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BLOG vom: 10.07.2011

Gedanken sind frei: Wider die Fanatiker und Dogmatiker

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Werde ich als Freidenker und Agnostiker als Dogmatiker bezeichnet? Alles ist möglich.
 
Stark vereinfacht und milde gesagt, gilt der Fanatiker als blinder und hemmungsloser Eiferer, sei es in der Religion, in Politik, Massensport und anderswo.
 
Der Dogmatiker hält stur an Ansichten fest, in die er sich verbissen hat. Er verträgt Widersprüche sehr schlecht. Er negiert sie.
 
Aber wie steht es um Kopernikus (1473–1543) und Galileo (1564–1642), die beide belegen konnten, dass sich die Planeten um die Sonne drehen? Damit hatten sie das ptolemäische Weltsystem aus den Fugen gehoben. In der Wissenschaft bersten Dogmen mangels Beweiskraft. Laut Arthur Schopenhauer (aus dem Gedächtnis zitiert) durchläuft die Wahrheit 3 Stufen: Zuerst wird sie verzerrt, dann vehement angegriffen, bis sie zuletzt als offensichtlich anerkannt wird.
 
Religiöser Fanatismus und seine Abarten
In den Religionen wimmelt es von Fanatikern und Dogmatikern, und ihr Gebaren artet leicht in einen religiösen Wahn aus. Wenn sie beten, bitten sie um Wunder für sich selbst und wundern sich, wenn sie ausbleiben. Wunder, behaupten Strenggläubige, geschehen immer wieder und nachweisbar in Lourdes und anderen Wahlfahrtsorten und wo sonst auch immer: Ein Krebsgeschwür habe sich zurückgebildet, ein Blinder könne wieder sehen. Gewiss kann manchmal ein fester Glaube, von Gebeten unterstützt, eine Heilung fördern oder beschleunigen – solange ärztlicher Beistand mit am Werk ist und die dem Körper innewohnenden Abwehrkräfte gestärkt werden. Aber ein fehlender Arm oder ein Bein wird gewiss nicht nachwachsen. Dazu braucht es Prothesen.
 
Wenn ich mich nicht täusche, stammt der Ausdruck „Stündeler“ aus der schweizerischen Mundart und bezieht sich allgemein auf betagte Frauen, die sich zu einer gemeinsamen Gebetsstunde einfinden. Viele von ihnen gehören einer Sekte an. Die Belohnung folgt nach dem Gebet in Form von Kaffee und Kuchen … Dagegen ist nichts einzuwenden. Sie tun niemand etwas zuleide. Sie unterhalten sich untereinander in ihren Kränzchen.
 
Gefährlich sind die Evangelisten, mit Mikrofon bewaffnet und oft amerikanischer Provenienz im „Bible belt“. Sie suchen und rotten ihre neu gewonnenen Schäfchen an Massenveranstaltungen zusammen. Billy Graham war besonders erfolgreich – er kaperte das Vertrauen von 12 US Präsidenten, von Harry S. Truman bis und mit Barack Obama.
 
Auch der Tele-Evangelismus lockt Schäfchen scharenweise herbei. Viele Evangelisten sind skandalumwittert und benutzen allerlei Mätzchen, um Beiträge für ihren aufwendigen Lebensstil zu sichern. Grossmaulig („gift of the gap“) und schauspielerisch kapern und lausen sie die Dummen. Sie spielen den Fanatismus zum trügerischen Schein hoch und versprechen den Himmel – ein gutes Geschäft für sie.
 
Klageweiber treten in vielen Religionen auf – bei Abdankungen (Trauerfeiern). Ihr lautes Wehklagen ist käuflich. Eine Abart von ihnen tritt auf der politischen Bühne auf, und wie immer wieder feststellbar, heulen, und schreien sie auf Geheiss, von Despoten angeheuert.
 
Quacksalberei
Auch ich war einst zeitweilig von einem Dogma beeinflusst, bis ich eines besseren belehrt wurde. Lange glaubte ich, dass die Homöopathie und ihre Tinkturen suspekt seien.
 
