Textatelier
BLOG vom: 20.06.2012

Surrealismus: Kunst und Deutsch, Phantasie und Magritte

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Ende letzten Jahres, als ich meinen Vertrag als Gastdozent ans Goethe-Institut nach Bangalore (Indien) bekam, bat man mich, zusammen mit anderen Referenten im Rahmen eines „Lehrertages“ einen Workshop für Dozenten für Deutsch als Fremdsprache aus Süd-Indien zu leiten. Erst einige Zeit später bekam ich die Mitteilung, der „Lehrertag“ würde zusammen mit einer anderen Veranstaltung kombiniert, die an Künstler gerichtet war. Ich sollte also das Thema: „Unterricht in Deutsch als Fremdsprache und Kunst“ nehmen. Der andere Referent und die anderen Referentinnen taten es ebenso. Beispielsweise zerschnitt meine Mitstreiterin Kopien von Gemälden, koppelte diese mit Teilen von Sätzen und liess diese in verschiedenen Gruppen zusammensetzen, wodurch dann ein sinnvoller deutscher Satz entstand. Dabei kam es auf Schnelligkeit an.
 
Eine meiner Ideen war es, ein bekanntes Gemälde eines berühmten Malers zu verwenden. Die Dozenten sollten sich in die Rolle ihrer Studenten versetzen und dazu eine Geschichte schreiben. Nach längerem Suchen entschied ich mich für ein Bild von René Magritte, ein Vertreter der Surrealisten.
 
Er setzt – im Gegensatz z. B. zu Dali – seine Bilder aus Gegenständen der sichtbaren Welt zusammen, also hier: das Meer, der Strand, der Felsen …
 
Surrealismus bedeutet vor allem „nicht reale“ bzw. „physikalisch mit unserer Betrachtung der Welt nicht nachvollziehbare“ Darstellungen. Also: eine phantasievolle Welt.
 
So werden Magrittes Bilder interpretiert: Er suchte zu malen, was sich sowohl dem universalen Anspruch der Sprache wie der anschaulichen Erfahrung entzieht, Unbeschreibliches und auch Unbegreifliches, dies ganz wörtlich genommen. Dazu genügen einfachste Gegenstände. Zum Beispiel seine Pfeife: Ohne den Text, de titulus, („Ceci n'est pas une  pipe“) würde man naiv sagen, das sei eine Pfeife. Die Beschriftung sagt unmissverständlich: Dies ist keine Pfeife. Der Betrachter und Leser wird mit der Nase darauf gestossen, dass es sich um ein Bild handelt, das selbst keinerlei Ähnlichkeit oder gar Identität mit einer Pfeife hat, sondern eine Pfeife nur meint.
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Wenn seine Bilder sich dem „universalen Anspruch der Sprache…entziehen“, (was heisst das überhaupt?), so mein Gedanke, sollte man genau das tun, was der Maler beim Malen auch getan hat, nämlich Phantasie entwickeln.
Ich entschied mich für  „Le Chateau des Pyrénées“ oder „Der schwebende Felsen“. Viele von Ihnen kennen das Bild.
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Man sieht darauf ein Meer mit Wellen. Darüber, vor einem blauen bewölkten Horizont, schwebt ein riesiger Felsen. Oben auf dem Felsen sieht man ein kleines Schloss. Wie das bei den Surrealisten so ist: Natürlich handelt es sich nicht um das Meer oder Wellen oder ein Felsen oder ein Schloss. Ein Ölbild ist eine Leinwand, auf der mittels Ölfarben zweidimensional etwas dargestellt wird, mehr nicht. Es zeigt keine Realität, es zeigt etwas, was sich der Maler ausgedacht hat. Wenn ein Maler Engel malt, so sind das Gestalten, die es natürlich real nicht gibt, der Maler hat sie phantasiert und dann auf die Leinwand gebracht. Natürlich gehört auch zum Ablauf, das Bild und den Maler in seine Epoche einzuordnen, der Surrealismus, die Lebensdaten des Malers: René Magritte, geboren 1898 in Lessines/Belgien, gestorben 1967 in Brüssel/Belgien, gemalt 1959.
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Zurück zu „Le Chateau…“: Es ist nicht ersichtlich, warum der Felsen in der Luft hängt, ob er fällt oder steigt. Ebenso wenig ist klar, warum das Schloss im Verhältnis zum Felsen viel zu klein dargestellt ist. Darum soll es auch nicht gehen, es soll kein Interpretationsaufsatz werden, sondern die deutsche Sprache soll für pure Phantasie eingesetzt werden. Und wie setzen wir die Sprache um? Die sprachliche Darstellung braucht eine Form. Ein Blog, ein Essay, eine Geschichte aus dem Reich der Phantasie, ein Märchen, eine Science-Fiction-Story, ein Traum.
 
Das muss dann „mit Sprache gefüllt werden“, Wortschatz ist gefragt, um die Ideen in Sätze zu fassen.
 
Beispiel: Wörtersammlung:
 
Die Idee: Der Felsen als Ballon. Die Form eines Felsens, das Meer, der Strand, die Wellen, die Unwirklichkeit, das kleine Schloss auf dem Felsen, die Einsamkeit, einsam sein, das Fehlen von Menschen oder Tieren, schweben ...
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Die Idee: Ein Traum oder doch Wirklichkeit? Der Traum, der Strand, der Urlaub, der Schreck, fällt der Felsen, schwebt er? Wo kommt er her? Wo fliegt er hin? Das Ende der Welt, ein Meteorit ...
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Die Idee: Das Jahr 2500, eine Prophezeiung wird wahr. Das Schloss auf dem Felsen, schweben, die Bewohner, die Ausserirdischen, sie bevölkern die Erde, der Felsen landet langsam, schwimmt auf dem Wasser, die Menschen begrüssen sie als Retter, die Erde ist überbevölkert und verarmt ...
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Die Idee: Ein Zauberer wohnt im Fels. Der Zauberer, der Zauberspruch, der Felsen hebt sich ab und schwebt. Er fliegt über der Erde, die Leute glauben an einen göttlichen Besucher, ein richtiger Zauberspruch lässt den Felsen sanft landen. Der Zauberer wird zu einem Touristikunternehmer.
Die Teilnehmer machten sich mit sichtlicher Begeisterung an die Arbeit. Sie doch auch? Oder haben sie sich beim Lesen der Ideen noch nicht in andere Dimensionen, fremde Welten, andere Zeiten begeben? Viel Spass dabei!
 
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