Textatelier
BLOG vom: 24.12.2008

Eine kleine Weihnachtsgeschichte: „Katrins Dilemma“

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Viele Mädchen und Burschen zwischen 20 und 25 Jahren haben schlechte Liebeserfahrungen hinter sich. Wer das bezweifelt, findet in der Literatur mehr als genug leidvolle Liebesgeschichten. Liebe muss reifen wie Wein. Davon will ich erzählen. Es geht um die Weihnachtszeit nicht an, eine Geschichte zu schreiben, die schlecht endet. Dies sei im Voraus festgehalten.
*
Katrin wurde strikt katholisch erzogen. Ihr Vater war streng, doch gerecht. Ihre Mutter verstand es immer wieder, diese väterliche Strenge für Katrin zu dämpfen. Katrin durchlief das Mädchengymnasium meistens mit guten Noten. Aber sie wollte keine Anwältin werden. Ihr Vater, unterm sanften Druck ihrer Mutter, musste nachgeben. So besuchte Katrin das Lehrerseminar.
 
Dort begegnete sie einem Seminaristen, in den sie sich verliebte. Es war Frühling, als ihr Wunderglaube der Liebe aufblühte. Doch die Liebe begann zu welken, ehe der Herbst ins Land zog. Der junge Mann wollte nicht verstehen und einsehen, warum sich Katrin zurückhielt und keusch blieb, vom Küssen und Umarmungen abgesehen. Er wollte alles auf einmal haben – ihre Hingabe als Beweis ihrer Liebe. „Das ist doch normal“, drang er auf sie ein. Er tadelte sie zuerst als eine „semi-vierge“ und nannte sie zuletzt „frigide“ und schlug vor, dass sie ins Kloster gehen soll. Es war einzig ihrer guten Erziehung und Ausbildung zuzuschreiben, dass sie standhaft blieb und sich ihm verweigerte. Katrin begrub ihr Herzeleid, verfolgte emsig ihr Studium und mied Männer wie die Pest, es sei denn, sie waren ihre Lehrer.
 
An einem Konzertanlass der „Musica Viva“ in der Sankt Theodorskirche wollte es der gute Zufall, dass Sebastian, dank einer Mitspielerin im Orchester, Katrin vorgestellt wurde. Spontan lud er die beiden Mädchen zum Kaffee ein. Viele andere Orchestermitglieder hatten sich dort schon eingefunden und rückten am Tisch zusammen, um ihnen Platz einzuräumen. Sebastian war es mehr als recht, dass er recht eng an Katrin gerückt sass. Es wurde gespasst und gelacht, und Sebastian wurde gehänselt, weil ihm ein Triller missraten war. Das habe seinen guten Grund, verteidigte sich Sebastian erfinderisch. In der vordersten Zuschauerreihe habe ihn eine junge Dame abgelenkt, „eben das hübsche Fräulein neben mir!“ Die noch immer schweigsame Katrin schmunzelte. Sebastian drehte sich ihr zu und wollte mit ihr plaudern. Allein, seine Zunge wurde schwer wie Blei, als sich sein Blick in ihren nussbraunen Augen verlor. Jemand ermahnte die Tischrunde: „Höchste Zeit, dass wir unsere Instrumente holen, ehe die Kirche schliesst!“ Sebastian erhob sich benommen. Es gelang ihm, Katrin recht unbeholfen in den Mantel zu helfen. Nochmals schmunzelte sie, als sie endlich den rechten Ärmel erwischte. „Wir fahren mit der Linie 12“, lehnte Irene die Einladung zur gemeinsamen Heimfahrt spöttisch ab, „du fährst am besten direkt mit der 3. Wir werden den Heimweg schon ohne dich finden …“.
 
Um diese Jahreszeit gibt es viele Proben für die nächsten Konzerte. Gewiss würde er sie bald wieder sehen. Und so geschah es schon 2 Wochen später. Das Konzert endete diesmal um 6 Uhr nachmittags. Irene wurde von ihrem Freund abgeholt. Katrin wollte sich von ihnen verabschieden. „Warum bummeln wir nicht zusammen durch den Weihnachtsmarkt?“ schlug Sebastian vor. Es war nasskalt, als sie sich durchs Gedränge schlängelten.
 