Am vergangenen Samstag, von einem Sturz von einem verwickelten Gartenschlauch ausgelöst, schlug meine rechte Gesichtshälfte schwer auf einer Steinstufe im Patio auf. Ich blutete stark aus verschiedenen Wunden. Ich behandelte sie mit Arnika (arnica montana), Salbe und Tabletten. Jetzt lichten sich die blutunterlaufenen Stellen schneller als erwartet. Die Schwellungen sind abgeklungen, und Krusten haben sich gebildet.
 
Das beschwört eine Kindheitserinnerung herauf, ehe ich mich vom Dogma anderer beeinflussen liess, die meine Vorliebe für Heilpflanzen als Quatsch abtaten.
 
Der Freund meines Vaters, ein Arzt in Davos und Kenner der Alpenflora, führte mich zu einer von vielen Kräutern besiedelten Stelle in der Nähe des Flüelapasses, deutete auf die gelben Arnikablüten hin und erklärte ihre Heilwirkung. „Lege die Blüten in reinen Alkohol“, empfahl er mir. So trug ich ein kleines Fläschchen Arnika in meiner kleinen „Hausapotheke“, zusammen mit Watte, Heftpflaster und Pinzette.
 
Eines späten Nachmittags radelte ich oberhalb des Sportplatzes in Davos Platz und wollte zuschauen, wie Hundetrainer ihre Schäferhunde abrichteten. Ein Hund sprang einen Trainer an und biss ihn durch das Armpolster. „Tütä – Tütä“ schrie ich, und mein Dreirad verwandelte sich zur Ambulanz. Der Trainer war sehr überrascht, wie ich mein Fläschchen Arnika aus dem Schächtelchen zog und seine oberflächlichen Bisswunden behandelte und ein Pflaster auflegte. Grosszügig drückte er mir zum Dank einen „Fünfliber“ (5-Franken-Stück) in die Hand.
 
Mehr und mehr Ärzte anerkennen heute die Heilkräfte homöopathischer Produkte und haben sich damit von ihrem Dogma befreit.
 
Die Wunderwerke der Kunst
In der Kunst kann ich unzählige Wunderwerke bewundern. Sie sind für mich waschechte Wunder, die dem Genie entstammen und nicht von Gott, seinen Aposteln oder Engeln. Niemand kann mir etwas anderes einreden oder vormachen. Solche Wunder wirken auf den Betrachter oder Zuhörer ein und sind ein unversiegbarer Quell zur Lebensfreude, solange man offenen Sinnes ist.
 
Die Philosophen
Manche Philosophen meinen, ihre Philosophie sei die allein seligmachende und beziehen ihre Gefechtsstellungen gegeneinander auf dogmatischem Gemäuer. Sie nutzen alle Finten und Spitzfindigkeiten in ihren Disputen. Auch Arthur Schopenhauer nahm an solchen Tiraden teil. Aber die Zeit scheidet die philosophischen Schaumschläger von den wahren Giganten der Philosophie. Die Beurteilung liegt am verständigen Leser, der sich wiederum offenen Sinnes zu jener Philosophie findet, die mit seiner freien Geisteshaltung übereinstimmt.
 
So sind wir wieder beim Auftakt dieses Essays angelangt, wo der Freigeist vorherrscht. Er lässt sich weder von Fanatikern knebeln noch von Dogmatikern fesseln. Mit diesen lässt sich nicht reden. Am besten geht man ihnen aus dem Weg.
 
