Die Lebensmitteldeklaration ist sicher ein enormer Fortschritt. Ich bin froh erfahren zu dürfen, was die Designer alles zusammengebraut haben und wofür sich das Geld lohnt und wofür nicht. Aber wie ist es bei Wein und bei anderen Alkoholika? Ist die Weinetikette eigentlich zur Verschwiegenheit verpflichtet?
L.L., CH-5737 Menziken AG
Antwort: Wer auf der Homepage der schweizerischen Bundesverwaltung www.admin.ch nach dem Begriff Weindeklaration sucht, erhält die Nachricht, es seien keine entsprechenden Dokumente erhältlich. Das ist vollkommen verständlich. Denn da wird praktisch nicht deklariert, nach wie vor. Es wird kein reiner Wein eingeschenkt.
Auf den 1. Mai 2002 ist in der Schweiz ein neues Lebensmittelrecht in Kraft getreten, welches laut Bundesbehörden "im Zeichen eines verbesserten Schutzes der menschlichen Gesundheit und einer erhöhten Transparenz für Konsumentinnen und Konsumenten" steht und das angeblich mehr Täuschungsschutz gewährleistet sowie den Marktzugang importierter und inländischer Lebensmittel erleichtert. Die neuen Vorschriften "stärken insofern auch die Wettbewerbsfähigkeit des schweizerischen Lebensmittelhandels und tragen der Entwicklung von Lebensmittelwissenschaft und -technologie Rechnung", heisst es aus Bern.
Im Wesentlichen ging es um eine Angleichung ans europäische Lebensmittelrecht, was für die Schweiz auch eine Verschlechterung bedeuten kann. Im Zuge der Totalrevision der Zusatzstoffverordnung hat der Bundesrat 56 Zusatzstoffe neu zugelassen und 37 Zusatzstoffen die Zulassung entzogen. So wurde völlig unnötigerweise der zitronengelbe, synthetisch produzierte Azofarbstoff Tartrazin (E 102), wenn auch mit gewissen Einschränkungen zwar, wieder zugelassen, als ob mit der EU kein Handel möglich sein könne, wenn man diesen für viele Menschen (vor allem für solche, die auf Aspirin allergisch sind) gefährlichen Farbstoff nicht in die Fabriknahrung einpacken würde und als ob es nicht hinreichend harmlose Substanzen für Gelbfärbungen gäbe.
Laut Lebensmittelverordnung (Artikel 20a) gibt es eine "Verpflichtung zur mengenmässigen Angabe von Zutaten, die in der Sachbezeichnung eines Lebensmittels erwähnt werden (z.B. 'Joghurt mit Erdbeeren', 'Erdbeer-Joghurt', 'Pizza mit Schinken') oder die auf der Verpackung oder Etikette durch Worte, Bilder oder grafische Darstellungen hervorgehoben werden (z.B. 'mit Butter zubereitet', 'mit Nüssen'). Die Menge der Zutaten ist in Massprozenten anzugeben."
Sucht man Ähnliches zum Thema "Verschnitt von Wein", findet man in der 2002 geänderten Lebensmittelverordnung den Artikel 371 mit folgendem Hauptinhalt: "Einführung generell strenger Verschnittbestimmungen. Verboten sind der Verschnitt von Schweizer Wein mit Ursprungs- oder Herkunftsbezeichnung mit ausländischem Wein sowie der Verschnitt von ausländischem Wein mit Ursprungs- oder Herkunftsbezeichnung. Die neuen Bestimmungen umfassen zudem eine abschliessende Liste aller önologisch[1] zugelassenen Verfahren." Und in Artikel 373 endlich kommt man zur "Kennzeichnung" von Wein, worauf sich die Ratgeberfrage bezieht: Dort wird schlicht und ergreifend verlangt, auf der Etikette von Weinen müsse deren Produktionsland angegeben werden, sofern es nicht aus der Sachbezeichnung oder dem Namen oder der Firma und der Adresse der Produzenten hervorgeht. Nach mehr wird nicht gefragt.
