Textatelier
BLOG vom: 20.06.2010

Im Jammertal: Deutschland ist Europameister im Jammern

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Mich fasst ein längst entwohnter Schauer,
der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an.
(Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“)
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„Wer am meisten jammert, fühlt sich oft am wohlsten.“
(Sprichwort)
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„Das Jammern tut so gut. Es legt sich wie Balsam auf die wunde Seele und hüllt den Jammerer in einen beruhigenden Fatalismus, aus dem er geläutert wieder zur Oberfläche schwimmt.“
(Anja Krumpholz-Reichel, www.think-seminars.com )
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Als ich mich kürzlich mit meinem Wanderfreund Ewald über die neuen Sparvorschläge der Bundesregierung, die der kleine Mann/Frau zu einem grossen Teil zu tragen hat, herumjammerte, kam seine Frau dazu und sagte: „Ihr Jammerlappen, was jammert ihr bei diesem schönen Wetter herum.“ In der Tat war es an diesem Tag aussergewöhnlich schön, aber das hielt uns vom Jammern nicht ab. Das Jammern wurde in diesem Fall mit einer Portion Ärger vermischt.
 
Das Jammern gehört zum Leben und zur Gesprächskultur. Und wir Deutschen jammern besonders gerne. Laut einer Umfrage der EU-Kommission (es wurden mehr als 25 000 EU-Bürger 2008 befragt) sind wir stolze Europameister, aber nicht im Fussball, sondern im Jammern. Mehr als 2/3 aller Deutschen glauben, dass es ihnen in 20 Jahren schlechter gehen werde als heute.
 
Iren und Esten jammern weniger
Die Spanier, die vor 2 Jahren Europameister im Fussball wurden, sehen trotz Finanzkrise ihre Zukunft rosiger als die verwöhnten Deutschen. Dort glauben 47 % an ein besseres Leben und nur 37 % fürchten eine Verschlechterung. Am optimistischten waren die Iren und Esten. In diesen Ländern sahen 2/3 der Bewohner die Zukunft rosig.
 
Bei den Griechen dürfte nach der Überschuldung und den von der Regierung beschlossenen Sparmassnahmen das Jammern besonders gross sein. Aber es gibt hier Licht am Horizont: Die Deutschen und andere Europäer werden ihnen unter die Arme greifen und Finanzhilfe leisten und den Hellenen vielleicht das Jammern etwas austreiben.
 
Aber das Jammern wurde in D gleich forciert: „Von den Griechen bekommt man keinen Cent zurück“ oder „Der kleine Mann bei uns muss die Zeche zahlen“ oder „Von diesem Desaster profitieren doch nur die Spekulanten“, war überall im Volk zu hören (die Politiker sind jedoch anderer Meinung).
 
Das Jammern fing bei uns schon damit an, dass bei den Vorbereitungsspielen zur Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika etliche Spieler verletzt wurden. „Da haben wir schlechte Karten“ oder „Bald können wir wieder nach Hause fahren“, „Mit diesen unerfahrenen Spielern kann man nichts gewinnen“. Diese oder ähnliche Jammereien hörte ich von Fussballexperten aus dem Volk. Aber lassen wir die jüngste deutsche Mannschaft, die je bei einer WM zu Gast war, agieren. Vielleicht sind am Schluss der WM alle zufrieden, und das Jammern hört dann auf.
 
Da wir Deutschen so gerne jammern, wurde sogar die Internetseite www.jammern.de eingerichtet. „Per Mausklick öffnet sich das Tor zur elektronischen Klagemauer. Unter www.jammern.de versammeln sich die Jammerlappen mit Internetanschluss. Zu jeder Tages- und Nachtzeit können Jammertiraden hinterlegt werden, und das in unbegrenzter Länge“, ist dort zu lesen.
 
Gründe zum Jammern gibt es immer
Was bedeutet Jammer bzw. Jammern? Die heutige Definition von jammern nach Angaben von „Wahrigs Deutsches Wörterbuch“ lautet: laut klagen, wehklagen, kläglich schreien, über etwas sich laut, anhaltend, übertrieben über etwas beklagen usw.
 
Wenn ich jammere, beklage ich mich über die Missstände, Ungerechtigkeiten, unglaubliche Zustände in der Politik, missratene Gesundheitspolitik, grosse Steuer- und Abgabenlastungen, die schon die Hälfte der Einkommen des arbeitenden Volkes überschritten haben und über die Schonung der Reichen. Nun fordern viele, dass auch die Reichen bei uns steuerlich mehr belastet werden sollen. Ich bin neugierig, ob ich eines Tages keinen Grund zum Jammern mehr habe.
 