Hinweis auf weitere Feuilletons von Emil Baschnonga
25.06.2011: Schaufenster – Ausblicke, Einblicke: Eine Betrachtung
13.06.2011: Vom traurigen Hühnerleben und meinem Frühstücks-Ei
31.05.2011: Der eingeklemmte Gedankenstrich – und seine Befreiung
12.05.2011: Tierschicksale: „Schlangen und Echsen vereinigt euch!“
16.04.2011: Mein Froschkönig im Garten hatte etwas Kosmetik nötig
07.04.2011: Sind die Erinnerungen im Alter Vermögen oder Ballast?
26.03.2011: Schreiben: Gedanken, wie aus dem Ärmel geschüttelt?
18.03.2011: London: Toilettengespräche, die Erleichterung bringen
04.03.2011: Alles ist so kompliziert: Vom Pfahlbauer zum Web-Bauer
25.02.2011: Die späte Scheidung und die Orchideen von Rosemary
16.10.2010: Eine Betrachtung über die Lebensbahn und die Zufälle
08.10.2010: Streng vertraulich: Was ist der Berufsnachlass wert?
18.09.2010: Die geköpfte Helena auf dem Londoner Ramschmarkt
28.08.2010: Das Lächeln blieb erhalten. Mutterliebe ist grenzenlos
30.07.2010: Der entlassene Stelleninhaber – lehrreiche Fallstudie
16.07.2010: Tobias und Heidi: Liebe und vergebliche Liebesmüh’
29.03.2010: Philosophie-Plauderecke: Durch den Strohhalm denken
27.03.2010: Abschied von meiner Geigenmusik, nicht von der Geige
14.03.2010: Betrachtung: Das lohnt sich nicht … spielt keine Rolle
07.03.2010: Die Kunst, zu altern. Und die Kunst, nicht zu altern
06.03.2010: Traumdeutung: Die weiche Landung in den neuen Tag
04.03.2010: Eingefleischte Gewohnheiten: das Pro und das Kontra
28.11.2009: Einige philosophische Vignetten zu den Jubelgefühlen
23.11.2009: Haben die Engländer ihren Sinn für Humor verloren?
18.11.2009: Schicksal: Auf Um- und Abwegen dem Glück entgegen
02.11.2009: Tränen der Rührung sind rein und waschen die Seele
23.10.2009: Herrenhandschuh sucht Damenhandschuh, gut gefüttert
22.09.2009: Trick mit dem Verschwinden: Aus dem Leben der Brille
10.09.2009: Im letzten Moment misslungen: meist selbst verschuldet
03.05.2009: Verkabelt und vernetzt: Das verflixte „digitale Zeitalter“
11.04.2009: Sérénade de sérénité – Die Serenade der Gelassenheit
05.04.2009: „Auf der Römerstrasse“ – oder: Der ewige Frühling …
31.03.2009: Spriessende Knospen: Ansatz- und Anknüpfungspunkte
10.03.2009: Londoner Familientragödie: Jake, der verstossene Sohn
05.03.2009: Das Falzbein, über das nichts zu sagen ist, und die Fee
14.02.2009: Das Blumenmädchen – die allerbeste Valentine-Blume
11.02.2009: Langsamkeitsvorbild: Erinnerung an meine Schildkröte
11.02.2009: Fiktion und Autobiographie: Das Ich in der Mehrzahl
06.02.2009: Zum Lob der Flausen: Wegweiser zu Lebensinhalten
17.01.2009: Kurzgeschichten wiederbeleben: Alex Käser und Jürg
01.01.2009: Fast eine Neujahrsgeschichte: Zu Fünft im Lift gefangen
21.11.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (1. Teil): „Kain und Abel“
22.11.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (2. Tei): „Kain und Abel“
06.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (3. Teil): „Nachtschatten”
10.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (4. Teil): „Gewissensfrage“
12.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb (5. Teil): „Eine Groteske“
26.12.2008: Kurzgeschichten-Wettbewerb: Preisträger wird bestimmt
07.11.2008: Altersbedingt – altersgemäss? Bedingt oder unbedingt
31.10.2008: Der Spazierstock – eine Geschichte für Gross und Klein
26.10.2008: Therapien mit Antiquitäten – diesmal ein Turkish Delight
23.10.2008: Ode an die Melancholie: Nahrung für die Wünschelrute