Für den Verschnitt von Schweizer Wein (Art. 371, Abs. 3) ist je nach Kategorie[2] ein beliebiger Verschnitt möglich (Kategorie 3 ), oder es ist ein auf 10 (Kategorie 1) beziehungsweise 15 % (Kategorie 2, Tafelwein) limitierter Verschnitt gestattet. Aber die Deklaration der in der Flasche gemixten Weine ist ebenso nicht gefordert wie bei Obst- und Fruchtweinen, die noch durch Beeren- oder Fruchtsaft sowie von Zuckerarten ergänzt werden können (Artikel 390). Genauso verschleiert bleibt der Honigwein (Met), ein Getränk, das durch alkoholische Gärung eines Wasser-Honig-Gemischs gewonnen wird (Art. 393a) und das mit Gewürzen und Kräuter gewürzt werden darf. Man muss dann auch in diesem Fall halt selber herausfinden, was drinnen sein könnte. Raten Sie mal!
Ferner gibt es eine "Verordnung des EDI[3] über die zulässigen önologischen Verfahren und Behandlungen" von Wein, die 21 Positionen umfasst, zum Beispiel: Belüftung oder Einleitung von Argon, Stickstoff oder Sauerstoff; thermische Behandlung; Verwendung von Polyvinylpolypyrrolidon[4] bis zu einem Grenzwert von 80 g/hl; Zusatz von Tannin; Behandlung mit Aktivkohle und Verwendung von Gummiarabicum; zur Beseitigung eines geschmacklichen oder eines geruchlichen Mangels des Weins: Verwendung von Kupfersulfat bis zu einem Grenzwert von 1 g/hl, sofern der Kupfergehalt[5] des so behandelten Weins 1 mg/l nicht übersteigt; zur Verringerung des Harnstoffgehalts im Wein: Anwendung von Urease[6] unter Bedingungen, die den Regeln des Internationalen Weinamts entsprechen.
All das und noch viel mehr ist möglich, und kein Konsument erfährt, was mit seinem Wein gemacht worden ist, eine Zumutung. Wenn ich nach einem Weinkonsum Kopfschmerzen oder andere Beschwerden verspüre, ist es mir unmöglich zu recherchieren, worin der Grund dafür liegen könnte.
Im Wein liegt tatsächlich eher Verschwiegenheit denn Wahrheit. Dabei möchte ich nicht sagen, dass jede Behandlung zu einer Qualitätsminderung führt im Gegenteil: Viele Weine werden erst dank des Verschnitts überhaupt geniessbar; aber ich möchte schon erfahren dürfen, was mit meinem teuren Wein geschehen ist. Das Unterdrücken sämtlicher Information über die Produktionsweise des Weins würde als Skandal empfunden, wären wir nicht seit je daran gewöhnt.
Es ist mir unerklärlich, dass sich die guten, ehrlichen, korrekten Produzenten nicht gegen die Vernebelungstaktiken gewehrt haben und wehren; denn sie könnten sich ja von den Trickkünstlern abheben, wenn die Karten offen auf den Tisch gelegt werden müssten und vom Täuschungsschutz nicht nur grossmaulig gesprochen, sondern damit endlich einigermassen Ernst gemacht würde.
Im Bereich der alkoholischen Getränke ist der Konsumentenschutz noch nicht einmal in die Kinderschuhe hineingewachsen. Dort kann gepanscht und gemauschelt werden, dass sich die Fasstuben, so weit es sie nicht gibt, biegen und niemand erfährt ein Sterbenswörtchen davon.
Wenn vom Staat schon kein Einsatz im Interesse der Konsumenten zu erwarten ist, müssten diese zumindest Kleinproduzenten aus der naturnahen Produktion animieren, vermehrt noch die alten ehrlichen Produktionswege zu begehen und das Produkt mit klaren Deklarationen aufzuwerten. Sie sollten sich nicht von den risikobeladenen technischen Möglichkeiten verführen lassen und sich gerade auch noch dem internationalen Standardgeschmack unterwerfen. Dann hätten sie Anspruch auf einen fairen, d.h. entsprechend höheren Preis.
Auf die Etikette von Wein und ähnlichen Produkten wie Obstsäften (z.B. Apfelwein) gehört die Angabe über die verwendeten Sorten und über die Behandlung der Früchte vor der Ernte und während der Verarbeitung und nicht nur ein rudimentärer Hinweis auf "Integrierte Produktion (IP)", die übrigens nicht etwa agrochemikalienfrei ist.