„Warum regst Du Dich auf, man kann doch nichts ändern“, höre ich immer wieder. Aber die meisten Freunde und Bekannten sehen das so wie ich. Sie jammern. Einige Beispiele, aus dem Leben gegriffen:
 
Am meisten wird über das Wetter gejammert. Der „Wettergott“ und der Meteorologe Jörg Kachelmann können den Deutschen das Wetter nicht optimal genug machen. Gibt es im Winter keinen Schnee oder fällt zu viel, sind die Temperaturen im Sommer zu hoch oder zu niedrig, wird immer gejammert. Wir befinden uns dauernd in irgendeinem Jammertal. Die weniger Jammerfreudigen sagen dann: „Es ist schliesslich Winter oder Sommer, nehmen wir´s so, wie es ist.“
 
Wenn Kranke herumjammern, könnte man das verstehen. Sind sie doch schmerzgepeinigt, müssen eventuell ihr Dasein zu Hause fristen oder im Rollstuhl oder mit dem Rollator herumfahren. Aber es gibt hier Ausnahmen. Während meiner Recherchen zum Buch „A. Vogel – Aktiv gegen Rheuma“ (Verlag A. Vogel, Teufen 2006) staunte ich nur so über eine Rheumatikerin, die seit 25 Jahren mit Schmerzen konfrontiert ist und kaum noch jammert. Sie ist überzeugt, dass sie ihr Leben trotzdem geniessen muss, dass sie nur so eine Chance hat, den Schmerz einigermassen im Zaum zu halten. Eine andere Rheumatikerin antwortete auf die Frage, wie sie mit ihrer Krankheit zurechtkomme: „Ich denke positiv, das hilft mir immer wieder den Schmerz und andere Probleme zu meistern.“
 
Ich kenne aus meinem Bekanntenkreis etliche Leute, die bei kleinsten Befindlichkeitsstörungen herumjammern und sich selbst bemitleiden. Man könnte meinen, die hätten die schlimmsten Gebrechen.
 
„Das Leben ist so ungerecht“
„Das Leben ist so ungerecht. Warum hatte ich noch nie Glück mit Männern? Warum komme ich im Beruf nicht weiter? Warum habe ich so miese Kollegen oder einen mürrischen Chef?“ Diese oder ähnliche Bemerkungen hörte ich in der Vergangenheit immer. Vielfach sind die Jammerlappen selbst schuld, wenn der eine oder andere Wunsch nicht in Erfüllung geht. Es wird viel zu viel im Beruf herumgejammert. Ein bisschen Jammern schadet natürlich nicht. Aber, wenn es zu viel wird, müsste man überlegen, was zu tun ist, um selbst ein positiveres Leben einzuschlagen.
 
Durch die weltweite Finanzkrise wurden auch die Nichtjammerer aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Ich höre jetzt immer, wie viel Geld der eine oder andere verloren hat. „Hätte ich doch in Gold investiert“, „Wäre ich doch nicht auf die Versprechungen der Banker hereingefallen“, so das Gejammere der Opfer von Vermögensberatern.
 
Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Ich kenne einen Mann, der wohl nach den Verlusten immer noch einen Batzen Geld hat, der alles locker nimmt und trotzdem zufrieden ist und das Leben weiter geniesst. Er ist in der Tat ein Lebenskünstler. Diese gehören zur Minderheit.
 
Auch über das nicht immer glänzende Fernsehprogramm wird gejammert. Als die am 10.06.2010 über die Bühne gehende Casting-Show „Germany´s Next Topmodel – By Heidi Klum“ nach fast 3 Stunden zu Ende ging, jammerten einige (die Äusserungen wurden u. a. am nächsten Tag in den Online-Ausgaben der Zeitungen publiziert): „Das war kaum auszuhalten“ oder „Da wurden meine Nerven vor Spannung strapaziert“, „Schrecklich, die langen Werbeunterbrechungen“. Ich finde, wer hier herumjammert, ist selber schuld (anscheinend gab es genügend Leute, die alle 16 Folgen ohne Jammern angesehen hatten). Es gibt ja den Ausschaltknopf oder die Wähltaste eines anderen Kanals. Ganz schlaue Fernsehkonsumenten zeichnen eine solche Show oder einen guten Film mit Werbung auf und sehen dann diese ohne Werbung (die wird überspult) oder in Ausschnitten an. Da jammern dann höchstens die Werbekunden der Fernsehanstalten, wenn immer mehr Leute die Werbesequenzen nicht mehr ansehen.
 
Jammereien im Betrieb und in der Kantine
In meinen Berufsjahren wurde sehr viel gejammert, besonders dann, wenn Entlassungen und Fusionen bevorstanden. Da war das Gejammere angebracht. Aber letztendlich nützte das wenig, da die Bosse, die ihre Pfründe in Sicherheit haben, entscheiden, wer fliegt oder wer in der Firma bleibt. Heute jammern sogar die Firmenmanager schon aus dem Anlass, wenn die Gewinne nicht mehr so reichlich fliessen wie im Vorjahr. Aber auch, wenn ihre horrenden Sonderzuwendungen gekürzt werden. Da ist der Aufschrei dann gross. Vor Jahren jammerte einmal ein bekannter Manager, als die erhoffte hohe Abfindung in zweistelliger Millionenhöhe vom Gericht um einige Millionen reduziert wurde. Da könnte auch der Friedlichste ins Jammertal hineintauchen, wenn er von diesen Zuwendungen hört, nämlich dann, wenn ein Manager wegen Unfähigkeit entlassen wird und dann sein ehemaliges Firmendasein fürstlich honoriert wird. Mir ist unverständlich, warum solche Verträge überhaupt existieren. Ich bin der Meinung, dass dann, wenn einer die Firma in den Ruin getrieben hat, er keinen Cent Abfindung bekommen dürfte.
 