Sie werde sich rasch verabschieden, dachte sie etwas besorgt, männlicher Begleitung ungewohnt und abgeneigt. Inzwischen bahnte ihr Sebastian eine Bresche durch die Menge. Sie musste ihm dicht folgen. Vergewissernd drehte er sich immer wieder nach ihr um. Ihr Atemhauch vermengte sich dabei mit seinem. „Hier gibt es etwas zum Aufwärmen, sofern Sie das mögen.“ An einer Ecke war ein Stand, der Glühwein anbot. Im Nu hielt sie einen Plastikbecher in der Hand. „Prosit!“ Zum 1. Mal standen sie einander gegenüber. „Das wärmt auf“, gab sie zu. Wie zurückhaltend sie ist, beinahe frostig, dachte Sebastian. „Wieder etwas aufgetaut?“ erkundigte er sich behutsam. „Einigermassen“, sagte sie. „Ich bin inzwischen hungrig geworden“, gestand Sebastian, „ ein Imbiss könnte uns nicht schaden. Was meinst du dazu?“ Jetzt duzt er mich schon … und schaut mich so erwartungsvoll an. Sie schwieg. Warum zögerte sie? „Hoffentlich gibst du mir keinen Korb, denn so allein vergeht mir der Appetit“, bettelte er. „Wenn er so weiter macht“, dachte sie, „wird er mich bald küssen wollen.“ Nein, so einfach wollte sie sich nicht wieder einseifen lassen.
 
Sebastian ahnte nichts von ihrem Dilemma. „Komm schon, ich beisse dich nicht“, ergriff er beherzt ihre Hand. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, von ihm eingeseift zu werden. Viel Glühwein hatte sie nicht getrunken. Es schien ihr plötzlich lange her, seitdem sie zum letzten Mal geküsst worden war. Nein, frigide war sie gewiss nicht.
 
Noch immer hielt er ihre Hand, ein breite warme Männerhand, die Schwierigkeiten mit Trillern hat. Sie musste plötzlich lachen. „Du lachst mich doch nicht aus, oder?“ hielt er inne. „Hoffentlich habe ich dich heute nicht vom Trillern abgelenkt.“ Das Eis war gebrochen, als er schlagfertig antwortete: „Diesmal habe ich deinetwegen bloss zweimal eine Note zu hoch gegriffen.“ Ihr Humor brach durch: „Besser eine Note als eine Oktave zu hoch!“
 
Sie gingen an der „Cafeteria“ gegenüber vorbei. Er zog die Türe zur „Walliser Kanne“ auf. Das Lokal war voll. „Haben Sie reserviert?“ Der Kellner liess sich erweichen und wies sie an einen Platz, den sie mit anderen Gästen teilen mussten und nahm ihre Mäntel ab. „Die Flöte behalte ich bei mir.“ Ein Mann wandte sich leutselig an Sebastian: „Werden Sie uns etwas vorspielen?“ Bedächtig nickte Sebastian: „Wenn Sie uns eine Flasche Fendant spendieren …“ Der Herr willigte schmunzelnd ein und winkte den Kellner herbei.
 
„Bist du immer so ein Spassvogel?“ fragte sie. „Heute muss ich mir etwas einfallen lassen, um dich zu beeindrucken und lustig zu stimmen.“ Der Kellner brachte die Speisekarte. Katrin zierte sich und wollte sich nicht einfach einladen lassen. Sebastian winkte ab. Nach einigem Hin und Her gab sie nach und bestellte gleich ihm ein Fondue. Der Kellner schenkte den Wein ein, und Sebastian bedankte sich beim Spender mit einem „zum Wohl“ mit erhobenem Glas und packte seine Flöte aus. „Besser jetzt, denn mit Fondue im Mund klebt die Musik“, sagte Sebastian, trank einen 2. Schluck und erhob sich.
 
