Textatelier
BLOG vom: 15.09.2012

„Ich weiss, dass ich nichts weiss“: dass ich „nicht weiss“

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Die bekannte Aussage des Sokrates, „Ich weiss, dass ich nichts weiss“, ist ein Übersetzungsfehler. Die richtige Übersetzung lautet: „Ich weiss, dass ich nicht weiss.“ Sokrates wollte damit sein Wissen, das er durchaus hatte, in Frage stellen. Ich meine, das sei eine gute Sache. Alle Informationen, die wir bekommen, sind, wenn sie überhaupt auf Tatsachen beruhen, nur Teilinformationen. Das macht mich zum Skeptiker. Eine andere Bezeichnung für Skeptiker ist auch Zweifler. Ein Zweifler ist unter anderem wegen unzureichenden Informationen nicht sicher, wie er sich entscheiden soll.
 
Skepsis bedeutet Bedenken durch ein kritisches Zweifeln. Ein Leben als totaler Skeptiker ist unmöglich. Ein solcher Mensch wäre nicht lebensfähig; ohne ein gewisses Grundvertrauen geht es nicht. Die Grundlage dazu ist das Urvertrauen, das besonders in den ersten Lebensjahren gelegt wird. Hätte ich kein Grundvertrauen, könnte ich beispielsweise nichts essen, denn ich kann nicht wissen, ob ich die Nahrung ohne negative Auswirkungen geniessen kann – und so weiter.
 
Auf einer Ebene, die nicht direkt etwas mit meinen Grundbedürfnissen zu tun hat, bin ich skeptisch. Ich muss nicht für wahr halten, was mir die Medien vermitteln. Ich muss nicht glauben, was mir die Kirchen als Wahrheit auftischen. Besonders Boulevardblätter reduzieren Fakten gern und ziehen daraus Schlüsse, die sich oft als Trugschluss erweisen.
 
Das Problem bei einer skeptischen Betrachtungsweise ist es, dass es schwierig ist, damit zu einer festen Meinung zu kommen. So viele Informationen aus verschiedenen Quellen, die ausreichend für eine fundierte Meinung wären, sind häufig aus praktischen oder zeitlichen Gründen nicht zu bekommen. Bei der Schuldenkrise z. B. kommt noch hinzu, dass sich die sogenannten Experten noch nicht einmal einig über die Konsequenzen sind, welche die Politiker der europäischen Staaten, des europäischen Parlaments und der europäischen und nationalen Banken als Lösung der Probleme anbieten oder umsetzen. Zudem ist nicht sicher, ob andere Lösungen oder etwa Nichtstun die besseren Alternativen seien. Laut Umfragen spricht die deutsche Bevölkerung den Akteuren jedenfalls überwiegend das Vertrauen in deren Politik nicht aus.
 
So, wie es aussieht, egal welche Politik beschlossen wird, am Ende müssen die Bürger die Konsequenzen tragen, Spargelder, Wertpapiere und Renten sind nicht mehr sicher, der Lebensstandard wird auf jeden Fall beschnitten werden.
 
Das ist nur ein Beispiel, das auf die Aussage „Ich weiss, dass ich nicht weiss.“ passt. Es gibt unzählige andere, die das tägliche Leben betreffen. Ich kann mich pausenlos fragen, ob ich für die Entscheidung, die ich treffe, genügend Informationen habe. Wenn ich die Jeans kaufe, trage ich dann dazu bei, dass irgendwo auf der Welt sich durch die ökologisch und gesundheitlich schädigende Produktionsweise Menschen in Zukunft zu Schaden kommen? Wenn ich Fleisch kaufe, habe ich dann Anteil daran, dass Tiere leiden, ich mich selbst schädige, weil die Tiere mit Antibiotika behandelt worden sind? Wenn ich Spielzeug kaufe, weiss ich dann, ob das Material, aus dem es hergestellt worden ist, gesundheitsschädigend ist oder nicht? Es ist immer nur eingeschränkt möglich, sich genügend Informationen zu beschaffen.
 
Da gibt es die vielen Ratschläge von überall her, die vor Krankheiten schützen wollen. „Wenn Sie genügend Sport treiben, viel Obst und Gemüse und wenig Fleisch essen, wenig oder keinen Alkohol zu sich nehmen, nicht rauchen, möglichst viel ‚im Einklang mit der Natur’ leben, dann…“ ... ja, dann leben Sie länger, bleiben gesund! Wirklich?
 
Wer hat keine Bekannte, die das versucht haben und die dann doch Krebs bekommen haben und daran gestorben sind? Wer hat keine Bekannte, die rauchen, nicht wenig Alkohol konsumieren, täglich Fleisch essen, Obst und Gemüse verabscheuen und immer älter werden?
 
Der indischstämmige amerikanische Onkologe Siddharta Mukherjee vertritt in seinem Buch „Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“ die Ansicht, dass der Anteil derer, die von Krebs betroffen sein werden, in den westlichen Gesellschaften in den nächsten Jahren mehr als ein Viertel, ein Drittel bis zu der Hälfte der Bevölkerung sein könnte. Und dass daran auch eine vermeintliche „gesunde“ Lebensweise nichts ändert.
 
Gespräche mit älteren Mitbewohnern zeigen, dass sie einen immer gleichen, disziplinierten Tagesablauf haben, positiv ins Leben sehen, alles mit Mass geniessen. Aber im Endeffekt wissen auch sie nicht, warum sie 90 Jahre und älter geworden sind.
 
Ich weiss, dass ich nicht weiss. Vielleicht ist das sogar besser, als immer mehr Informationen nachzujagen. Das will nicht dem Motto „dumm geboren, dumm gestorben“ das Wort reden, sondern eher dem „gesunden Menschenverstand“, und den kann man sich meiner Überzeugung nach am besten über Bildung und Informationen, mit gesundem Menschenverstand angeeignet, beschaffen, und der enthält auch ein wenig Skepsis.
 
Quelle
Mukherjee, Siddhartha: „Der König aller Krankheiten“, 670 Seiten, Hardcover, aus der englischen Sprache von. Barbara Schaden. Originaltitel: „The Emperor of All Maladies“. A Biography of Cancer, Scribner (New York) 2010, EUR 26,00 [D] / 36,50 SFR.
 
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