Auch wurde immer wieder über das Essen in der Kantine gejammert. Einmal war das Essen berechtigterweise zu salzig, dann wieder zu wenig gesalzen, das Fleisch zu fett, andere beschwerten sich, es sei zu zäh gewesen.
 
Auch in Restaurants oder im Urlaub wird gejammert und herumgemeckert. So war die Bedienung nicht aufmerksam genug, das Essen zu kalt, die Sosse zu salzig, die Tischdecke nicht sauber genug.
 
So mancher Urlauber im Ausland vermisst das heimische Essen. Ich hörte früher immer, wie laut es beim Essen ist, dass Kinder tagsüber herumschreien, während der Nachtstunden die Nachtschwärmer und die Betrunkenen randalieren oder herumtollen. Auch beschwerten sich einige Urlauber während unseres Mallorca-Urlaubs, dass hier viele junge Leute sind, diese viel trinken und herumlärmen. Da wird gejammert, dass man es kaum Glauben kann. „Wären wir doch zu Hause geblieben“, „Daheim ist es doch am Schönsten“, konnte ich hören.
Wir genossen den Urlaub trotzdem. Man muss im Ausland eben Abstriche machen und es locker sehen. Die Herumjammernden sollten zu Hause bleiben.
 
Auch wird viel über das Elternhaus geklagt. Das erfuhren wir in unserer Jugendzeit. Wir wollten nicht einsehen, dass es Grenzen und Verhaltensweisen gibt. Wichtig ist zu wissen, dass Jammern über seine Eltern nichts nützt. Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen, Freunde dagegen schon, denke ich mir immer wieder. Auch manche Eltern drehen den Spiess um: Sie jammern über ihre undankbaren Kinder. Erfahrungen dieser oder anderer Art hat wohl jeder von uns schon erlebt. Deshalb soll dieses Thema nicht hier weiter behandelt werden.
 
Es gibt noch viel mehr Dinge, über die man jammern kann. Ein letztes Beispiel: Viele Journalisten und Autoren beklagen die negative Entwicklung auf dem Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt. Es gab viele Entlassungen von Redakteuren, schlechte Bezahlung von Autoren und eine unglaubliche Qualitätsminderung der gedruckten Medien. Die Verantwortlichen jammern wegen der rückläufigen Verkaufszahlen und die Entlassenen jammern wegen der schlechten Zeiten. In diesem Fall, das kann man ausdrücklich sagen, waren die Zeiten früher besser. Aber auch hier hilft leider das Jammern nicht. Vielleicht haben wir Blogger in Zukunft noch mehr Freude, wenn das Internet mehr Beachtung findet und auch Werbeeinnahmen fliessen. Ich bin überzeugt, dass viele Zeitungen und Zeitschriften vom Markt verschwinden werden. Dem Internet gehört die Zukunft.
 
Sollen wir weiter jammern?
Wie schon gesagt, gehört das sinnvolle Jammern zum Leben, wie das Salz in der Suppe. Wenn ich in einem Gesprächskreis jammere, dann habe ich viele Zuhörer. Die meisten jammern dann mit. Wer sagt, ihm gehe es gut und brauche nicht zu jammern, der wird selten Gesprächspartner finden. Oft schlägt dann das Positive, das man anderen erzählt, in Neid um.
 
Wer jedoch alles Schwarz sieht und zu viel jammert, sollte in sich gehen und eventuell seine Ansichten ändern. Eine positive Lebenseinstellung ist immer von Vorteil. Das bringt auch das körpereigene Immunsystem in Ordnung, während das zu viele Gejammere und grosser Ärger der Gesundheit nicht gut bekommen.
 
Denken wir doch an dies: Wir sind in Europa (noch) nicht arm. Wir hungern nicht, haben ein Auskommen und können uns in Freiheit bewegen, wie es uns passt. In armen Ländern ist das ganz anders. Diese Menschen müssten jedoch mehr jammern, aber das Gegenteil ist oft der Fall. Und zum Schluss noch ein Trost für die Jammernden:
 
„Ohne Jammern und Gegenjammern würde unsere Welt deutlich kälter werden. Ohne gegenseitige Versicherungen wie schlecht es gerade geht, wären zarte Freundschaftsbande kaum ausbaubar“, sagte treffend Anja Krumpholz-Reichel. Sie bemerkte auch noch, dass ohne das Gejammer der Spendensammler weniger gespendet würde. Viele Spendentöpfe blieben leer. Und das ist ein positiver Aspekt des Jammerns.
 
Internet
http://nachrichten-t-online.de („Deutschland ist Europameister – im Jammern“)
 
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