Der Geschäftsführer erschien: „Hier dürfen keine Strassenmusikanten auftreten!“ Der joviale Herr schnitt ihn kurzerhand ab: „Ich habe die Tafelmusik bestellt, denn es ist mein Geburtstag.“ Sebastian spielte einige Stücke aus seinem Repertoire und erntete Beifall. „Jetzt improvisiere ich etwas eigens für dich“, flüsterte er Katrin zu und trillerte ganz gewaltig, halb zur Melodie mittänzelnd. „Das ist das 1. Mal, dass mir jemand ein Ständchen spielt“, sagte sie gerührt.
 
„Nur ein Glas“, hielt sie den Flaschenhals auf, als er ihr nachschenken wollte. Ihr Gespräch rollte sich aus wie ein Teppich. Ohne aufdringliche Fragen zu stellen, erfuhr er, dass sie sich vor einem Jahr von ihrem Freund getrennt habe … und seither am liebsten mit ihren Freundinnen verkehre ... und schliesslich, dass sie erst seit August von einem dreimonatigen Aufenthalt in Kolumbien zurück sei. Leider habe sie dort ihre beste Freundin verloren, fügte sie hinzu. „Wie das?“ wollte Sebastian wissen.
 
„Du wolltest heute lustig sein, so möchte ich lieber darüber schweigen.“
 
Behutsam bat er sie, sich seinetwegen nicht auszuschweigen. „Es gibt Wichtigeres im Leben – und vieles ist keineswegs lustig.“
 
Stockend begann Katrin: „Meine Freundin heisst ebenfalls Katrin und hat in Ghent (Belgien) Geschichte studiert. Trotz ihres guten Studienabschlusses fand sie keine Stelle, selbst nicht als Museumsführerin, es sei denn, sie absolviere zuerst einen Kurs als Vorbedingung. Aber ihre Bewerbung am kunsthistorischen Museum in Basel war erfolgreich. Dort lernte ich sie kennen, kurz nachdem ich mein Diplom als Primarschullehrerin erhalten hatte. Nach einem halben Jahr packte uns das Reisefieber, und unser Angebot, in einem Waisenhaus in Kolumbien mitzuhelfen wurde angenommen. So boten sich viele Möglichkeiten zu Zweit das Land mit dem Bus kennen zu lernen. Ich konnte ihre letzte Reise wegen einer Infektion nicht begleiten. So bestieg sie den Bus am frühen Morgen allein. Während der Nachtfahrt stürzte der Bus in eine Schlucht ab – zwischen Ouro und Uquni – und fing Feuer. Alle 30 Insassen verloren ihr Leben. Sie ruht jetzt in einem Massengrab in der öden Steinwüste, unweit des ausgebrannten Busses. Auf einer schwarzen Holzstafel steht geschrieben: ,A la memoria de los fallecidos en tragica accidente.’“
 
„Hat sie Katrin Vande Velde geheissen?“ fragte Sebastian. „Ja“, nickte Katrin. „Hast du sie gekannt?“
„Ich hatte ein kameradschaftliches Verhältnis mit ihr, und erfahre erst jetzt von dir von ihrem tragischen Tod, so plötzlich mitten aus dem Leben gerissen. Wir unternahmen einige gemeinsame Ausflüge in die nähere Umgebung – und besichtigten dabei auch Augusta Raurica. Sie hatte 2 widerspenstige Haarsträhnen, die der Wind immer wieder in ihr Gesicht trieb. Ich habe dort von ihr ein Foto geknipst. Ich werde es dir zeigen.“
Katrin unterdrückte vergeblich ihr Aufschluchzen. Tröstend legte Sebastian den Arm um ihre Schultern.
*
Diese Geschichte endete fabelhaft gut. Katrin befand, dass es auch gute Männer gibt, und keinen besseren als Sebastian. Beide waren sich einig, dass Katrin „daarboven“ im Himmel, das so für sie gefügt hatte.
 
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