In Bezug auf die Apfelsäfte beispielsweise ist es überhaupt nicht so, dass jeder Apfel nur schon deshalb gesund ist, weil es ein Apfel ist. Viele gängige, moderne Sorten (meist Niederstämme) erfordern bei unseren klimatischen Verhältnissen viel zu viele Hilfsstoffe wie Hormone, Herbizide, Fungizide und Insektizide, bis sie überhaupt eine verwertbare "Qualität"erreichen. Ein wahres Drama sind auch die Kriterien, die zur Definition von "Qualität" herangezogen werden: Transportierbarkeit, Lagerfähigkeit, Knackigkeit usw. Das sind fürwahr nicht unbedingt Eigenschaften, die bei der Weiterverarbeitung zu Getränken eine Rolle spielen.
Die Konsumenten sollten sich nicht scheuen und die Mühe auf sich nehmen, bei den Produzenten zu erfragen bis es diesen zu mühsam wird und sie es als einfachere Massnahme empfinden, das Wissenswerte von sich aus auf die Flaschenetikette aufzudrucken.
Ich selber schätze Weine sehr; ein gutes Essen ohne etwas Trauben- oder Apfelwein ist für mich undenkbar. Aber ich bin nicht mehr bereit, jede Menge Geld für unergründliche Weingeheimnisse auszulegen. So bin ich zum Teil auf Apfelsaft (auch Birnensaft) umgestiegen, ebenfalls aus Gründen der Ökologie (Erhaltung der Hochstammbäume).
Hervorragende Angaben zur Thematik Apfelsaft finden sich auf der Internetseite www.moscht.org [7], welche die Handschrift des engagierten Ökologen Heiner Keller aus Oberzeihen AG trägt[8]. Dort finden sich viele Erkenntnisse über alte Obstsorten, die Bedeutung von Hochstammbäumen usw. Es gibt viele Most-Bezugsadressen und auch sogar Resultate eines Qualitätswettbewerbes mit ausführlichen Ranglisten, eine Rarität wie die Äpfel, aus denen die Fricktaler Moste hergestellt sind. Gute Apfel- und Birnensäfte gibt es übrigens nicht nur im Aargau, sondern auch in den Kantonen Thurgau („Mostindien“), St. Gallen, Luzern usw.
Eltern, Schulbehörden und Anbieter inkl. Grossverteiler sollten, wenn es ihnen am Wohlbefinden ihrer Nachkommen und den letzten Hochstamm-Obstbäumen gleichermassen liegt, auch den Süssmostkonsum fördern und all das gefärbte und labortechnisch inszenierte Zuckerwasser, das zu masslos übersetzten Preisen den Kindern mit allen Werbetricks angedreht und sogar unters erwachsene Volk gebracht wird, zurückdämmen. Es braucht nicht nur ausgereifte Früchte, um gute Qualitäten zu erhalten, sondern auch reife Konsumenten.
Walter Hess
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[1]Bei der Önologie handelt es sich um die Lehre vom Wein und vom Weinbau.
[2] Im Schweizer Lebensmittelrecht (Lebensmittelverordnung Artikel 367) werden die Weine in 3 Kategorien eingeteilt: Kategorie 1: Weine mit Ursprungsbezeichnung oder kontrollierter Ur-sprungsbezeichnung; Kategorie 2: Weine mit Herkunftsbezeichnung; Kategorie 3: Weine ohne Ursprungs- oder Herkunftsbezeichnung.
[3] EDI ist die Abkürzung für Eidgenössisches Departement des Innern.
[4] Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP) ist ein Kunststoff, welcher zum Klären und Stabilisieren von Bier und Wein eingesetzt wird. Er bindet so genannte Polyphenole, die Nachtrübungen verursachen können. PVPP wird mit Filtern oder Separatoren weitgehend wieder beseitigt.
[5] Hohe Kupfergehalte sind in Lebensmitteln unerwünscht. Kupfer kann die Fettoxidation beschleunigen und als Katalysator bei der Zersetzung von Vitamin C wirken. Wenn es sich im Alter anreichert, kann es zu Gedächtnisschwäche, Depressionen, Senilität und Schizophrenie führen. In minimen Spuren ist es lebensnotwendig.
[6] Urease (Harnstoff-Amidohydrolase) ist ein Enzym mit Ureolysewirkung, das heisst es spaltet bei Raumtemperatur Harnstoff in wässriger Lösung in Kohlendioxid und Ammoniak.
[7] Moscht ist der Mundartausdruck für Most, womit Apfel- oder Birnensaft gemeint ist, ein Obstwein.
[8] In der "Galerie Doracher", die Elli und Heiner Keller in Oberzeihen AG betreiben, sind jeden Herbst zahlreiche alte Obstsorten ausgestellt (www.doracher.ch )
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