Textatelier
BLOG vom: 03.06.2012

Limerenz: Das Verliebtsein, das Leiden und die Liebe

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Haben Sie schon einmal etwas von Limerenz gehört? Möglicherweise noch nicht, denn das Wort gibt es erst seit 1979 und wurde von der amerikanischen Professorin für Verhaltenspsychologie, Dorothy Tennov, eingeführt. Aber höchstwahrscheinlich haben Sie ihn (der Begriff wurde in Deutsch mit maskulinem Geschlecht versehen) schon einmal am eigenen Leibe erlebt: Es ist die erste Phase im Zustand des Verliebtseins. Er geht über das berühmte Kribbeln im Bauch hinaus und umfasst das gesamte Denken der davon befallenen Person. Es kommt zu einer Einengung des Bewusstseins, einschliesslich der Ausblendung negativer Seiten der angebeteten Person, des Unfähigseins, an etwas anderes als sie zu denken bis hin zur Schüchternheit, sie anzusprechen und der Angst, ob das Gefühl erwidert wird oder nicht. Manche sprechen auch von verknallt sein, obschon der Unterschied zu verliebt sein fliessend ist.
 
Der Zustand kann zu einer übersteigerten Liebe zur Angebeteten führen; er kann, manchmal erst nach Monaten, manchmal erst nach Jahrzehnten, abklingen; er kann bei Nichterfüllung zu Suizidgedanken führen und erinnert an Wahnsinn.
 
Also: eine Krankheit, von welcher der Körper ‒ oder besser gesagt, die körpereigene Chemie im wahrsten Sinne des Worts ‒ verrückt spielt. Was ist nicht alles im Spiel: Dopamin, Serotonin, Neurothrophin, Oxytocin, Testosteron, ein netter Mix an Botenstoffen und Hormonen, so vermuten jedenfalls die Wissenschaftler.
 
Das berühmteste Beispiel dafür aus der Literatur ist der Briefroman Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe, ein Stück einer unerfüllten platonischen Liebe, die am Ende zur Selbsttötung führt. Goethe hat wahrscheinlich wahre Begebenheiten aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis verarbeitet. Nach neueren Studien sollen sich nach der Lektüre etwa ein Dutzend junge Leute das Leben genommen haben.
 
Sie meinen, das wäre heute nicht mehr möglich? Ich habe vor einiger Zeit den Roman, nach dem ich ihn vor Jahren zuerst gelesen hatte, als Hörbuch im Auto auf einer langen Fahrt auf der Autobahn gehört. Ich fand die Erzählung so eindrucksvoll, dass ich die Reaktion des Suizids durchaus verstehe, besonders, wenn ich mir vorstelle, dass diese jungen Leute sich im Zustand des Limerenz befunden haben, des unerfüllbaren hoffnungslosen Verliebtseins. Damals traf es den Nerv der Sturm und Drang-Zeit.
 
Übrigens: Bei der indonesischen Volksgruppe der Makassaren, so berichtete der Deutschlandfunk in der Sendung „Studiozeit“ am 02.06.2005, wird das Phänomen als Krankheit diagnostiziert, die man durch einen Heiler und mit einer entsprechenden Therapie behandeln muss. Ich finde das nicht für abwegig, schliesslich handelt es sich um psychosomatische Reaktionen des Körpers, veränderte hormonell gesteuerte Vitalfunktionen im Körper, und das führt zu einem Leidensdruck als subjektives Erleben eines Leids.
 
Denn: Nur wer die Sehnsucht kennt, weiss, was ich leide! ein Zitat aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, ebenfalls von Goethe, das inzwischen ein geflügeltes Wort geworden ist.
 
Sehnsucht mdh. sensuht, als Krankheit des schmerzlichen Verlangens, nichts anderes ist auch Limerenz, und dass Sehnsucht zu Todessehnsucht führen kann, ist allgemein bekannt. Suizid wird als psychische Störung angesehen.
*
Im allgemeinen Verständnis wird das Gefühl des Verliebtseins meistens als etwas Schönes und Erstrebenswertes angesehen. Ist das Gefühl beidseitig, führt das Verliebtsein häufig zur Eheschliessung und das Abklingen des Gefühls danach öfters zur Erkenntnis, beim Partner oder bei der Partnerin Eigenschaften nicht gesehen zu haben, weil der Zustand negative Aspekte eben ausgeblendet hat. Nicht selten scheitern solche Ehen.
 
Dennoch: Die Beliebtheit von Verfilmungen von Büchern der Autorin Rosamunde Pilcher und anderer Autorinnen dieses Genres bedeutet doch auch, dass die Illusion, die das Verliebtsein im Grunde ist, bei vielen Menschen Wunschdenken ist und schöne Gefühle hervorruft.
 
Es heisst, man sei davor nicht gefeit, sich zu verlieben, auch im Alter nicht, obwohl es dann möglicherweise nicht so heftig wird. Coco Chanel wird der Satz zugesprochen: Alter schützt vor Liebe nicht, aber Liebe vor dem Altern. Aber das führt zu einem sprachlichen Durcheinander aus den Begriffen Verliebtsein und Liebe.
 
Dass der Begriff Verliebtsein nicht so ohne Weiteres in andere Sprachen zu übersetzen ist, zeigt dieser Ausschnitt eines Interviews mit dem Schriftsteller Wilfried N’Sondé dazu:
 
Denn es wurde uns ganz schnell klar, auf Französisch, meiner Muttersprache, gab es keinerlei passende Übersetzung. Um den Begriff „Verliebtsein“ zu begreifen, musste ich umdenken lernen, über meinen Schatten springen. Die deutsche Sprache zwang mich also, in mich zu gehen und eine neue Sprache der Liebe zu erkunden.
 
Bei uns gibt es ja das Weltbekannte „Je t'aime“ oder „tomber amoureux“, was ähnlich ist wie „falling in love.“ In all diesen Beispielen sind wir aber schon am Lieben. Die deutsche Sprache besitzt diese Delikatesse des Verliebtseins, mit dem Kribbeln im Bauch, mit der schönen Unruhe, wenn man an den Anderen denkt, den schwachen Knien, wenn er oder sie plötzlich erscheint. Es passiert also schon eine Menge im Herz und im ganzen Körper ... Dennoch ist es keine Liebe! Der oder die Verliebte darf eine gewisse Leichtigkeit behalten, kein Engagement, kein Zwang.
 
Der Satzausschnitt „darf eine gewissen Leichtigkeit behalten“ zeigt auf, dass Limerenz über das Verlieben hinausgeht, denn hier entsteht ein innerer Zwang.
In Ländern mit arrangierten Ehen wird die Haltbarkeit eines Arrangements grösser eingeschätzt als solche, die über das Stadium der Verliebtheit zustande kommen. Arrangiert heisst nicht Zwangsheirat. In Indien z. B. sind arrangierte Ehen durchaus noch üblich, auch wenn die westliche Form des Partnerfindens immer häufiger wird. Die Partner werden einander bei einem familiären Treffen vorgestellt. Finden sie sich sympathisch, führt dies zur Verlobung, falls nicht, suchen die Eltern weiter, immer häufiger aber auch die jungen Leute selbst. Ob es in Indien auch Limerenz gibt, habe ich nicht erfahren können.
 
Internetbezüge
de.wikipedia.org/wiki/Verliebtheit
de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe
de.wikipedia.org/wiki/Die_Leiden_des_jungen_Werthers
 
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