21.10.2008: Zu Freitod Tod und Sex: Schwarze Blätter aus England
21.09.2008: In der Fliegenfalle. Ein merkwürdiger Ausflug in den Jura
11.09.2008: Vom Leseroller zum eBook – und die Lesegewohnheit
21.08.2008: Olympiade der Käfer. Sie sind die wirkliche Nummer 1
17.08.2008: Anatole France: Le livre de mon ami – Lob der Kindheit
08.08.2008: Glück und Reichtum: Der Farthing und der Zaunkönig
27.07.2008: Traumtag in Hastings: Ein Stückchen Ewigkeit erhascht
19.07.2008: Wenn alte Esel Schmetterlingen Pflanzen vorenthalten
08.06.2008: Alle Wespen sind schon da – und die Mücken auch …
12.04.2008: Kleine orientalische Geschichten: Die Rettung der Krüge
28.03.2008: Wartezeit, Zeitverluste: Hochkonjunktur der Nervensägen
24.02.2008: Gedanken- und Schattenspiele – bis tief ins Herz hinein
17.02.2008: Trost von Bach, Heine: „Mein Kind, wir waren Kinder …“
13.02.2008: Valentinstag: Geheimnisvolles Paket, Edna gewidmet
04.02.2008: „Le rêve de ma vie …” – Der Traum meines Lebens …
29.01.2008: An der Überschrift liegt wirklich alles: „Im Rückspiegel“
23.01.2008: Aphorismen zur Sache, der man auf die Schliche kommt
13.01.2008: Stichwort „Satz“: Aphoristisch angehauchte Einzeiler
12.01.2008: Hochinnovativ: Vom Trugschein bis zum SalPeter-Betrug
01.01.2008: Auftakt 08: Reminiszenzen u. Sentenzen im Bummelzug
13.02.2008: Valentinstag: Geheimnisvolles Paket, Edna gewidmet
24.12.2008: So oder so? Weihnachten mit oder ohne Magenbrennen
20.12.2007: Mutterseelenallein: Zeit der Weihnachtsvorbereitungen
15.12.2007: Glanzkohle: Die Geschichte vom beseelten Wunderstein
05.12.2007: Spurlos verschwunden – wie vom Erdboden verschluckt
10.11.2007: Treppen und Blutwurst für eine psychiatrische Sitzung
26.10.2007: Londoner Stimmung: Der Winter wartet vor dem Fenster
21.10.2007: Ein E-Mail-freier Sonntag ... und dabei E-Meilen sparen!
29.08.2007: C.G. Jung: Die Intro- und Extraversion mit den Schatten
19.08.2007: Das Selbst als Lebensgrundlage, aphoristisch erfasst
15.08.2007: Netz der Verstrickungen: Der ungeliebte Unglücksrabe
02.08.2007: Die Tücken des Objekts – oder: Mensch, ärgere dich!
30.07.2007: Freude: Da flattert um die Quelle, die wechselnde Libelle
29.07.2007: Geist und Leben: Balsamtropfen fürs Filigrane in Gold
25.07.2007: Der Abschiedsbrief eines Vaters an seine beiden Söhne
14.07.2007: Reissaus genommen – Der wunde Punkt im Leben
21.06.2007: Allzu spät auf sie zugegangen: „Not here to be loved”
04.12.2006: Lady of Fashion: Skizzen einer Frau mit Liebe zur Mode
12.10.2006: Füllfeder und Tinte Ade gesagt: Schreibzeug, Schriftzüge
24.09.2006: Hin und Her: Gespräche zwischen dem „Ich und Du”
23.09.2006: Lose Blätter: Adalbert Stifter zum Nachsommer geeignet
16.09.2006: Ein Befreiungsschlag: Der Hamster im Gartenschuppen
09.09.2006: Wie die missbrauchte Zunge zum ,Lällekönig' wurde
31.08.2006: Wirrwarr aus ineinander verschlungenen Büroklammern
26.08.2006: Löffelkunde: Ganz Ohr für die Sprache der Ohrmuscheln
28.07.2006: Die Botschaft des Brillenetuis: Mein Verhältnis zu Marken
06.07.2006: Auf Abwegen: Lumpazi Vagabundus und die Wehmut
24.06.2006: Denken und Schreiben: Zutaten für Buchstabensuppen
13.05.2006: Abnabeln und Verknoten: Rund um den Bauchnabel
16.03.2006: Unvollendetes: Das „Non-Finito" und das „Incompiuta"
29.01.2006: Wie die grosse Liebe vom Rad fiel – oder in die Hand …
23.12.2005: Eine Weihnachtsgeschichte: Das Bistro „Zum Déjeuner"
06.10.2005: Le Passe-muraille: Luftschlösser sind gratis zu haben