autor: Walter Hess

„Hier ist der Lierath.“ So meldete er sich jeweils am Telefon an. In den frühen 90er-Jahren hatte er das „Natürlich“ entdeckt und bot mir damals ohne jede Aufdringlichkeit einen Bildbericht über das Leben im Gartenteich an. Ich sagte zu. Und wenige Tage später landete das Couvert aus D-37579 Bad Gandersheim auf meinem Pult: Hervorragende Aufnahmen und 3 Schreibmaschinenseiten Text: Ein gut lesbares Konzentrat aus Wissen, ein Lehrstück in Biologie, ein Einblick in eine faszinierende Welt. Als die Arbeit in der Zeitschrift erschienen war und der Autor die Belegexemplare erhalten hatte, rief er mich an, beglückwünschte alle an der Zeitschrift Tätigen für die wunderbare Aufmachung und dankte dafür. Ich brauchte etwelche Überredungskunst, um ihm klar zu machen, dass unsere Leistungen in bezug auf das Layout vergleichsweise bescheiden waren: Mit solch einem hervorragenden Text- und Bildmaterial war es relativ einfach, eine schöne, eindrückliche Präsentation zu inszenieren.

Wir pflegten anschliessend eine ununterbrochene Zusammenarbeit, und das Ritual war immer dasselbe, von Herzlichkeit, Zuneigung und Achtung für sorgfältige Arbeiten geprägt. Willi Lierath war freischaffender Biologe und für uns der kompetente Berater in entomologischen Fragen (Insektenkunde) und in Bezug auf andere Kleintiere.

Eines Tages erhielt ich in einem Couvert von einer Leserin aus Thun ein ausgetrocknetes Insekt. Flügel und Beine waren abgebrochen. Die Dame erkundigte sich Ende 1998, was denn das für ein „Viech“ sei. Ich sandte die Bestandteile zu Herrn Lierath, der das Tierchen aufgrund der Fragmente nicht bestimmen konnte und ein intaktes Exemplar anforderte. Die Fragestellerin ging nochmals auf Insektenjagd und wählte diesmal eine bessere Verpackungsart. Der Fachmann machte sich zu Universitätsbibliotheken auf und identifizierte das Kleininsekt zuverlässig als „Ectobius silvestris“, eine Küchenschaben-Art, die in Wohnhäusern nur noch selten angetroffen wird. Lierath erklärte das Leben der Küchenschaben in seiner anschaulichen, lehrreichen Weise: „Die ‚Küchenschabe’ (Blatta orientalis) bewohnte früher vornehmlich Backstuben, Heizungskeller und ähnliche, klimatisch günstige Räume. Auch die Deutsche Schabe, Blatella germanica, ein schlankes Insekt, gehörte zu den Bewohnern dieser Örtlichkeiten. Sie wurde, wie auch andere Arten, durch den Menschen über viele Länder verbreitet.

Nur wenige Schabenarten leben in der freien Natur. Die meisten von ihnen werden der Ectobius-Gruppe zugeordnet, zu der auch die uns eingesandte Schabe Ectobius silvestris gehört. Schaben sind Allesfresser. Sie besitzen kauende Mundwerkzeuge, gehören deshalb nicht zu den stechend-saugenden Insekten und können Menschen nicht verletzen. Interessant ist ihr Paarungsverhalten, bei dem Sexualduftstoffe eine Rolle spielen. Die Eier werden in einem aus Drüsensekret gebildeten und artspezifisch verschieden geformten Kokon abgelegt und bis zum Schlüpfen der Jungen, am Hinterleib hängend, herumgetragen.“

Bemerkenswert war der Schlusssatz: „Ein Grund zur Aufregung besteht nicht, eher zur Beobachtung.“

Ja, Willi Lierath war ein ausgezeichneter Beobachter und Naturfreund, und dementsprechend war sein Leben ein einziger Lernprozess. Als ich mich erkundigte, was er für seinen Bestimmungsaufwand in Rechnung stelle, sagte er: „Nichts. Es war für mich so interessant, und ich habe wieder allerlei gelernt.“ Selbstverständlich haben wir ihn dennoch anständig honoriert.

Seine mit herkömmlicher, hochwertiger fotografischer Technik hergestellten Bilder waren von erster Güte. Ich staunte immer, wie er zum Beispiel das filigrane Netzwerk in den Flügeln der Ameisenjungfer (Myrmeleon formicarius) oder das Ei eines Fadenmolchs in einer geöffneten Blatttasche oder dessen dunklen Schwanzfaden lebensecht abzubilden verstand.

