Textatelier
BLOG vom: 22.06.2012

Baby Dreams: Die infantile Presse-Kultur für die Älteren

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Ich habe das Lebensalter 60 schon vor einigen Jahren überschritten und muss zugeben, dass einiges, was scheinbar Jugendliche sehr interessiert, an mir spurlos vorbei geht.
 
Ich denke jetzt nicht ans Internet, Facebook, nicht an E-Mails usw. Da bin ich mitgewachsen, nenne ein Smartphone mein Eigen, kann E-Mails, SMS und MMS verschicken, kann damit ins Internet gehen und habe meine Lieblingsmusik natürlich auf dem Smartphone gespeichert, so dass man mich manchmal auch mit Kabeln, die aus den Ohren hängen und die in der Hosentasche verschwinden, bewundern kann. Über Kurse wie „Internet für Senioren“ oder auch „Handys richtig benutzen“ kann ich nur lächeln. Für meine Zwecke weiss ich Bescheid darüber. Das ist es nicht.
 
Ich bin Abonnent  unserer Regionalzeitung, mit Namen Rheinische Post“, von einigen Lesern auch spöttelnd „Rheinische Pest" genannt, weil es keine alternative Zeitung gibt, die ausführlich über diesen Landstrich und die Aktivitäten in Stadt und Land, bzw. über Geburten, Trauerfälle, Einbrüche und Überfälle berichtet, und deshalb als notwendiges Übel, weil CDU-nah und nicht immer neutral schreibend, angesehen wird.
 
Neben dem Regionalteil gibt es auch einen allgemeinen Teil, der im gesamten Verkaufsgebiet erscheint, wobei der Zeitungsname auch regional variiert. In diesem allgemeinen Teil gibt es eine Seite Blickpunkt Kultur“.
 
Die Ausgabe vom 21.06.2012 beginnt mit der Überschrift „Der perfekt inszenierte Popstar“ und handelt von Justin Bieber (18), seit mindestens 4 Jahren ein Gesangsstar, von seiner Mutter über YouTube bekannt gemacht. „Mädchen zwischen 10 und 18, die sich einmal in einen Star verlieben, sind die anhänglichste, verlässlichste und damit beste Zielgruppe der Welt“, schreibt die Rheinische Post und auch, dass Jungen (Knaben) in seiner Anhängerschaft so gut wie nicht vorkämen. Über die Superlative, die hier angeführt werden, könnte man sich trefflich streiten, aber was soll's, Superlative sind in solchen Artikeln gang und gäbe, wie Sie weiter unten auch noch lesen können.
 
Beruhigend: Ich gehöre überhaupt nicht zur Zielgruppe dieses jungen Mannes. Somit ist die halbe Seite der Zeitung nicht für mich und meine Altersgruppe geschrieben und geht mich nichts an. Nicht, dass ich den Namen des Stars nicht ab und zu schon einmal gehört hätte, aber man kann sich eben nicht für alles interessieren.
 
Wenn da nicht Erinnerungen auftreten: die Beatles, die Rolling Stones, die Kinks und wie sie damals alle hiessen: Für unsere Eltern und Grosseltern waren der inszenierte Rummel um diese Gruppen und ihre Musik ebenso fremd wie uns heute, als eben dieser Generation angehörig, Justin Bieber.
 
Dann werden neue Alben vorgestellt: Nie gehörte Gesangsgruppen und Sängerinnen: Sophie B. Hawkins, Fiona Apple und die Gruppe „The Soundtrack Of Our Lives“, die sich laut Kommentar 17 Jahre nach ihrer Gründung auflöst, aber noch eine CD herausgebracht hat. Unter den CD-Vorschlägen steht noch Klingt nach …“, und die zuletzt genannte Gruppe soll sogar nach „The Beatles“ klingen! Was es nicht alles gibt!
 
Der Artikel rechts daneben steht unter dem Motto Musikgeschichte“,  berichtet über das leise Comeback von Neneh Cherry und beginnt mit dem schönen Satz: „Sie war eine junge Frau aus Schweden, die klang, als käme sie aus der Bronx .."  Wieso  „war"? Ist sie heute nicht mehr aus Schweden stammend? An einen Hit von ihr erinnere ich mich sogar, im erwähnten Artikel als „Anti-Aids-Song“ bezeichnet: „I've got you under my skin". Sie habe mit fast 50 wieder ein neues Album aufgenommen und das enthalte „leise, entrückte Coversionen", etwa von den Suicides „Dream Baby Dream“. . Na dann: Entrückt mal schön!
 
Von den im Artikel darunter in der Rubrik Klicktipps“ vorgestellten „Links zu kostenlosen MP3-Downloads, Konzerten, Videos und Indie-Rockbands“ vorgestellten kenne ich keinen einzigen der Stars.
 
Die Randspalte beginnt mit einer Top-Liste Die 20 besten Jamaica-Songs“ – und siehe da: Die beiden ersten Namen sagen mir doch etwas: Bob Marley und Peter Tosh.
 
Es geht weiter mit der Rubrik Entdeckungen“ mit der Vorstellung von „The Other“, der „unheimlichsten Band der Welt“, die aus Köln kommt und eine Mischung aus Punk, Metal und Wave spielt. Der kurze Artikel endet mit: „Bald verstecken sie sich auch unter deinem Bett.“ – Unter meinem bestimmt nicht!
 
Es folgt Robert Randolph, einer der „100 grössten Gitarristen aller Zeiten“ (Musikmagazin „Rolling Stone“), dessen CD mit „Funk-, Soul- und Gospel-Tracks einen schlicht vom Hocker hauen.“ Gut, dass ich lieber auf der Couch sitze, ein Hocker gibt es gar nicht in meinem Wohnzimmer!
 
So geht das weiter, die nächste Entdeckung ist „Musik, um sich mit besten Freunden zu betrinken und eine Nacht unbezwingbar zu fühlen.“ Na, wenn das keine Empfehlung ist, die CD zu kaufen!! Der letzte Artikel handelt vom „grössten Hoffnungsträger des amerikanischen Raps.“
 
Da frage ich mich doch in meinem „Gruftie-Leichtsinn“: Wofür braucht amerikanischer Raps einen Hoffnungsträger?
 
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