Willi Lierath arbeitete seiner Lebtag als freischaffender Biologe, verfasste Publikationen aller Art für verschiedene Zeitschriften und Bücher. So ist zum Beispiel seinerzeit im Verlag Tokiopress eine Arbeit über Lungenschnecken erschienen, die er im Auftrag des japanischen Kaisers aufgrund eigener Forschungen verfasst hat. Neben Mollusken waren es vor allem die Insekten, die ihn beschäftigten und faszinierten. Bei einem Telefonat, das ich im Juni 2002 mit ihm führte, schwärmte er von 5 Totengräber-Käferarten, die es in Europa gibt. Sie betreiben eine regelrechte Brutpflege und füttern den Nachwuchs (von Mund zu Mund). Als Kenner der Insekten beobachtete er deren allmähliches Verschwinden und konnte es kaum fassen, dass Arten, die er immer wieder beobachtet hatte, plötzlich nicht mehr da waren. Der liebenswürdige, ausgesprochen hilfsbereite alte Mann verstand diese Welt nicht mehr. Und das kann man sehr wohl nachvollziehen.

Er half mir beim Aufbau einer Sammlung von Fachpublikationen, die ich als Grundlage für ein Buch über die Medien benötigte, reiste in die Universitätsstadt Göttingen, um solche aufzutreiben. Ich habe ihm vieles zu verdanken; doch ich bin ihm leider nie persönlich begegnet. Im Rahmen unserer kürzlichen Deutschland-Reise wollte ich das nachholen und ihm einige Flaschen Kraftwein, Süssmost aus biologischer Produktion und mein neues Buch bringen. Doch das Schicksal liess diese Begegnung, auf die ich mich herzlich gefreut hatte, nicht zu. Kurz vor unserer Ankunft war der 94-Jährige ins Spital eingeliefert worden, wie uns seine Lebenspartnerin, Frau Ursula Scholz, mit bleichem Gesicht, in das sich Kummerfalten eingegraben hatten, bei unserer Ankunft verkündete, und sein Zustand erlaubte es nicht mehr, Besuch zu empfangen, wofür ich alles Verständnis hatte. Wir überreichten unsere bescheidenen Mitbringsel an Frau Scholz, die Herrn Lierath aufopfernd gepflegt hatte und wegen seines nachlassenden Augenlichts alles, was ihn interessierte, vorgelesen hat. Tags darauf hatte sie ihm noch den Titel meines mitgebrachten Buchs „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ vorgelesen, war aber nicht sicher, ob er das noch verstanden hat, wie sie mir telefonisch mitteilte.

Dieses schwindende Sehvermögen war das grösste Problem für den alten Mann, der doch weiterhin die Welt, insbesondere die Welt der Kleintiere, beobachten wollte und sich zuletzt noch intensiv mit den Wühlmäusen befasst hatte. Aber es ging nicht mehr. Er konnte sich nur noch in der eigenen Wohnung herumtasten – das Lebensende zeichnete sich ab. Er verlor an Gewicht, hatte Schleim in den Lungen, atmete schwer. Und am 3. Juni 2005 ist er gestorben. Frau Scholz sagte mir, sein Gesicht habe einen ganz zufriedenen Ausdruck – und er sei doch ein ganz, ganz lieber Mensch gewesen, der sie immer liebevoll umsorgt habe. Sie konnte es nicht fassen.

Mir erging es ebenso. Der Verstorbene war ein Wissenschaftler, der seine Arbeit mit Hingabe erfüllte, zum Verständnis (und damit zum Schutz) der Natur beitrug, der alles Lebendige in höchsten Ehren hielt. Und dazu gehören auch die Menschen. Er war keine international bekannte Berühmtheit, sondern ein stiller, gründlicher Schaffer, der dank seines umfangreichen Wissens Zusammenhänge verstand, aufklärend wirkte, um ein bisschen zu verhindern, dass die Erosion an Naturwerten in diesen Zeiten mit ihren falschen Prioritäten ungebremst weitergeht. Er litt darunter, wenn er vertrauten Insektenarten plötzlich nicht mehr begegnete, weil sich das Klima, die Landschaft und deren Bewirtschaftung verändert hatte.

Ich verneige mich in tiefer Ehrfurcht vor diesem Menschen Willi Lierath und hoffe, dass es noch viele seinesgleichen gibt. Ich setze ihm dieses virtuelle Denkmal, auch wenn er viel zu bescheiden war, um an so etwas überhaupt zu denken oder es sich gar zu wünschen.

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